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Corona und die Grundrechte Maske von coyot, lizensiert unter Pixabay License
Demokratie und Grundrechte, Freiheit im digitalen Zeitalter
Art. 1, 5, 2

Corona und Grundrechte: Fragen und Antworten

Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie schränken Grundrechte ein. Wir beobachten die Entwicklungen, beantworten häufige Fragen und bieten rechtliche Einschätzungen.

In der aktuellen Situation gilt für uns: Wir werden sorgfältig prüfen, ob staatliche Maßnahmen mit dem Grundgesetz vereinbar sind – und notfalls rechtliche Schritte ergreifen.

A. Grundrechte in Zeiten einer Pandemie

A.1. Was passiert mit unseren Grundrechten in Zeiten einer Pandemie? Wie sind die massiven Freiheitsbeschränkungen im November 2020 zu bewerten?

Zuletzt geprüft am 18. November 2020.

Um die Ausbreitung von gefährlichen Krankheiten wie COVID-19 zu verhindern, darf der Staat Grundrechte beschränken. Die rechtliche Grundlage für die aktuellen Maßnahmen bietet vor allem das Infektionsschutzgesetz (IfSG). Hier werden unterschiedliche Schutzmaßnahmen zur Seuchenbekämpfung geregelt, die u.a. die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit und die Unverletzlichkeit der Wohnung beschränken (§ 28 IfSG). All das zu dem Zweck, die Ausbreitung einer Krankheit zu verhindern und damit das Recht bisher nicht infizierter Menschen auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu schützen (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz, GG). Es wird also festgelegt, wie und in welche Rechte der Staat eingreifen darf. Außerdem können die Bundesländer nach § 32 IfSG eigene Schutzmaßnahmen in Form von Rechtsverordnungen erlassen, auf deren Grundlage unsere Grundrechte ebenfalls beschränkt werden dürfen.

Wichtig ist: Der Staat darf auch in der aktuellen Ausnahmesituation nur in unsere Grundrechte eingreifen, wenn dies verhältnismäßig ist. Es sind also nicht alle Maßnahmen, die zum Infektionsschutz getroffen werden oder theoretisch getroffen werden können, automatisch rechtmäßig. Je tiefer der jeweilige Grundrechtseingriff, desto erfolgversprechender und alternativloser muss eine Maßnahme diesem Zwecke dienen. Und die Maßnahmen, die die Ausbreitung einer Krankheit verhindern sollen, dürfen die Grundrechte nur so wenig wie möglich beschränken. Es geht also immer um eine Abwägung der betroffenen Rechtsgüter.

Das heißt: Wenn ein*e Amtsärzt*in die Wohnung einer mutmaßlich infizierten Person betritt, um diese zu untersuchen, greift der Staat in das Recht der Betroffenen auf die Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 und 7 GG) ein. Das ist allerdings gerechtfertigt, da der Staat mit entsprechenden Kontrollmaßnahmen das Recht Dritter auf Leben und körperliche Unversehrtheit schützen will. Dies wiegt in dem Fall schwerer als die Unverletzlichkeit der Wohnung der mutmaßlich infizierten Person.

Zum Schutz vor einer gefährlichen Krankheit ermöglicht es das Infektionsschutzgesetz (IfSG), auch die Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG) einzuschränken, beispielsweise indem Demonstrationen verboten oder begrenzt werden. Die Versammlungsfreiheit hat große Bedeutung in einer Demokratie, deswegen muss besonders kritisch geprüft werden, ob Beschränkungen verhältnismäßig sind. Die große Ansteckungsrate des Coronavirus und eine mögliche Überlastung des Gesundheitssystems durch viele gleichzeitig infizierte Menschen sprechen im Allgemeinen für die Verhältnismäßigkeit von Beschränkungen; inzwischen hat sich aber gezeigt, dass Gesundheitsschutzkonzepte in aller Regel ausreichen, um die von einer Versammlung ausgehende Infektionsgefahr ausreichend zu begrenzen.

Infektionsschutzmaßnahmen greifen außerdem in viele weitere Grundrechte ein, z.B. in die Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG) bei Quarantäne und die körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) bei ärztlichen Untersuchungen. Außerdem darf noch in die Freizügigkeit (Artikel 11 Absatz 1 und 2 GG) eingegriffen werden, zum Beispiel wenn der Aufenthalt in bestimmten Gebieten verboten wird.

Wie sind die massiven Freiheitsbeschränkungen im November 2020 zu bewerten?

Am 28. Oktober 2020 beschlossen Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsident*innen der 16 Bundesländer neue gravierende Freiheitsbeschränkungen zur Bekämpfung der Sars-CoV-2-Pandemie.

Anlass dafür war das exponentielle Wachstum der Infektionszahlen über den gesamten Oktober mit zuletzt fünfstelligen Neuinfektionszahlen pro Tag. Die Zahl der positiv auf Corona getesteten Personen verdoppelte sich etwa alle sieben Tage, die Zahl der Intensivpatient*innen etwa alle zehn Tage. Dabei waren die Ansteckungsumstände in mehr als 75 % der Fälle unklar. Das bedeutet, nur in einem Viertel der Fälle ließ sich aufklären, wann, bei wem und wo sich jemand angesteckt hatte.

Zwischenmenschliche Kontakte sollen nun so stark reduziert werden, dass diese Infektionsdynamik unterbrochen wird. Dazu haben die Bundesländer zum 2. November 2020 eine ganze Reihe von bereits aus dem Frühjahr 2020 bekannten Maßnahmen in Kraft gesetzt; sie sollen zunächst bis Ende November 2020 gelten. Eine Auswahl:

  • Kontaktbeschränkungen im öffentlichen und privaten Raum;
  • Beherbergungsverbote;
  • Schließungen von Theatern, Opern, Konzerthäusern, Kinos, Bordellen, Schwimmbädern, Fitnessstudios;
  • Einstellung des Sportbetriebs (ausgenommen Individualsport);
  • Verbot von Unterhaltungsveranstaltungen mit Zuschauer*innen;
  • Schließung von Gastronomiebetrieben.

Der Einzelhandel bleibt zwar geöffnet, darf aber nicht mehr als eine Person pro 10 qm ins Geschäft lassen. Schulen und Kindergärten bleiben vorerst geöffnet. Die Details sowie etwaige Sanktionen bei Verstößen regeln die Bundesländer selbst.

Diese Regelungen stoßen in der Bevölkerung und in der Wirtschaft auf deutlich mehr Widerstand als noch im Frühjahr 2020. Das ist verständlich, denn die Maßnahmen treffen gerade jene Menschen besonders hart, die schon vor einigen Monaten am meisten zu leiden hatten. Wie aber sind die Regelungen rechtlich zu bewerten?

Das Infektionsschutzgesetz (IfSG) bietet darauf nach wie vor keine zufriedenstellende Antwort. Das IfSG regelt zwar einige Maßnahmen sehr genau, wie z.B. die Voraussetzungen für eine Quarantäneanordnung und deren Durchführung. Solche und andere Maßnahmen knüpfen jedoch an eine konkrete Infektion an oder jedenfalls an einen konkreten Infektionsverdacht (vgl. zur Quarantäneanordnung unseren Beitrag hier). Die nun beschlossenen Maßnahmen – wie auch die Maßnahmen aus dem Frühjahr sowie die anhaltende Maskenpflicht – schränken dagegen die Rechte praktisch aller Menschen ein, unabhängig davon, ob sie krank bzw. krankheitsverdächtig sind oder nicht.

Wie bereits häufig – auch von uns – kritisiert, gibt das IfSG nicht im Einzelnen vor, unter welchen Umständen der Staat solche die Allgemeinheit betreffenden Maßnahmen ergreifen darf (und welche genau). So beruhen auch die November-Beschränkungen lediglich auf einer sogenannten Generalklausel (§ 28 IfSG), die alle Abwägungsentscheidungen der Exekutive überlässt. Das ist verfassungsrechtlich hochproblematisch, müssen doch alle wesentlichen Freiheitsbeschränkungen vom Parlament selbst beschlossen werden (Parlamentsvorbehalt). Daher sind beispielsweise in Polizeigesetzen neben einer Generalklausel für alle typischen Situationen – beispielsweise eine Durchsuchung oder ein Platzverweis – auch sogenannte Standard-Maßnahmen enthalten, mit detaillierteren Voraussetzungen und Beschränkungen. Damit trifft der direkt gewählte Gesetzgeber die wesentlichen Entscheidungen selbst, statt sie den Polizeikräften vor Ort zu überlassen. Im IfSG fehlen solche Standard-Maßnahmen zum Infektionsschutz gegenüber der Allgemeinheit.

