FAQ zu Schmerzgriffen
Was sind Schmerzgriffe?
Schmerzgriffe sind Techniken aus dem Kampfsport, die durch körperliche Einwirkung auf schmerzempfindliche Körperstellen mit Nervendrucktechniken oder einer Hebelwirkung Schmerzen verursachen. Beispiele dafür sind Arm- oder Handgelenkhebel. Das unmittelbare Ziel der Anwendung von Schmerzgriffen ist der Schmerzt selbst. Polizei nutzt solche Schmerzgriffe zur Durchsetzung von polizeilichen Maßnahmen. Die Betroffenen sollen durch den Schmerzreiz dazu gebracht werden, die polizeiliche Anweisung zur Handlung oder Bewegung zu befolgen. Das kann beispielsweise bei der Festnahme einer Person und deren Transport zum Auto oder in die Dienststelle sein.
Darf die Polizei Schmerzgriffe einsetzen?
Bislang ist gerichtlich nicht geklärt, unter welchen Voraussetzungen der Einsatz von Schmerzgriffen durch die Polizei zulässig ist. Klar ist: Die Anwendung von Schmerzgriffen ist ein besonders schwerer Grundrechtseingriff, der nur unter sehr engen Voraussetzungen rechtmäßig sein kann. Jedes polizeiliche Handeln muss verhältnismäßig sein. Gerade wenn die Polizei körperlichen Zwang einsetzt, muss sie immer das schonendste Mittel wählen. Ob der Einsatz von Schmerzgriffen rechtmäßig ist, lässt sich daher nicht pauschal beurteilen, weil es auf die jeweilige Situation ankommt. Wenn Mittel zur Verfügung stehen, die zur Erzwingung einer Handlung für die Betroffenen schonender sind als die Zufügung von Schmerzen, ist der Einsatz von Schmerzgriffen nicht nötig und daher unverhältnismäßig und rechtswidrig. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn Vollzugsbeamte Schmerzgriffe gegen passive Demonstrierende einsetzen, die sie auch ohne die gezielte Zufügung von Schmerzen wegtragen könnten.
Was bedeutet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei polizeilichem Handeln?
Polizeiliches Handeln, das in die Grundrechte der Bürger*innen eingreift, muss stets verhältnismäßig sein. Jeder Eingriff muss einem „legitimen Zweck“ dienen und zur Erreichung dieses Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Wenn die Polizei nur einen dieser Schritte missachtet, ist das polizeiliche Handeln rechtswidrig. Der Einsatz von Schmerzgriffen gegen Demonstrierende ist häufig nicht erforderlich. Erforderlichkeit bedeutet, dass die Polizei unter verschiedenen gleich effektiven Mitteln stets das auswählen muss, das die Betroffenen am wenigsten belastet. Der Einsatz von Schmerzgriffen, um Demonstrierende von der Fahrbahn zu bewegen, ist daher unverhältnismäßig, wenn die Polizei die Demonstrierenden auch einfach wegtragen kann.
Sind Sitzblockaden der „Letzten Generation“ als Versammlung grundrechtlich geschützt, machen die Aktivist*innen sich nicht strafbar?
Friedliche Sitzblockaden der Letzten Generation sind grundsätzlich von der Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 des Grundgesetzes (GG) geschützt. Dies gilt auch, wenn die Sitzblockaden nicht zuvor angemeldet wurden. Der Schutz der Versammlungsfreiheit entfällt erst dann, wenn eine Versammlung in ihrer Gesamtheit unfriedlich wird oder wenn die Polizei sie auflöst. Der Grundrechtsschutz der Sitzblockaden bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Teilnahme an Sitzblockaden auch immer rechtmäßig ist. Die Aktivist*innen können sich durch die Teilnahme an einer Sitzblockade im öffentlichen Straßenraum unter Umständen wegen Nötigung strafbar machen. Das hängt jedoch stets von einer komplexen Beurteilung des Einzelfalls ab. Ob die Teilnahme an einer Sitzblockade strafbar ist, hängt u.a. davon ab, wie lange die Blockade dauert, ob es Umfahrungsmöglichkeiten für die blockierten Autos gab, ob die Blockade angekündigt wurde und ob das politische Anliegen der Blockierende im Zusammenhang mit dem Ort und dem Zweck der Blockade steht. Diese Abwägung muss die Polizei bei der Auflösung einer Sitzblockade treffen. Über die Strafbarkeit der Teilnehmenden entscheiden die Gerichte.
