Klartext aus Karlsruhe: Bundesverfassungsgericht weist Geheimdienst in grundrechtliche Schranken
Wir hatten gegen das BayVSG geklagt, weil es dem bayerischen Inlandsgeheimdienst unter sehr geringen Voraussetzungen tiefgreifende Überwachungsmaßnahmen erlaubte, darunter das Recht, Privatwohnungen mithilfe von Kameras oder Wanzen zu überwachen, ganze Computer und Handys auszulesen (Online-Durchsuchungen), V-Leute und verdeckte Ermittler in Vereine einzuschleusen und vieles mehr. Außerdem erlaubte es die Übermittlung von Informationen an viele Stellen, darunter die Polizei, ohne dass dies an erhöhte Voraussetzungen geknüpft war. Aus unserer Sicht ein klarer Verstoß gegen die Grundrechte und das Gebot der Trennung von Geheimdiensten und Polizei.
Unsere Verfassungsbeschwerde nahm das BayVSG auf 70 Seiten detailliert auseinander: Noch nie seien Geheimdienstbefugnisse so umfassend angegriffen worden, kommentierte folgerichtig die Bundesverfassungsrichterin Gabriele Britz zum Auftakt der mündlichen Verhandlung im Dezember 2021. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzende seines Ersten Senats Harbarth betonte gleich zu Beginn des langen Verhandlungstage die grundlegende Bedeutung des Verfahrens: „Es geht um nicht weniger als das Austarieren von wehrhafter Demokratie und individuellem Grundrechtsschutz.“
Und genau das hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil vom 26. April 2022 denn auch getan:
1. Das Bundesverfassungsgericht hat den individuellen Grundrechtsschutz gestärkt, indem es die Möglichkeiten des Verfassungsschutzes stark eingeengt haben.
Gleichzeitig hat das Gericht bestätigt, dass Inlandsgeheimdienste mit weitgehenden Überwachungsmöglichkeiten einen Platz in der wehrhaften Demokratie haben – keine der Befugnisse wurde komplett gestrichen (was die GFF auch nicht angestrebt hatte).
2. Das Trennungsprinzip wurde gestärkt. Überwachungsbefugnisse des Verfassungsschutzes und Handlungsmöglichkeiten der Polizei dürfen nicht so ineinandergreifen, dass sie gemeinsam „Super-Befugnisse“ haben.
3. Auch ein im Geheimen agierender Verfassungsschutz muss unabhängig kontrolliert werden und sich auf verständliche Rechtsgrundlagen stützen.
1. Stärkung der Grundrechte bei einzelnen Überwachungsbefugnissen
Für viele der weitreichenden Überwachungsbefugnisse hat das Bundesverfassungsgericht enge Grenzen eingezogen. Das gilt besonders für die beiden schärfsten Schwerter, die Wohnraumüberwachung und die Onlinedurchsuchung:
Die Wohnraumüberwachung, die direkt in die Unverletzlichkeit der Wohnung eingreift, ist verfassungswidrig, weil sie im BayVSG nicht (wie in Art. 13 Abs. 4 GG vorgeschrieben) auf die Abwehr einer dringenden Gefahr beschränkt ist. Die Rechtsgrundlage Art. 9 Abs. 1 BayVSG nennt zwar die dringende Gefahr als Anlass einer Überwachung, aber nicht als Ziel und Zweck. Außerdem fehlt eine Regelung, wonach der Verfassungsschutz nur dann zur Abwehr einer dringenden Gefahr eine Wohnung überwachen darf, wenn die Polizei das nicht rechtzeitig übernehmen kann. Damit stärkt das Bundesverfassungsgericht gleichzeitig das Trennungsgebot. Für die Abwehr von dringenden Gefahren ist grundsätzlich die Polizei zuständig.
Mit den gleichen Kritikpunkten erklärt das Bundesverfassungsgericht auch die Befugnis zur Online-Durchsuchung (Auslesen von Handy und Computer durch Spähsoftware) für verfassungswidrig. Zusätzlich bemängelt das Gericht, dass die Vorschrift zur Online-Durchsuchung keinen ausreichenden Schutz des privaten Kernbereichs bietet, wenn die Daten ausgewertet werden.
Für eine ganze Reihe von Eingriffsbefugnissen bestätigt das Bundesverfassungsgericht die grundrechtliche Kritik unserer Verfassungsbeschwerde: Obwohl es sich beim Einsatz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern um gewichtige Grundrechtseingriffe handelt, enthalten die Vorschriften keine konkrete Eingriffsschwelle als Voraussetzung. Außerdem fehlt es an einer Eingrenzung der Organisationen bzw. ihrer Merkmale, bei denen V-Leute eingesetzt werden dürfen. Die Richter*innen erklären die Befugnisse daher für verfassungswidrig.
Mit einer gleichlaufenden Argumentation erklärt das Bundesverfassungsgericht auch die Mobilfunkortung und die längerfristige Observation von Personen für verfassungswidrig. Immerhin ermöglicht die Ortung von Mobilfunkgeräten bei längerfristigem Einsatz, von den ausgespähten Menschen ganze Bewegungsmuster zu erstellen.
Dass es sich bei all diesen Maßnahmen um schwerwiegende Eingriffe handelt, die tief in das Privatleben eingreifen, zeigt auch ganz konkret, was unseren Klägern vom VVN-BdA passiert ist: Sie hatten nach dem Tod eines Vereinsmitglieds erfahren, dass dieser wohl ein V-Mann des Verfassungsschutzes gewesen war, der sie ausspioniert hatte. Ein schwerer Schlag für die vertrauensvolle Zusammenarbeit im Verein. Auch durch die Aufnahme in den jährlichen Verfassungsschutzbericht war klar, dass der bayerische Ableger des VVN-BdA im Visier des Verfassungsschutzes stand: Bekannte und Freunde der Kläger mieden den Kontakt zu ihnen, ein großer Eingriff in ihr Privatleben. Und der Verband selbst litt, weil der Zugang zu öffentlichen Geldern versperrt war.