Dieses Defizit wiederum ist nicht nur ein abstraktes Problem, sondern hat handfeste Konsequenzen: Noch im Frühjahr waren die Gerichte an diesem Punkt sehr zurückhaltend, weil über das Virus noch wenig bekannt war und weil unklar war, welche Maßnahmen nötig sein würden. Inzwischen aber bestand Zeit gesetzgeberisch zu handeln – und so begründen nun die ersten Gerichte eben mit der fehlenden parlamentarischen Legitimation, dass die Freiheitsbeschränkungen rechtswidrig seien (so z.B. das Amtsgericht Dortmund in einem Urteil vom 2. November 2020, Az. 733 OWi-127 Js 75/20-64/20). Andere Gerichte wie etwa der Bayerische Verfassungsgerichtshof (Beschluss vom 29. Oktober 2020, Az. 20 NE 20.2360) lassen die neuerlichen Maßnahmen nur deshalb durchgehen, weil die Einfügung eines neuen § 28a in das IfSG unmittelbar bevorstehe (kritisch zu diesem aktuellen Stand sowie allgemein zu den Anforderungen des Parlamentsvorbehalts an das IfSG Andrea Kießling auf dem Verfassungsblog). Die Gesetzgebung muss daher dringend handeln und klarere Rechtsgrundlagen für die nötigen Maßnahmen schaffen; § 28 IfSG kann nicht mehr lange als Generalklausel herhalten.

Abgesehen von der nötigen Rechtsgrundlage müssen die Freiheitsbeschränkungen auch verhältnismäßig sein sowie im Verhältnis zueinander schlüssig. Zweifel an der Geeignetheit und Erforderlichkeit einzelner Maßnahmen zur Durchbrechung der Infektionswelle säen beispielsweise jüngere Gerichtsentscheidungen zu der Rechtswidrigkeit von Beherbergungsverboten. Und geben die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) nicht Hinweise darauf, dass Restaurants dank strenger Hygienevorschriften keine Infektionstreiber sind? Auch Gleichheitsargumente werden vorgebracht: So ist nicht ohne Weiteres verständlich, warum nun Kinos oder Konzerthäuser schließen müssen, Kirchen aber nicht – können nicht hier wie dort dank fester Plätze die notwendigen Abstände eingehalten und für Belüftung gesorgt werden?

All das (und Weiteres) könnte verfangen – wenn die Situation sich nicht so dramatisch zugespitzt hätte. Am 28. Oktober 2020, als die Maßnahmen getroffen wurden, stand fest, dass die Krankenhäuser binnen weniger Wochen überlastet sein würden. Es stand auch fest: Die bis dahin geltenden Maßnahmen wirkten offenkundig nicht genug. Vor allem aber: In 75 % der Fälle ließ sich nicht ermitteln, wo sich jemand angesteckt hat.

Hätten wir Zeit, müsste der Staat nun auf die Suche gehen. Er würde dann erstmal nur die infektionsträchtigsten Tätigkeiten (Mannschaftssport? Gottesdienste? Doch die Restaurantbesuche?) verbieten und gegebenenfalls nachsteuern. Er würde versuchen herauszufinden, ob vielleicht der Theaterbesuch unproblematisch ist, nicht aber das Zusammenstehen davor und danach, und was man gegen diese Infektionsgefahr tun könnte. Aber diese Zeit haben wir nicht, dafür ist die Situation bereits zu dramatisch.

Die Behörden müssen daher wohl oder übel auf dünner Tatsachengrundlage handeln, und zwar sofort. Verfassungsrechtlich bedeutet das, dass ihr Einschätzungsspielraum steigt, welche Maßnahmen am wirksamsten die Infektionswelle brechen können. Gleichzeitig wächst auch ihr politischer Gestaltungsspielraum bei der Priorisierung, beispielsweise von Schulen über Freizeitaktivitäten. Und soll nicht die gesamte Wirtschaft lahmgelegt werden, wie im Frühjahr, muss auch hier ausgewählt werden – was immer Abgrenzungsprobleme hervorruft. Eine typisierende Auswahl muss daher begründbar sein. Beispielsweise muss begründet werden, warum Friseursalons für den Alltagsbetrieb wichtiger sind als Massagestudios (was naheliegt), oder der Kirchenbesuch grundrechtlich betrachtet essenzieller ist als der Theaterbesuch (was wir deutlich kritischer sehen).

Für die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahmen spricht insofern, dass die Regierungen nicht nur Gestaltungsspielraum haben, sondern – anders als im Frühjahr – auch ein Gesamtkonzept entwickelt und Alternativen abgewogen haben. Auch die umfangreichen Entschädigungen – bis zu 75 % des Umsatzes aus November 2019 – dürfte bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung eine Rolle spielen.

Allerdings kann man gegen jede einzelne Beschränkung gute Gründe vorbringen. Und es ist auch nicht auszuschließen – eher sogar wahrscheinlich –, dass einzelne Verwaltungsgerichte in den nächsten Tagen und Wochen bestimmte Beschränkungen wieder aufheben werden. Aber gegen den Grundansatz, nun wieder das öffentliche Leben zu beschränken, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht aufgrund der konkreten Situation nichts Fundamentales einzuwenden.

Insgesamt sind die Freiheitsbeschränkungen im November 2020 daher nach unserer Einschätzung – gerade noch – zu rechtfertigen. Maßgeblich ist dabei aber die konkrete Begründung der Maßnahmen im Lichte ihrer Alternativen.

Positiv ist schließlich zu bewerten, dass der Deutsche Bundestag durch die am 18. November 2020 beschlossene Novelle des Infektionsschutzgesetzes mit einem neuen § 28a InfSG eine konkretere Rechtsgrundlage für Verordnungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie geschaffen hat. Dies verbessert die demokratische Legitimation der Maßnahmen der Länder, weil das Parlament damit einen Katalog möglicher Beschränkungen ausdrücklich gebilligt hat.


A.2. Auf Grundlage welcher Gesetze und Verordnungen werden unsere Rechte aktuell eingeschränkt?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Die rechtliche Grundlage für die aktuellen Maßnahmen, mit denen die Regierung die Ausbreitung des Coronavirus eindämmen will, ist das Infektionsschutzgesetz (IfSG). Im Fall einer Pandemie ermöglicht es das Infektionsschutzgesetz, unsere Grundrechte teilweise weitreichend einzuschränken. Diese Einschränkungen müssen allerdings verhältnismäßig sein.

Im IfSG ist geregelt, welche Krankheiten (und Krankheitserreger) meldepflichtig sind und damit zu den Krankheiten zählen, zu deren Bekämpfung der Staat besondere Maßnahmen ergreifen kann (§§ 6, 7 IfSG). Seit einer Gesetzesänderung sind sowohl die Krankheit COVID-19 als auch der neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 als Krankheitserreger meldepflichtig (§ 6 Absatz 1 Nr. 1 lit. t bzw. § 7 Absatz 1 Nr. 44a IfSG). Liegen Infektionen vor, sind die zuständigen Behörden gemäß §§ 28-31 IfSG ermächtigt, alle notwendigen Schutzmaßnahmen zu ergreifen, soweit und solange das erforderlich ist, um eine Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhindern. Dazu gehören die Quarantäne und ein Berufsverbot für Infizierte bzw. möglicherweise Infizierte.

Zudem haben die Bundesländer nach § 32 IfSG die Möglichkeit, eigene Rechtsverordnungen mit weiteren Ge- und Verboten zu erlassen. Da es die Bundesländer für wichtig hielten, möglichst einheitliche Maßnahmen zu treffen, gibt es mittlerweile diverse Bund-Länder-Vereinbarungen, die allerdings bis zum Herbst 2020 immer größere Spielräume für die einzelnen Bundesländer zulassen.

Auf die Bund-Länder-Vereinbarung vom 16. März 2020, hatten alle 16 Bundesländer mit einschneidenden Maßnahmen reagiert, soweit sie es nicht schon im Vorfeld der Vereinbarung getan hatten. Die Regelungen der Bundesländer sahen bereits Schließungen von Schulen, Kitas, Einzelhandelsgeschäften (mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften), Clubs vor, aber auch von Theatern, Spielplätzen, und verbaten Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen.