Welche Maßnahmen darf die Polizei ergreifen, um Sitzblockaden aufzulösen?
Wenn die Polizei die Versammlung gegenüber den Teilnehmenden der Sitzblockade für beendet erklärt, liegt darin die Auflösung der Versammlung, ein Verwaltungsakt. Daraufhin müssen sich die Demonstrierenden von der Straße entfernen. Tun sie das nicht, kann die Polizei den Demonstrierenden Platzverweise erteilen. Daraus ergibt sich eine durch die Polizei im konkreten Einzelfall angeordnete Handlungspflicht zum Verlassen der Straße. Diese kann die Polizei mit Zwangsmitteln durchsetzen. Dabei muss die Polizei immer den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren und das für die Betroffenen mildeste Mittel wählen. Bei den Teilnehmenden einer Sitzblockade, die sich friedlich verhalten und nicht aneinander festklammern oder Widerstand leisten, ist das Wegtragen der Demonstrierenden das mildeste und zugleich effektivste Mittel zur Auflösung der Sitzblockade.
Setzt die Polizei immer Schmerzgriffe bei der Auflösung von Sitzblockaden ein?
Nein. Die Polizei geht bei der Auflösung von Sitzblockaden überwiegend maßvoll vor. Im Regelfall löst die Polizei Versammlung auf und anschließend fordert die Polizei die Demonstrierenden auf, sich zu entfernen. Wenn diese sich weigern, tragen die Polizist*innen sie in aller Regel einfach von der Fahrbahn. Die Zahl der Fälle, bei denen Polizist*innen Schmerzgriffe gegen friedliche Demonstrierenden einsetzen, nimmt jedoch zu. Das geschah zuletzt besonders häufig bei Sitzblockaden der Letzten Generation. Aber auch in der Vergangenheit wurde über den Einsatz von Schmerzgriffen bei Klimademos, etwa bei einer Aktion von Ende Gelände in Hamburg öffentlich berichtet.
Warum war der Einsatz der Schmerzgriffe im Fall von Lars Ritter rechtswidrig?
Der Einsatz von Schmerzgriffen war im konkreten Fall unverhältnismäßig. Die Polizeibeamten fügten dem Kläger gezielt extreme Schmerzen zu, statt ihn von der Straße zu tragen. Der Kläger hatte zu dieser Gewaltanwendung keinen Anlass gegeben. Er verhielt sich friedlich und passiv. Hier wäre ein „einfaches“ Wegtragen durch zwei oder mehr Beamt*innen möglich gewesen, ohne dem Demonstrierenden unnötige Schmerzen zuzuführen. Das Hochziehen am Kiefer sowie das Heben und Schleppen des Körpers am bereits verdrehten Arm greifen viel stärker in das Recht auf körperliche Unversehrtheit ein als das einfache Wegtragen durch mehrere Polizist*innen.
Die unverhältnismäßige Anwendung körperlicher Gewalt im Kontext einer Demonstration greift außerdem in die Versammlungsfreiheit ein. Wenn Menschen damit rechnen müssen, bei der Teilnahme an einer Demonstration körperlich misshandelt zu werden, schreckt sie das davon ab, auf die Straße zu gehen.
Darüber hinaus stand die Gewaltanwendung im konkreten Fall derart außer Verhältnis zu der Situation und dem Verhalten des Klägers, dass sie als erniedrigende oder unmenschliche Behandlung gegen das menschenrechtliche Verbot der Folter und der körperlichen Misshandlung verstößt.