Nach dem Urteil vom 26. April 2022 ist es nun äußerst unwahrscheinlich geworden, dass der VVN-BdA Opfer von solchen Überwachungsmethoden wird.
Alle die für verfassungswidrig befundenen Befugnisse sind nach den Maßgaben des Bundesverfassungsgerichts bis spätestens Ende Juli 2023 weiter anwendbar. Bis dahin muss der bayerische Gesetzgeber neue Rechtsgrundlagen geschaffen haben.
2. Stärkung des Trennungsprinzips: Was darf der Verfassungsschutz an die Polizei weitergeben?
Bei der Untersuchung der Übermittlungsbefugnisse des Verfassungsschutzes an andere Behörden spricht das Bundesverfassungsgericht Klartext und festigt die Trennung zwischen Polizei und Geheimdienst:
Weil der Verfassungsschutz keine Zwangsmaßnahmen ergreifen kann, genügt für sein Tätigwerden eine konkretisierte Gefahr. Es reicht, wenn die Überwachungsmaßnahme zur Aufklärung einer bestimmten beobachtungsbedürftigen verfassungsfeindlichen Bestrebung im Einzelfall geboten ist und hierfür konkrete Anhaltspunkte vorliegen. Allerdings muss die „Beobachtungsbedürftigkeit“, also die Dringlichkeit umso höher sein, je größer das Eingriffsgewicht der Überwachungsmaßnahme ist.
Im Gegenzug dürfen aber Informationen, die der Verfassungsschutz unter geringeren Voraussetzungen erheben darf, nicht ungehindert an andere Stellen fließen. Vor allem für die Datenübermittlung an die Polizei müssen nach dem Bundesverfassungsgericht strenge Voraussetzungen und das Prinzip der hypothetischen Datenerhebung gelten. Das heißt, der empfangenden Behörde (= Polizei) müsste zu dem jeweiligen Übermittlungszweck eine eigene Datenerhebung mit vergleichbar schwerwiegenden Mitteln wie der vorangegangenen geheimdienstlichen Überwachung erlaubt sein. Also nur, wenn auch die Polizei V-Leute einsetzen dürfte, kann der Verfassungsschutz Informationen aus einem V-Mann-Einsatz an die Polizei weitergeben. Ansonsten würde das Trennungsgebot umgangen: Der Verfassungsschutz könnte unter geringeren Voraussetzungen als die Polizei Kenntnisse erlangen und weitergeben – die Polizei könnte dann auf einer für sie eigentlich unzugänglichen Informationsgrundlage Zwangsmaßnahmen ergreifen, über die der Verfassungsschutz gar nicht verfügt.
3. Auch Verfassungsschutz muss kontrolliert werden und sich auf verständliche Rechtsgrundlagen stützen
Das Bundesverfassungsgericht stellt fest, dass auch einer Verfassungsschutzbehörde die Einhaltung bestimmter Verfahrensschritte bei der Anwendung von Überwachungsbefugnissen zumutbar ist. Dabei räumt das Gericht der unabhängigen Vorabkontrolle eine besondere Bedeutung ein, wenn es um eingriffsintensive Überwachungsmaßnahmen geht, die vermutlich auch höchstprivate Informationen erfassen. Die Betroffenen werden hiervon nichts erfahren und können daher nicht selbst eine rechtsstaatliche Kontrolle veranlassen.
Das Gericht fordert daher für alle Überwachungsmaßnahmen, die nicht ohnehin eine richterliche Anordnung benötigen, eine unabhängige Kontrolle vor einem längerfristigen Einsatz dieser Mittel. Das betrifft also den Einsatz von V-Leuten, Verdeckten Ermittlern, Mobilfunkortung und Observation. Ein Rückschlag für die Vertreter des bayerischen Innenministeriums, die in der Verhandlung versucht hatten, jede Form von Vorabkontrolle als unpraktikabel und unzumutbar abzuwehren.
An mehreren Stellen haben die Karlsruher Richter*innen außerdem „Verweisungskaskaden“ moniert. Tatsächlich ist das BayVSG besonders schwer verständlich, insbesondere durch lange Verweise des Landesgesetzgebers in Bundesgesetze. Teilweise muss man sechs Mal das Gesetz wechseln, um die Voraussetzungen für eine Überwachungsmaßnahme oder einen Übermittlungstatbestand vollständig zu erfassen. Das ist leider keine Seltenheit, sondern im Sicherheitsrecht weit verbreitet. Das Gericht hat eben das – wie auch schon in dem von uns erstrittenen Urteil zum BND-Gesetz – als Verstoß gegen das Gebot der Normenklarheit gebrandmarkt.
Wie geht es jetzt weiter?
Erst einmal freuen wir uns über das wichtige Urteil – unsere strategische Prozessführung wirkt! Ohne die Verfassungsbeschwerde der GFF wäre das Bayerische Verfassungsschutzgesetz nie auf den Prüfstand gekommen und das Bundesverfassungsgericht hätte diese wichtigen Grundsätze für die Arbeit der Inlandsgeheimdienste nicht aufstellen können.
Jetzt müssen alle Landesgesetzgeber ihre Verfassungsschutzgesetze mit den Grundrechten in Einklang bringen. Wir werden genau hinsehen: Wenn die Gesetzesnovellen erneut nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind, klagen wir erneut. Gemeinsam mit dem Bundesverfassungsgericht schützen wir die Verfassung – zur Not auch vor dem Verfassungsschutz!