Am 22. März 2020 haben sich Bund und Länder auf noch weiter gehende Maßnahmen geeinigt. Die Bundesländer erließen umfangreiche Kontaktbeschränkungen, nach denen der Aufenthalt im öffentlichen Raum nur alleine, zu zweit oder im Kreis der Angehörigen des eigenen Haushalts gestattet ist. Dienstleistungsbetriebe mussten schließen, insbesondere die bis dahin teilweise vom Verbot ausgenommenen Friseure und Kosmetikstudios sowie Tattoo-Studios. Dagegen sollten medizinisch notwendige Behandlungen auch weiterhin möglich bleiben. Auch Restaurants und Gaststätten blieben geschlossen, Essen und Getränke konnten aber weiterhin geliefert oder abgeholt werden. Die Maßnahmen sollten mindestens für zwei Wochen gelten, wurden aber erst etliche Wochen später schrittweise entspannt.

Bis zum Sommer 2020 hatte sich das Infektionsgeschehen deutlich beruhigt und viele der Einschränkungen wurden wieder aufgehoben. Das ignorieren viele, die der Regierung vorwarfen, Freiheitsrechte dauerhaft einschränken zu wollen. Als im September und insbesondere im Oktober die Infektionszahlen wieder anstiegen, beschlossen die Bundesländer neuerlich Beschränkungen. Mitte Oktober wurde eine neuerliche Bund-Länder-Vereinbarung getroffen, am 28. Oktober wurden dann wieder harte Einschränkungen für den November 2020 beschlossen.

Auf diesen Übersichtsseiten der Länder finden sich alle Regelungen:

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A.3. Anordnung, Allgemeinverfügung, Rechtsverordnung – was hat es mit den unterschiedlichen Rechtsformen von Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen auf sich?

Die Bundesländer haben nicht nur inhaltlich unterschiedliche Regelungen zur Eindämmung der Corona-Epidemie getroffen, sondern diese auch in unterschiedlichen Rechtsformen umgesetzt. So hatten zum Beispiel Hamburg und Bremen (zunächst) Allgemeinverfügungen erlassen, während in Baden-Württemberg und Berlin Rechtsverordnungen beschlossen wurden. Bayern hatte seine Kontaktbeschränkungen zunächst sowohl durch Allgemeinverfügung als auch durch Rechtsverordnung geregelt, die inhaltlich identisch waren. Dazu kommen Anordnungen der Gesundheitsämter gegenüber Einzelpersonen, z.B. sich in Quarantäne zu begeben, oder direkte Anordnungen der Polizei, die Abstandsregelungen einzuhalten.

Rechtsverordnungen, Allgemeinverfügungen und Einzelanordnungen sind unterschiedliche Instrumente. Eine Einzelanordnung ist die Regelung eines Einzelfalls; sie richtet sich ausdrücklich an eine*n oder auch mehrere bestimmte Adressat*innen. Auch eine Allgemeinverfügung regelt einen bestimmten Sachverhalt, jedoch bezogen auf eine Vielzahl von Personen, die nicht namentlich genannt werden, sondern nur nach allgemeinen Merkmalen bestimmbar sein müssen. Ein Verkehrsschild ist zum Beispiel eine Allgemeinverfügung. Eine Rechtsverordnung hingegen regelt ähnlich wie ein formelles Gesetz einen abstrakt-generellen Sachverhalt und gilt für jedermann. Anders als ein formelles Gesetz, das das Parlament beschließt, wird die Rechtsverordnung von der Regierung erlassen.

Die Unterschiede zwischen Einzelanordnung, Allgemeinverfügung und Rechtsverordnung liegen u.a. in den Zuständigkeiten, den allgemeinen Voraussetzungen für den Erlass des jeweiligen Rechtsaktes, den strafrechtlichen Folgen sowie in den Rechtsschutzmöglichkeiten.

Der strafrechtliche Unterschied liegt darin, dass man sich bei Verstoß gegen eine Allgemeinverfügung oder auch eine Quarantäneanordnung direkt strafbar oder bußgeldpflichtig machen kann, da diese gemäß § 28 Absatz 3 i.V.m. § 16 Absatz 8 IfSG automatisch sofort vollziehbar sind (zu den Folgen von Verstößen s. Frage A.4). Bei Verstoß gegen eine Rechtsverordnung kann eine Strafbarkeit nach dem Wortlaut des IfSG erst dann angenommen werden, wenn auch eine vollziehbare Anordnung vorliegt (vgl. auch BVerfGE, 1 BvR 712/20, Rn. 14 f.) oder jemand nachweislich eine Krankheit verbreitet. Nach dieser Lesart liegt bei einem Verstoß alleine gegen eine Rechtsverordnung weder eine Ordnungswidrigkeit noch eine Straftat vor.

Das bedeutet, dass man sich in einem Bundesland, in dem eine Rechtsverordnung erlassen wurde, nicht direkt strafbar macht, wenn man z.B. die Abstandsregeln beim Spaziergang nicht einhält. Die Polizei kann die Einhaltung der Ausgangsregelungen aber mit polizeilichen Maßnahmen, zum Beispiel einem Platzverweis, durchsetzen. Liegt zusätzlich zu der Rechtsverordnung noch eine Allgemeinverfügung vor, so wie es in Bayern der Fall war, liegt eine vollziehbare Anordnung vor, und man könnte sich direkt bußgeldpflichtig oder strafbar machen.

Die Bundesländer sind aufgrund eines Bundesgesetzes, des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), dazu ermächtigt „erforderliche Schutzmaßnahmen“ als Allgemeinverfügung oder Rechtsverordnung zu treffen. Konkret ermächtigt das IfSG die zuständigen Landesbehörden, in der Regel die Gesundheitsämter, Allgemeinverfügungen zu erlassen (§ 28 IfSG). Rechtsverordnungen durch die Landesregierungen stützen sich auf § 32 IfSG. Auch Einzelanordnungen wie Quarantänemaßnahmen oder die Duldung einer Beobachtung durch das Gesundheitsamt können von der zuständigen Behörde direkt auf das IfSG gestützt werden (§§ 29, 30 IfSG). Das RKI hatte dafür zeitweise einen Musterbescheid auf seiner Homepage veröffentlicht.

Ob nun eine Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen als Allgemeinverfügung oder als Rechtsverordnung erlassen wird, hängt davon ab, ob eine konkret-generelle oder eine abstrakt-generelle Regelung geschaffen werden soll. Ob die Corona-Pandemie ein konkreter Sachverhalt ist und ob der von den Regelungen betroffene Personenkreis ausreichend bestimmbar ist, sehen die Gerichte bisher unterschiedlich. Das Verwaltungsgericht München hält die landesweite bayrische Allgemeinverfügung für rechtswidrig, da diese zwar anlassbezogen ist, also einen bestimmten Sachverhalt regelt. Der Adressatenkreis sei aber zu unbestimmt, da alle Personen von den Regelungen betroffen seien, die sich – zum Teil auch nur zeitweise – in Bayern aufhielten. Deshalb hätte die bayerische Regierung eine Rechtsverordnung erlassen müssen (was sie in der Zwischenzeit getan hat). Andere Gerichte, so zum Beispiel das Verwaltungsgericht Dresden, sehen jedoch in der aktuell bestehenden Corona-Epidemie einen ausreichend konkreten Sachverhalt und den Personenkreis als hinreichend bestimmbar an.

A.4. Was passiert, wenn Menschen sich nicht an die Einschränkungen des öffentlichen Lebens halten, z.B. indem sie gegen Quarantäneanordnungen oder Betretungsverbote für öffentliche Orte verstoßen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Grundsätzlich können Verstöße gegen die jeweils geltenden Kontaktbeschränkungen und Hygieneregeln, die sowohl in Rechtsverordnungen als auch in Allgemeinverfügungen durch die Länder festgelegt wurden, sowie gegen Quarantäneanordnungen aufgrund des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) als Ordnungswidrigkeit (§ 73 Absatz 1a Nr. 6 und 24) oder – unter bestimmten weiteren Voraussetzungen – als Straftatgeahndet werden (§ 74 und § 75 Absatz 1 Nr. 1).

Verstöße gegen Kontakt- und andere Beschränkungen, die von den Ländern in Rechtsverordnungen festgelegt wurden, sind eine Ordnungswidrigkeit, nach § 73 Abs. 1a Nr. 24 IfSG, wenn die jeweilige Verordnung ein Bußgeld androht. Eine Geld- (oder gar Freiheits-) Strafe ist nun nur noch möglich, wenn vorsätzlich gegen eine Kontaktbeschränkung oder Hygieneregelung einer Rechtsverordnung der Länder verstoßen wird und dadurch die Krankheit COVID-19 oder der Krankheitserreger SARS-CoV-2 nachweisbar verbreitet wurde (§ 74 IfSG).

Mit Geld- oder Freiheitsstrafe bestraft werden kann auch, wer einer konkreten Einzelverfügung (etwa eines Gesundheitsamts, bestimmte Hygienevorschriften in einer Gaststätte einzuhalten) zuwiderhandelt (§ 75 Absatz 1 Nr. 1 IfSG).

