"Shrinking Spaces" in Deutschland: Warum das geltende Gemeinnützigkeitsrecht unsere lebendige Demokratie gefährdet
Was bedeutet „Gemeinnützigkeit“ für einen Verein?
Für viele Vereine und Organisationen ist es überlebensnotwendig, vom zuständigen Finanzamt als „gemeinnützig“ anerkannt zu werden. Der Status bringt zahlreiche Steuervorteile mit sich, darunter die Befreiung der Körperschaftssteuer und die Möglichkeit, Spendenquittungen auszustellen. Zudem haben oft nur gemeinnützige Organisationen Zugang zu Fördermitteln. Und wer erwiesenermaßen „gemeinnützig“ ist, dem vertrauen Spender*innen und der genießt ein höheres Ansehen in der Öffentlichkeit. Für viele Vereine und Verbände bedroht der Verlust der Gemeinnützigkeit daher die Existenz.
Warum verlieren derzeit so viele Organisationen ihre Gemeinnützigkeit?
Neben überregional bekannten Organisationen wie Attac und Campact haben lokale Finanzämter inzwischen auch kleineren, regional aktiven Vereine wie dem Demokratische Zentrum Ludwigsburg ihre Gemeinnützigkeit entzogen. Hintergrund ist das Attac-Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom Januar 2019. Aus Sicht des BFH sei das globalisierungskritische Netzwerk Attac nach dem Steuerrecht nicht gemeinnützig, da es versuche, mit seinen Kampagnen die politische Meinung zu beeinflussen. Auf diese Entscheidung beriefen sich bis zu einem temporären Erlass des Bundesfinanzministeriums im März 2020 zahlreiche Finanzämter, wenn sie Vereine und Organisationen überprüften.
Das Attac-Urteil: Eine Zwei-Klassen-Gesellschaft für Vereine
Grundlage für die BFH-Entscheidung ist der Katalog von gemeinnützigen Zwecken in der Abgabenordnung. Mit dem Attac-Urteil hat der BFH eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft geschaffen: Vereine, die sich für die Förderung von Sport, Kunst oder Kultur einsetzen, dürfen zur Förderung ihrer Zwecke politisch aktiv werden, also z.B. öffentlich für mehr Kulturförderung werben. Vereine hingegen, die sich für „Förderung des demokratischen Staatswesens“ und „politischen Bildung“ einsetzen, dürfen dabei nicht in der Absicht handeln, „die politische Willensbildung und die öffentliche Meinung zu beeinflussen“. Diese Vorgabe führt in der politisch engagierten Zivilgesellschaft zu großer Rechtsunsicherheit. Für viele Organisationen ist es kaum vorhersehbar, ob ihre Arbeit zukünftig noch als gemeinnützig eingestuft wird.
„Shrinking Spaces“ in Deutschland
Wenn in Ländern wie der Türkei, Ungarn oder Russland die Handlungsspielräume für die kritische Zivilgesellschaft schwinden, wird international von „Shrinking Spaces“ gesprochen. In Deutschland beschränkt nun das Attac Urteil die Möglichkeiten von Vereinen, an der politischen Meinungsbildung mitzuwirken. Es ist ein schwerer Schlag für die Demokratie, wenn Organisationen auf Grund ihrer politischen Haltung die Gemeinnützigkeit entzogen wird oder sie sich nicht mehr politisch äußern, weil sie diese Konsequenz fürchten.
Das Grundgesetz erlaubt es Vereinen, an der politischen Meinungsbildung mitzuwirken
Dabei haben zivilgesellschaftliche Organisationen nach Art. 21 des Grundgesetzes ein Recht darauf, neben den politischen Parteien an der politischen Meinungsbildung mitzuwirken. Für eine lebendige Demokratie ist es essentiell, dass sich vielfältige Akteure kritisch mit bestehenden Verhältnissen auseinandersetzen und Haltung zeigen. Deshalb sind wir überzeugt: Das geltende Gemeinnützigkeitsrecht muss dringend reformiert werden, um politisch aktiven Organisationen Rechtssicherheit zu geben. Demokratie braucht eine starke Zivilgesellschaft.
Allianz "Rechtssicherheit für politische Willensbildung" und institutionelle Förderung
Weitere Informationen zum Attac-Urteil und zu unseren Forderungen an den Gesetzgeber finden Sie auf der Seite der Allianz "Rechtssicherheit für politische Willensbildung", der die GFF angehört.
Unsere Arbeit in diesem Themenfeld wird unterstützt von den Open Society Foundations.