Was besagt das Verbot der Folter und der körperlichen Misshandlung?
Nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) darf niemand „der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden“. Gleiches regeln auch Art. 1 und Art. 16 der UN-Antifolterkonvention, deren Vertragsstaat Deutschland ist.
Folter bedeutet verkürzt gesagt den staatlichen Einsatz von großen Schmerzen zu einem bestimmten Zweck wie Bestrafung, Einschüchterung oder zur Erlangung eines Geständnisses.
Bei unmenschlicher Behandlung werden etwas geringere Anforderungen an die Intensität der Schmerzen gestellt und es ist kein unmittelbarer Zweck erforderlich.
Die Europäische Menschenrechtskonvention und die UN-Antifolterkonvention gelten in Deutschland unmittelbar als Bundesrecht, auch die Polizei muss sie beim Einsatz von Zwangsmaßnahmen beachten. Das Folterverbot gilt absolut. Es bestehen keine Ausnahmen, jede Anwendung von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ist rechtswidrig.
Verletzt die Anwendung der Schmerzgriffen das Folterverbot?
Die Anwendung von Schmerzgriffen kann das Folterverbot verletzen. Dabei kommt es aber stets auf den Einzelfall an. Grundsätzlich kann der Einsatz von Schmerzgriffen rechtlich zulässig sein (siehe Frage 2), wenn eine polizeiliche Maßnahme einem wichtigen Rechtsgut dient und anders nicht durchgesetzt werden kann. In diesen Fällen verstößt der Einsatz der Schmerzgriffe nicht gegen das Folterverbot.
Wenn die Polizei aber unverhältnismäßige Gewalt anwendet und den Betroffenen damit erhebliche Schmerzen oder Verletzungen zufügt, kann dieses Verhalten als erniedrigende oder unmenschliche Behandlung das Folterverbot verletzen. Bei der Beurteilung, ob ein Verstoß gegen das Folterverbot vorliegt, kommt es neben dem Grad des körperlichen und psychischen Leids u.a. darauf an, ob die der Betroffenen durch ihr Verhalten die Anwendung von Gewalt provoziert oder notwendig gemacht habe.
Wir rügen in unserer Klage, dass der Einsatz der Schmerzgriffe als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung das Folterverbot verletzt. Der Kläger hat durch sein Verhalten nicht zur Anwendung der Schmerzgriffe beigetragen, die Beamt*innen hatten die Situation unter Kontrolle und haben den Kläger dennoch mutwillig und vor der Medienöffentlichkeit erhebliche Qualen zugefügt – was erniedrigend sein kann.
Stellt sich die Gesellschaft für Freiheitsrechte mit dieser Klage hinter die „Letzte Generation“ und ihre Protestaktionen?
Ausgangspunkt für den Einsatz der GFF sind die Grund- und Menschenrechte. Mit diesem und weiteren Verfahren will die GFF den Schutz friedlicher Versammlungen stärken. Wenn Aktivist*innen der „Letzten Generation“ wie der Kläger für ihren friedlichen Protest mit Schmerzgriffen und anderen rechtlich fragwürdigen Maßnahmen belangt werden, ist die Versammlungsfreiheit in Gefahr.
Wie bei allen strategischen Verfahren der GFF stehen weniger der einzelne Kläger und seine Organisation im Vordergrund als vielmehr die dringend zu klärenden grundsätzlichen Rechtsfrage – hier also die rechtlichen Grenzen des Einsatzes von Schmerzgriffen.
Andererseits vertritt die GFF keine Kläger*innen und Organisationen, deren Ziele oder Handlungen mit den Grundrechten und den Werten der GFF im eklatanten Widerspruch stehen. Das ist hier nicht der Fall: Die Letzte Generation will mit ihrem friedlichen Protest bessere Klimaschutzmaßnahmen erreichen. Damit weist sie auf eine auch aus grundrechtlicher Sicht relevante Gefährdungslage hin, bei der Eile geboten ist.