Alle Bundesländer haben Bußgeldkataloge erlassen, die die Bußgeldrahmen genauer festlegen. Berlin hat beispielsweise für die Nichteinhaltung des Mindestabstandes zu anderen Personen einen Bußgeldrahmen von 100 bis 500 Euro festgesetzt.

Wie das Verfassungsgericht des Landes Berlin am 20. Mai festgestellt hat, gelten die Bußgeldkataloge aber nur, soweit sie aktualisiert, also den tatsächlich geltenden Verordnungen angepasst werden, und die Vorschriften ausreichend klar formuliert sind, also das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot des Artikel 103 Absatz 2 GG einhalten. Die in der Berliner Verordnung verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe wie “absolut nötiges Minimum” und “soweit die Umstände dies zulassen” waren dem Gericht z.B. zu ungenau. Die Bürger*innen müssen ausreichend in die Lage versetzt werden, zu erkennen, welche Handlung oder Unterlassung bußgeldbewehrt ist.

Problematisch sind auch die weiteren Konsequenzen bei Verstoß gegen eine Quarantäneanordnung. Wer dieser nicht nachkommt, kann gemäß § 30 Abs. 2 IfSG auch zwangsweise in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einer anderen abgeschlossenen Einrichtung untergebracht werden. Für eine solche Freiheitsentziehung braucht es aber einen richterlichen Beschluss (gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG). Aus Büren in Nordrhein-Westfalen berichtet der Verein Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Büren e.V., dass mindestens sechs Geflüchtete zur Durchsetzung der Quarantäne in der dortigen Abschiebehaftanstalt inhaftiert wurden. Ein Gefängnis ohne ausreichendes medizinisches Personal ist allerdings keine geeignete Einrichtung im Sinne des § 30 Abs. 2 IfSG. Zudem ist nicht ersichtlich, warum diese Zwangsmaßnahme erforderlich ist. Geeignet und geboten wäre eine andere Maßnahme, nämlich eine angemessene und dezentrale Unterbringung von Geflüchteten außerhalb der infektionsträchtigen Massenunterkünfte.

A.5. Rechtsschutz in Zeiten von Corona: Wie können sich Menschen gegen Ausgangsbeschränkungen, Quarantäneanordnungen und andere Maßnahmen wehren?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Auch in der aktuellen Krisensituation gilt die Rechtsschutzgarantie des Grundgesetzes (Artikel 19 Absatz 4). Das bedeutet, dass jede*r sich stets gegen freiheitsbeschränkende Maßnahmen gerichtlich zur Wehr setzen kann, also auch gegen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Dass das auch in Pandemiezeiten funktioniert, haben die vielen Gerichtentscheidungen gezeigt, die Maßnahmen der Regierung für rechtswidrig erklärten.

Bei der Wahl des konkreten rechtlichen Vorgehens kommt es darauf an, wogegen eine Person eigentlich vorgehen will: Die einzelnen Länder erlassen zum Beispiel Ausgangsbeschränkungen gerade sowohl durch Allgemeinverfügungen als auch durch Rechtsverordnungen. Hinzu kommen Verwaltungsakte, die nur eine Einzelperson betreffen, z.B. bei einer Quarantäneanordnung nach dem Infektionsschutzgesetz (s. Frage A.3 zu den verschiedenen Rechtsformen).

Bei Allgemeinverfügungen und Verwaltungsakten muss vor einer Klage in der Regel Widerspruch bei der Behörde eingelegt werden, die die Regelung erlassen hat (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Allerdings werden in der aktuellen Situation die meisten Regelungen für sofort vollziehbar erklärt. Das bedeutet, dass ein eingelegter Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat und die getroffene Regelung selbst bei eingelegtem Widerspruch weiter befolgt werden muss (§ 80 Abs. 2 VwGO). Eine sofort vollziehbare Maßnahme kann daher nur mit dem einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Absatz 5 Verwaltungsgerichtsordnung – einem Eilantrag – vor dem Verwaltungsgericht effektiv angegriffen werden. Das Gericht prüft dann summarisch, also überblicksartig, ob die getroffene Maßnahme rechtswidrig ist. Ist das der Fall, hat der Eilantrag Erfolg und das Gericht stellt die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder her. Das bedeutet, dass die Regelung dann bis zu einer endgültigen Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Hauptsacheverfahren nicht befolgt werden muss. Endgültig entschieden wird über die Regelung aber erst im Hauptsacheverfahren, das mindestens einige Monate dauert.

Zu beachten ist: Wird auf Grund eines Eilantrages oder einer Klage eine Allgemeinverfügung für rechtswidrig erklärt, gilt dies grundsätzlich nur für den*die Antragsteller*in, sodass die Allgemeinverfügung im Übrigen wirksam bleibt.

Gegen eine Rechtsverordnung wiederum muss vor dem Oberverwaltungsgericht mit der Normenkontrolle nach § 47 VwGO vorgegangen werden, sofern das Landesrecht das erlaubt (alternativ besteht die Möglichkeit einer sogenannten Feststellungsklage). Die Normenkontrolle können alle Personen beantragen, die sich durch die Verordnung in ihren Rechten verletzt sehen. Das Gericht überprüft dann, ob die Rechtsverordnung gegen höherrangiges Recht verstößt, beispielsweise ob eine Kontaktbeschränkung die Grundrechte verletzt. Sollte das Gericht feststellen, dass die Rechtsverordnung rechtswidrig ist, erklärt das Gericht sie für unwirksam. Dies gilt – anders als bei einem Vorgehen gegen einen Verwaltungsakt oder eine Allgemeinverfügung – allgemein. Das bedeutet, dass niemand mehr an die Rechtsverordnung gebunden ist. Auch gegen eine Rechtsverordnung ist ein Eilantrag statthaft (nach § 47 Abs. 6 VwGO), der im Falle seines Erfolgs allerdings nur zu Gunsten der Antragsteller*innen gilt.

Begeht jemand eine Ordnungswidrigkeit, kann die zuständige Behörde nach einer Anhörung der betroffenen Person einen Bußgeldbescheid erlassen. Gegen einen solchen Bußgeldbescheid kann gemäß § 67 Ordnungswidrigkeitengesetz Einspruch bei der Behörde eingelegt werden, die den Bescheid erlassen hat. Dieser Einspruch muss innerhalb von 14 Tagen bei der Behörde eingehen. Nach erneuter Prüfung wird – wenn die Behörde bei ihrer Auffassung bleibt – die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, die ebenfalls prüft, ob der Bescheid rechtmäßig ist. Diese stellt das Verfahren bei einem rechtswidrigen Bescheid ein. Hält die Staatsanwaltschaft den Bußgeldbescheid dagegen für rechtmäßig, geht das Verfahren vor dem Amtsgericht weiter. Dann entscheidet ein*e zuständige*r Strafrichter*in über die Rechtmäßigkeit.

Trotz der Rechtsschutzgarantie kam es in der aktuellen Situation allerdings zu faktischen Durchsetzungsschwierigkeiten, weil viele Gerichte auf einen Notbetrieb heruntergeschaltet hatten. Es bleibt abzuwarten, ob sich eine solche Situation im Winter 2020/21 wiederholt.

A.6. RECHTFERTIGT DAS RECHT AUF LEBEN UND KÖRPERLICHE UNVERSEHRTHEIT JEDEN EINGRIFF IN EIN ANDERES GRUNDRECHT?

In der öffentlichen Diskussion insbesondere zu Beginn der Pandemie war zu beobachten, dass häufig die „härtesten“ Maßnahmen quasi-automatisch als die effektivsten und deshalb einzig sinnvollen gesehen wurden. Dass es um Leben und Tod gehe, schien jede Grundrechtseinschränkung zu rechtfertigen. Das aber ist falsch.

Zunächst einmal ist es richtig, dass Grundrechte uns nicht nur vor staatlichen Eingriffen schützen, sondern den Staat auch zum Schutz unserer Rechte verpflichten. Das wird am deutlichsten in Artikel 1 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes: Alle staatliche Gewalt ist dazu verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Deshalb muss der Staat die Bevölkerung vor dem Coronavirus schützen und kann das Virus nicht einfach über sie hereinbrechen lassen. Es ist auch unbestritten, dass das Leben und die körperliche Unversehrtheit sehr hochrangige Schutzgüter sind.

Allerdings gilt auch das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit nicht ohne Einschränkung. Das Grundgesetz sieht vor, dass „auf Grund eines Gesetzes“ in das Recht auf Leben eingegriffen werden kann, es steht also unter einfachem Gesetzesvorbehalt (Artikel 2 Absatz 2 Satz 3). Ebenfalls muss es genau wie alle anderen Grundrechte mit kollidierendem Verfassungsrecht – also insbesondere mit anderen Grundrechten – in einen „schonenden Ausgleich“ gebracht werden.

Gute Beispiele für Abwägungsentscheidungen, die in der Vergangenheit gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ausgingen, nennt Prof. Kingreen im Verfassungsblog. So wird niemand dazu gezwungen, nach seinem Tod Organe zu spenden, obwohl viele Menschen sterben, weil ihnen die überlebenswichtige Organspende fehlt. Gleichfalls wird in der Entscheidung über ein Tempolimit auf Autobahnen die Freiheit, schnell zu fahren, höher gewichtet als die Leben, die ein solches Limit schützen könnte. Auch in seinem noch jungen Urteil zur Sterbehilfe betonte das Bundesverfassungsgericht, dass die staatliche Schutzpflicht zugunsten des Lebens nicht absolut ist, sondern in Einzelfällen hinter schwerwiegenden Freiheitsrechten – wie dem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgenden Recht auf selbstbestimmtes Sterben (Artikel 2 Absatz 1 i.V.m. Artikel 1 Absatz 1) – zurückstehen kann.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist also nicht automatisch „stärker“ als alle anderen Grundrechte, sondern der Staat muss sie stets in einen schonenden Ausgleich bringen.

A.7. Sind die beschlossenen Freiheitsbeschränkungen wie Kontaktverbote und Ausgangsbeschränkungen rechtmäßig?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Die vielseitigen Freiheitsbeschränkungen sind vor allem unter zwei Gesichtspunkten problematisch: Für viele Maßnahmen fehlt eine ausdrückliche Ermächtigungsgrundlage; und es ist fraglich, ob sie verhältnismäßig sind.

Gibt es eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Maßnahmen?

Als Ermächtigungsgrundlage nutzen die Bundes- und die Landesregierungen das Infektionsschutzgesetz (IfSG).

Mangels spezieller Eingriffsgrundlage stellte sich bisher die Frage, ob Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Hygienevorschriften oder Beherbergungsverbote auf eine sogenannte „Generalklausel“ gestützt werden können, also eine sehr allgemein formulierte Auffang-Eingriffsnorm. Im Infektionsschutzgesetz gibt es eine Generalklausel für „notwendige Schutzmaßnahmen“ (vgl. § 28 Absatz 1 IfSG). Es sprachen von Beginn an gewichtige Gründe dagegen, dass diese Generalklausel für so weitreichende Eingriffe ausreichen konnte. Grundsätzlich bedürfen Grundrechtseingriffe einer umso spezielleren Rechtsgrundlage, je weitreichender sie in Freiheitsrechte eingreifen.

Bei neuartigen Gefahrenlagen ist es allerdings zumindest denkbar, auch eingriffsintensive Maßnahmen auf Generalklauseln zu stützen – zumindest für einen begrenzten Zeitraum und solange der Gesetzgeber noch nicht reagieren und eine Rechtsgrundlage schaffen konnte. Dahinter steht der Gedanke, dass durch ein Nicht-Handeln noch tiefere Eingriffe in wichtige Rechtsgüter zu befürchten sein könnten als durch das Handeln, etwa weil die Gesundheit vieler und sogar Menschenleben bedroht sind. Ob das schnelle Einführen etwa von Ausgangsbeschränkungen zur Abwendung solcher Gefahren „erforderlich“ ist, müssen Wissenschaftler*innen, insbesondere Virolog*innen, und Politiker*innen beantworten. Schon früh wurde angemahnt, der Gesetzgeber müsse für derart einschneidende Maßnahmen eine spezielle gesetzliche Ermächtigungsgrundlage schaffen.

Der Gesetzgeber reagierte auf diese Kritik in mehreren Schritten: Als erstes ergänzte er § 28 Absatz 1 Satz 1 IfSG um einen Halbsatz mit dem Ziel, weitreichende Bewegungseinschränkungen abzusichern. Ob dieser Halbsatz dem Erfordernis genügt, dass alle wesentlichen Wertentscheidungen vom Parlament zu treffen (sog. Parlamentsvorbehalt) sowie die gesetzlichen Grundlagen für eine Ermächtigung, Rechtsverordnungen zu erlassen, hinreichend bestimmt sind, war allerdings äußerst fraglich. Je länger die Pandemie andauerte, desto größer wurden die Zweifel daran, ob die Regelung genügen kann. Gleichwohl haben die Verwaltungsgerichte zunächst einhellig die Auffassung vertreten, dass § 28 IfSG als Ermächtigungsgrundlage für die zahlreichen Freiheitsbeschränkungen ausreiche (dazu ausführlich etwa OVG München, Rn. 46, und OVG Münster, Rn. 50 ff., sowie aus jüngerer Zeit etwa VG Hamburg, Rn. 53 f.).

Angesichts des erheblichen Risikos, dass die Verwaltungsgerichte künftig die begrenzte parlamentarische Legitimation der Freiheitsbeschränkungen monieren würden, hat der Gesetzgeber im November 2020 mit § 28a IfSG eine neue gesetzliche Grundlage geschaffen. § 28a IfSG konkretisiert die „notwendigen Maßnahmen“ nach § 28 Abs. 1 IfSG indem er konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus beispielhaft auflistet – etwa Abstandsgebote im öffentlichen Raum, eine Maskenpflicht oder Betriebsschließungen. Der Bundestag hat durch § 28a IfSG die Grundlage für die Rechtsverordnungen der Länder präzisiert und damit die demokratische Legitimation der Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus gestärkt. Wegen der besonderen Bedeutung der Regelung wird diese in einem eigenen Abschnitt dargestellt (B.8.).

Sind die Maßnahmen verhältnismäßig?

Freiheitseinschränkungen sind nur gerechtfertigt, wenn sie zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sind. Erforderlich sind sie, wenn es kein milderes Mittel gleicher Wirkung gibt. Zu Beginn der Pandemie stand ein juristisches Urteil über die aktuellen und noch kommenden Grundrechtseingriffe allerdings vor demselben Problem wie die Politik: Wir wussten nicht, wie viele Neuansteckungen pro Tag unser Gesundheitssystem aushält. Tausend? Hundert? Fünftausend? Wie lange durften es wie viele sein? Und wir wussten auch nicht, welche Maßnahmen die Pandemie tatsächlich am wirkungsvollsten eindämmen können. Bei so viel Unsicherheit gewährt das Recht der Politik einen großen Beurteilungsspielraum.

Das hat sich in der Zwischenzeit gewandelt: Die Krankenhäuser haben aufgerüstet, niemanden im Gesundheitswesen trifft die „zweite Welle“ im Herbst 2020 unvorbereitet. Das Virus und seine Verbreitungsformen sind deutlich besser erforscht. Und damit wachsen auch die Begründungsanforderungen an Beschränkungen.

Eine der wichtigen geltenden Regeln klingt banal: Die Maßnahmen müssen etwas bringen, sonst sind sie rechtswidrig. Daher sind auch einige Beschränkungen vor Gericht an ihrer mangelnden Eignung gescheitert, besonders prominent die isolierten Beherbergungsverbote im Herbst 2020. Als Teil eines umfassenden Lockdowns – z.B. seit November 2020 – können sie hingegen wirksam sein. Auch eine Maskenpflicht für Mitfahrer*innen bei Fahrten im privaten PKW, wie sie in Berlin seit dem 4. Februar 2021 gilt, kann zur Bekämpfung der Pandemie etwas beitragen, denn es ist plausibel, dass sich in dem kleinen Innenraum eines PKW eine gefährliche Konzentration an Viren ansammelt, sofern die Insassen sich und andere nicht durch eine Maske schützen. Der Staat darf wiederum Schutzvorkehrungen für Räume vorsehen, in denen eine besondere Ansteckungsgefahr besteht – auch im privaten Bereich.

Die Beschränkungen der Freiheit müssen auch in sich schlüssig sein. Es darf zum Beispiel nicht, wer sich seit Monaten an seinem Zweitwohnsitz aufhält, zur Rückkehr in seine Heimat gezwungen werden, wenn gerade das die Infektionsgefahr erhöht. Deshalb müssen Verbote in der Regel Ausnahmen zulassen, um dem Einzelfall gerecht zu werden.

Auch muss der Staat hinterfragen, ob Ausgangsbeschränkungen (mit Ausnahmen) wirklich erforderlich sind oder ob nicht das Verbot von Zusammenkünften (von mehr als X Personen) denselben Zweck mit milderen Mitteln erreicht. Auf Ersteres setzten etwa Bayern und Berlin und übten dadurch einen großen Rechtfertigungsdruck auf die Bevölkerung aus, die sich im öffentlichen Raum bewegen wollte; Nordrhein-Westfalen hingegen verbat schlicht Zusammenkünfte von mehr als zwei Personen.

Die nun in der Ausnahmesituation geschaffenen Beschränkungen der Freiheitsrechte dürfen zudem nicht zur Regel werden. Alle Einschränkungen müssen ebenso schnell zurückgebaut werden, wie sie errichtet wurden, sobald die Lage es erlaubt. Dass das funktioniert, haben die Landesregierung im Sommer 2020 bewiesen. Es ist daher notwendig und auch zu erwarten, dass die Beschränkungen nach der zweiten Welle wieder gelockert werden.

Protest - Gemeinsam für die Grundrechte

Mit Recht für Gerechtigkeit

Gemeinsam für die Grundrechte vor Gericht

A.8. IST ES RECHTMÄSSIG, DASS DIE CORONA-VERORDNUNGEN FÜR GEIMPFTE ODER GENESE ANDERE REGELN VORSEHEN

Dieser Abschnitt wurde zuletzt geprüft am: 18.05.2021

Ende 2020 hat die Impfkampagne gegen das Sars-CoV-2-Virus in Deutschland begonnen und zuletzt deutlich an Fahrt aufgenommen. Einige Millionen Menschen wurden inzwischen geimpft. Zudem haben ebenfalls einige Millionen Menschen bereits eine Infektion mit dem Virus überstanden. Daher hat sich die Bundesregierung entschieden, die bestehenden Freiheitsbeschränkungen für geimpfte oder aus anderen Gründen nachweislich immune Menschen teilweise aufzuheben. In der öffentlichen Debatte wird dies teilweise unter der Überschrift „Privilegien für Geimpfte“ diskutiert. Verfassungsrechtlich handelt es sich bei der Aufhebung der Freiheitsbeschränkungen jedoch nicht um „Privilegien“, sondern um die Rückkehr zum Normalzustand, in dem Grundrechte nicht pandemiebedingt eingeschränkt sind.

Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat haben Ausnahmen von Grundrechtseinschränkungen für Geimpfte und Genesene in der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung beschlossen. Diese Verordnung gilt bundesweit. Ausgenommen werden Geimpfte und Genesene von Testerfordernissen, Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren. Einer Quarantänepflicht unterliegen sie nur noch ausnahmsweise: Nämlich nach einem Risikokontakt mit einer mit COVID-19 infizierten Person, die mit einer noch nicht in Deutschland verbreiteten Virusvariante infiziert ist, oder nach der Einreise aus einem Virusvariantengebiet. Eine Ausnahme von der Maskenpflicht sowie der Hygiene- und Abstandsregelungen sieht die Verordnung nicht vor. Diese Erleichterungen gelten für Geimpfte 14 Tage nach der letzten erforderlichen Impfung für einen unbegrenzten Zeitraum, für Genesene gelten sie 28 Tage nach einem positiven PCR-Test und für einen Zeitraum von sechs Monaten. Als Nachweis dienen ein Impfnachweis oder ein Genesenennachweis, welche sowohl digital als auch in Papierform in deutscher, englischer, französischer, italienischer oder spanischer Sprache vorgelegt werden können. Von wem diese Nachweise ausgestellt werden dürfen regelt die Verordnung nicht.

Für die rechtliche Beurteilung dieser Ausnahmeregeln ist die Frage entscheidend, inwieweit Menschen nach vollständiger Impfung oder überstandener Erkrankung selbst vor einer Erkrankung geschützt sind und auch das Virus nicht auf Dritte übertragen können. Virolog*innen und auch das Robert-Koch-Institut gehen nach derzeitigem Erkenntnisstand davon aus, dass geimpfte Menschen mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit selbst erkranken und auch deutlich weniger ansteckend für andere Menschen sind (vgl. die FAQ des Robert-Koch-Instituts zur Wirksamkeit und Sicherheit der Impfstoffe). Dass Geimpfte andere anstecken, sei damit auch weniger wahrscheinlich als bei Personen mit einem negativen Antigenschnelltest. Sie gehen zudem ebenfalls davon aus, dass Menschen nach einer überstandenen Infektion mit COVID-19 für sechs bis acht Monaten mit deutlich geringerer Wahrscheinlichkeit selbst erkranken (vgl. S. 6 des Epidemiologischen Bulletins). Bei Geimpften und Genesenen bestehe damit ein deutlich geringeres Risiko, dass sie das Virus weiterhin übertragen können.

Diese Erkenntnisse sprechen dafür, dass die mit den derzeit geltenden Kontaktbeschränkungen und sonstigen Corona-Maßnahmen verbundenen Grundrechtseingriffe gegenüber Geimpften und Genesenen innerhalb bestimmter Zeiträume nicht mehr gerechtfertigt sind: Weil Geimpfte und Immune deutlich weniger gefährlich sind als andere Menschen, sprechen der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wie auch der Gleichheitssatz aus Artikel 3 Abs. 1 GG dafür, dass sie sogar anders behandelt werden müssen. Dass wiederum die Masken- und Abstandspflichten auch für Geimpfte und Immune weiterhin gelten entspricht einer Empfehlung der Ständigen Impfkommission des Robert-Koch-Instituts (STIKO) und hat damit zu tun, dass eine Übertragung bei Geimpften und Genesenen nicht völlig ausgeschlossen ist. Masken und Abstand haben sich als wirksames Mittel gegen die Verbreitung erwiesen und greifen eher geringfügig in die Allgemeine Handlungsfreiheit ein. Diese Differenzierung scheint daher rechtlich gut vertretbar.

A.9. Führt die unterschiedliche Behandlung von Geimpften und Genesenen nicht zu Diskriminierungen und verstärkt soziale Ungleichheit?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt geprüft am: 18.05.2021

Die Bundesregierung geht in ihren FAQ zur COVID-19-Impfung davon aus, dass bis zum Ende des Sommers allen Menschen in Deutschland die Möglichkeit einer Impfung eröffnet sein wird. Gerade in der Zeit bis dahin bringen Ausnahmeregelungen für immunisierte Menschen die besondere Gefahr von komplexen gesellschaftlichen „Nebenwirkungen“ mit sich. Insbesondere das grundrechtliche Diskriminierungsverbot und der Gleichbehandlungsgrundsatz (Artikel 3 Abs. 3 und Abs. 1 GG) verpflichten den Staat dazu, diese möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen bei der Ausgestaltung der Ausnahmen für immunisierte Menschen wie auch der Impfkampagne zu berücksichtigen (siehe bspw. die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats vom 22. September 2020 und die Ad-Hoc-Empfehlung vom 4. Februar 2021).

Zunächst ist wichtig, dass auch Nicht-Immune von den Erleichterungen für Geimpfte und Genese profitieren. Soweit diese bei Zusammenkünften von Personen nicht mehr hinzugezählt werden, können Nicht-Immune uneingeschränkt immunisierte Personen treffen, sodass auch für sie mehr soziale Teilhabe möglich ist.

Jedoch ist der Zugang zu Impfungen mit Barrieren verbunden, die soziale Ungleichheiten und bestehende Diskriminierungen aufzeigen oder verstärken. Der Sachstand über Verfügbarkeit, Wirksamkeit und Verträglichkeit von Impfstoffen und dementsprechend auch die Regeln im Zugang zum Impfstoff hat sich zuletzt schnell verändert. Leicht verständliche und auch mehrsprachige Informationsangebote dazu sind vielen Menschen nicht bekannt. Vielfach setzen Informationen über oder auch die Vereinbarung von Impf- oder Testterminen Vertrautheit im Umgang mit digitalen Medien voraus. Und für die Frage, ob ein Mensch auf die Impfempfehlungen vertraut, mag es einen entscheidenden Unterschied machen, ob diese Person grundsätzlich darauf vertrauen (darf), dass staatliche Institutionen ihre Belange und Interessen im Fokus haben. Das führt dazu, dass ein Zusammenhang zwischen Faktoren wie sozialem und ökonomischem Status, dem Vorliegen psychosozialer wie sonstiger Behinderungen und einer Migrationsgeschichte und der Frage bestehen mag, ob Menschen frühzeitig geimpft wurden oder werden. Im weiteren Verlauf der Impfkampagne sollte deshalb diese Barrieren beim Zugang zu Informationen und Impfterminen genau in den Blick genommen werden (hierzu auch der Bericht im Deutschen Ärzteblatt und bei RP-Online).

Die größtenteils sinnvolle Impfpriorisierung (s. hier), nach der bestimmte Gruppen bevorzugt Zugang zu Impfungen haben, führt nicht in allen Bereichen zu gerecht erscheinenden Ergebnissen. Es ist beispielsweise schwer nachvollziehbar, dass Kassierer*innen und Mitarbeitende im Einzelhandel (abgesehen vom Lebensmitteleinzelhandel) trotz hohem Infektionsrisiko keinen vorrangigen Anspruch auf Impfungen haben, vielfach im Home-Office arbeitende Anwält*innen hingegen schon.

Andererseits muss die Frage des mitunter problematischen Zugangs zu Impfungen strikt getrennt werden von den rechtlichen Folgen einer Immunisierung: Zwar ist der Staat gehalten, den Impfzugang diskriminierungsfrei und sozial gerecht zu gestalten. Grundrechtseinschränkende Corona-Maßnahmen gegenüber Immunisierten lassen sich mit einer etwaigen Diskriminierung Dritter beim Impfzugang aber nicht rechtfertigen. Denn der Impfzugang liegt im Verantwortungsbereich des Staates, nicht aber der Menschen, die bereits geimpft wurden. Verfassungsrechtlich betrachtet lassen sich Kontaktbeschränkungen oder Quarantäneanordnungen mit der Bekämpfung der Pandemie begründen, aber nicht mit der Erwägung, dass andere Menschen noch nicht geimpft worden seien. Denn die aus einer vollständigen Impfung resultierende sehr unterschiedliche Gefährlichkeit ist ein zwingender Grund für eine unterschiedliche Behandlung dieser Gruppen (s.o.).

Zumindest solange nicht alle Menschen sich impfen lassen konnten, muss hierauf aber auch beim Zugang zu staatlichen Leistungen und Angeboten Rücksicht genommen werden. So kann aus dem Gleichbehandlungsgebot folgen, dass der Staat den Zugang nicht ausschließlich an den Nachweis einer Immunität knüpfen darf. Keineswegs darf es von der Immunität einer Person abhängen, ob sie einen Termin bei Ämtern für wesentliche Leistungen bekommt. Für die Öffnung kommunaler Einrichtungen wie Bibliotheken oder Schwimmbäder kann das bedeuten, das Menschen entweder mit einen Immunitätsnachweis auch mit einem negativen Corona-Schnelltest eingelassen werden.

A.10. Können Private den Zugang zu ihren Dienstleistungen von dem Nachweis einer Immunität abhängig machen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt geprüft am: 18.05.2021

Neben der Differenzierung zwischen immunen und nicht-immunen Personen durch den Staat kommt eine Differenzierung auch durch privaten Dienstleister*innen in Betracht. So hat beispielsweise der Konzertveranstalter Eventim angedeutet, einen Impfnachweis als Voraussetzung für den Kauf von Veranstaltungstickets zu machen. Da private Unternehmen nicht direkt an Grundrechte gebunden sind, können sie zunächst einmal frei entscheiden, mit wem sie Verträge schließen oder wem sie Zugang zu ihren Einrichtungen gewähren. Betreiber*innen von Restaurants oder Konzertveranstalter*innen dürften daher entscheiden, ihre Dienstleistungen nur für Geimpfte oder Immune anzubieten.

Eingeschränkt werden sie jedoch durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, dass unter anderem eine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen verbietet: Der Ausschluss von Menschen, die sich aufgrund eines Merkmals der Behinderung nicht impfen lassen können, steht dazu im Widerspruch.

A.11. Bedeuten die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, dass friedlicher Protest, politische Meinungsäußerungen auf der Straße und Demonstrationen generell verboten werden können?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Wir haben die Folgen der Corona-Maßnahmen für die Versammlungsfreiheit, die bestehenden Regelungen, den Umgang der Behörden mit Demonstrationen und die bisherige Rechtsprechung als Teil unseres Monitoring-Projekts “Corona und Civic Space in Deutschland” ausführlich analysiert.

Anfangs waren sich mit Blick auf größere Demonstrationen wie die Ostermärsche wohl alle einig: Ein Verbot wäre wegen des damals nicht bestimmbaren Infektionsrisikos verhältnismäßig gewesen. Doch schon damals wurde mit kleineren Aktionen, bei denen die Teilnehmenden großen Abstand wahrten, Masken trugen oder sogar nur Schuhe abstellten, reagierten Behörden und Gerichte differenzierter.

Behörden und Gerichte verstanden die anfänglichen Corona-Eindämmungsmaßnahmen der Bundesländer überwiegend als generelles Versammlungsverbot – auch, wenn bei einer Versammlung die ansonsten geltenden Kontaktbeschränkungen eingehalten wurden. So hielt es zum Beispiel das Verwaltungsgericht Neustadt für rechtmäßig, eine Demonstration von zwei Personen zu untersagen, die Schutzmasken trugen und das Abstandsgebot einhielten. Auch andere Gerichte hielten Versammlungsverbote für rechtmäßig, ganz ohne oder mit sehr verkürzter Abwägung der entgegenstehenden Interessen. An einem Sonntag im April löste die Polizei an mehreren Orten Demonstrationen des Bündnisses #LeaveNoOneBehind auf, die in Form von „individuellen Spaziergängen“ durchgeführt werden sollten.

Anderenorts erlaubten Behörden Versammlungen hingegen unter Auflagen. In Münster ließt die zuständige Behörde nach Einreichung eines Eilantrages bei Gericht eine Mahnwache gegen einen unmittelbar bevorstehenden Uranmülltransport von Gronau nach Russland unter Auflagen letztlich zu.

Auch wenn sich aktuell viele einig sind, dass Versammlungsverbote wegen der Infektionsrisiken gerechtfertigt sind: Aus der Verfassung ergeben sich sehr strenge Regeln für Versammlungsverbote, die teilweise missachtet wurden. Nachdem das Infektionsgeschehen über den Sommer 2020 zurückging, entspannte sich auch die Situation für die Versammlungsfreiheit; auch bot das Gelegenheit, die praktische Durchführbarkeit von Gesundheitsschutzkonzepten zu testen, und bot der Polizei den Spielraum, Versammlungen trotz einzelner Verstöße nicht sofort aufzulösen.

Es bleibt abzuwarten, wie die Verwaltung mit Versammlungen im Winter 2020/21 umgehen wird. Nach allem, was inzwischen über Infektionsrisiken bekannt ist, spricht viel dafür, Versammlungen im Freien unter entsprechenden Auflagen auch dann noch zuzulassen, wenn sich das Infektionsgeschehen zuspitzt. Denn die Versammlungsfreiheit ist ein hohes Gut, gerade in Zeiten radikaler Freiheitsbeschränkungen. Selbst wenn es der Verbreitung politisch unliebsamer Meinungen dient.

A.12. Dürfen Mobilfunkanbieter einfach so Handydaten an das Robert Koch-Institut weitergeben?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Die Deutsche Telekom AG hatte im Frühjahr 2020 dem Robert Koch-Institut (RKI) Telekommunikationsverkehrsdaten übermittelt, mit denen Bewegungsströme von Handynutzer*innen nachvollzogen werden können. Dies hat das Unternehmen freiwillig getan, um das RKI bei der Eindämmung der Pandemie zu unterstützen. Die Daten sollten neue Erkenntnisse zur Ausbreitung des Virus liefern und so eine effizientere Eindämmung ermöglichen. Mit Blick auf den Datenschutz wirft dieser Vorgang einige Fragen auf.

Wie die Datenübermittlung rechtlich zu beurteilen ist, hängt ganz zentral von einer Vorfrage ab: Wurden vollständig anonymisierte Daten übermittelt oder nicht? Wären die Daten nicht vollumfassend anonymisiert, wären sie personenbezogen. Dann wären die betroffenen Handynutzer*innen durch das im Grundgesetz (Artikel 2 Absatz 1 i.V.m. Artikel 1 Absatz 1) und in der Europäischen Grundrechtecharta (Artikel 8 Absatz 1) verankerte Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt und es gälten die besonderen Voraussetzungen der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Auf anonymisierte Informationen ist die DSGVO hingegen nicht anwendbar (Erwägungsgrund Nr. 26 Satz 5 DSGVO). Ihre Übermittlung wäre erlaubt.

Was aber gälte im „worst case“, wenn die Telekom nicht vollständig anonymisierte Bewegungsdaten übermittelt und die DSGVO hätte berücksichtigen müssen? Dann wäre die Übermittlung der Bewegungsdaten von der Telekom an das RKI eine Datenverarbeitung i.S.v. Artikel 4 Nr. 2 DSGVO, für die es einen in Artikel 6 DSGVO aufgeführten Grund geben müsste. Ein solcher ist jedoch nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es im Infektionsschutzgesetz keine Rechtsgrundlage, die private Unternehmen dazu verpflichten würde, zur Seuchenbekämpfung personenbezogene Bewegungsdaten zur Verfügung zu stellen (rechtliche Verpflichtung i.S.v. Artikel 6 Absatz 1 c) DSGVO). Außerdem liegt ein Verstoß gegen das Prinzip der sogenannten „Zweckbindung“ der Datenverarbeitung vor (Artikel 5 Absatz 1 b) DSGVO): Der Zweck der Übermittlung an das RKI, nämlich die Vorbeugung von Infektionen, deckt sich nicht mit dem Zweck der ursprünglichen Erhebung der Handydaten, nämlich die Abwicklung des Vertragsverhältnisses mit der Telekom. Auch für Verstöße gegen das Prinzip der Zweckbindung gibt es Rechtfertigungen, wenn Gesetze diese zum Schutze der öffentlichen Sicherheit vorsehen (Artikel 6 Absatz 4, Artikel 23 Absatz 1 DSGVO). Das Infektionsschutzgesetz sieht dies jedoch nicht vor.

Sind die übermittelten Daten also personenbezogen, oder sind sie vollständig anonymisiert? Hierzu gibt es widersprüchliche Indizien. Eine Telekom-Sprecherin versicherte dem Tagesspiegel, dass die Daten vollständig anonymisiert seien. Die kleinste Einheit eines Datensatzes enthalte bereits mindestens die kombinierten Daten von 30 Nutzer*innen, sodass individuelle Rückschlüsse unmöglich seien. Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte teilt die Auffassung, dass es sich, anders als etwa bei einer ähnlichen Praxis in Österreich, um Daten handele, die keinen Rückschluss auf einzelne Personen erlaubten. Ob sich bei Bewegungsdaten dieser Art eine vollständige und zuverlässige Anonymisierung überhaupt umsetzen lässt, wird unter Wissenschaftler*innen jedoch in Frage gestellt. Auch wird oft unterschätzt, dass heute anonym geglaubte Daten später durch neue Methoden re-personalisiert werden können, weshalb auch die Übermittlung anonymisierter Daten mit einer Löschfrist versehen werden sollte. Insbesondere bleibt die Re-Personalisierung durch einen Abgleich möglich, wenn – wie hier bei der Telekom – die weiterleitende Stelle den Rohdatensatz behält. Hier bedarf es besserer gesetzlicher Schutzvorschriften, die die stetig fortschreitenden Möglichkeiten der Datenverarbeitung reflektieren.

Es ist ohne eine wissenschaftlich und datenschutzrechtlich fundierte Analyse der übermittelten Datensätze kaum möglich, abschließend zu beurteilen, ob die Datensätze tatsächlich zuverlässig anonymisiert sind. Sollte dies nicht der Fall sein, ist die Übertragung gegenwärtig datenschutzrechtlich wohl unzulässig. Damit ist die Übertragung auf tatsächlicher und rechtlicher Ebene mit Rechtsunsicherheit belastet.

Eingriffe in Grundrechte müssen jedoch – auch in besonderen Gefahrenlagen – immer verhältnismäßig sein und auf einer tauglichen Rechtsgrundlage basieren. Sollte der Gesetzgeber die Auswertung von Bewegungsdaten für notwendig und hilfreich befinden, sollte er deshalb eine – verhältnismäßige – Rechtsgrundlage schaffen. Das würde eine rechtsstaatlich angemessene Rechtskontrolle ermöglichen. Es sind derzeit weiterhin viele offene Fragen im Zusammenhang mit der Datenübermittlung im Raum und es wäre sinnvoll sowohl den Bundesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BfDI) als auch wissenschaftliche Expertise vorab in ein solches Vorgehen einzubeziehen, um ausreichenden Datenschutz zu gewährleisten.

A.13. Dürfte die Bundesregierung Bewegungsprofile aus Handydaten sammeln, um Kontaktpersonen von Infizierten zu identifizieren?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Im Zuge der Corona-Pandemie überschlugen sich im Frühjahr 2020 die Vorschläge dazu, wie die Krankheit am besten eingedämmt werden könnte. In der Debatte wurde auch vor massiven Einschränkungen der informationellen Selbstbestimmung nicht Halt gemacht. Manche Kommentator*innen wollten die Infektionsgefahr mittels neuer Überwachungstechnologien eindämmen. So wurde an verschiedenen Stellen erwogen, Telekommunikationsdienste-Anbieter wie die Deutsche Telekom AG zu verpflichten, die Bewegungsdaten ihrer Handynutzer*innen zu übermitteln. Aus diesen Bewegungsprofilen könne man dann ermitteln, mit welchen Personen Corona-Infizierte Kontakt hatten.

Dürfte die Bundesregierung die Anbieter dazu verpflichten? In der gegenwärtigen Gesetzeslage ist die Antwort hierauf ganz klar: Nein.

De facto hat die Deutsche Telekom AG dem Robert-Koch-Institut bereits Daten übermittelt, aber dieser Vorgang ist anders gelagert: Erstens handelte die Telekom freiwillig und nicht unter Zwang. Zweitens geben institutionelle Stellen an, es seien anonymisierte Daten übermittelt worden, beim oben genannten Vorschlag wären sie hingegen vollständig personalisiert. Damit griffe der Staat bei dieser Maßnahme in die Berufsfreiheit (Artikel 12 Absatz 1 Satz 1 GG) der Telekommunikationsunternehmen und vor allem in ganz erheblichem Maße in die informationelle Selbstbestimmung (Artikel 2 Absatz 1 i.V.m. Artikel 1 Absatz 1 GG und Artikel 8 Absatz 1 Europäische Grundrechtecharta) der Handynutzer*innen ein. Für einen so schwerwiegenden Eingriff bedürfte die Bundesregierung einer klar bestimmten Gesetzesgrundlage. Die gibt es nicht.

Könnte der Gesetzgeber also eine solche Gesetzesgrundlage schaffen, wenn er wollte? Wir meinen: Nein.

Ein solches Gesetz wäre aus unserer Sicht verfassungsrechtlich sehr bedenklich. Gerade ein so intensiver Eingriff in die Grundrechte der Bürger*innen müsste dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Das Gesetz würde aber wohl schon die niedrigste Hürde dieses Maßstabs reißen: die Geeignetheit. Wenn Gesetze zur Abwehr einer öffentlichen Gefahr in Grundrechte eingreifen, müssen diese zunächst einmal überhaupt dazu geeignet sein, dieser Gefahr entgegenzuwirken. Wie Funkzellendaten aber dazu beitragen sollen, die – natürlich real existierende und erhebliche – Corona-Infektionsgefahr einzudämmen, erschließt sich uns nicht.

Funkzellendaten werden abgefragt, indem Sendemasten angefunkt werden. Diese liefern zwar Informationen darüber, welche Nutzer*innen sich zu welcher Zeit im jeweiligen Sendebereich befunden haben. Dieser Sendebereich umfasst aber in der Regel eine Fläche von mehreren hundert Quadratmetern und erfasst damit im Zweifel tausende Personen. In ländlichen Regionen werden manchmal auch sogenannte Rundstrahler verwendet, sodass nur Rückschlüsse darüber gezogen werden können, dass sich jemand in einem Kreis von mehreren Kilometern rund um den Mast befunden hat. Es ist somit nicht ersichtlich, wie aus diesen grobkörnigen Wimmelbildern zuverlässige Informationen über individuelle Bewegungsprofile gezogen werden können. Jedenfalls stünde der Informationsgewinn für die Gesundheitsbehörden in keinem Verhältnis zu der Schwere des Eingriffs.

Eine entsprechende Gesetzesgrundlage wäre vor diesem Hintergrund unverhältnismäßig, würde die Grundrechte der Telekommunikationsunternehmen und Nutzer*innen verletzen und wäre verfassungswidrig.

Protest - Gemeinsam für die Grundrechte

Freedom needs fighters

Gemeinsam für die Grundrechte vor Gericht

A.14. Wie ist eine “Corona-App” zur Identifikation von Hochrisikokontakten aus datenschutzrechtlicher Sicht zu bewerten?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

In den Frühlingsmonaten dieses Jahres wurde intensiv über eine „Corona-App“ diskutiert, die effektives „Contact Tracing“ und Datenschutz miteinander in Einklang bringen sollte. Darüber, dass eine Contact Tracing App möglicherweise einen Beitrag zum Infektionsschutz leisten könnte, bestand weitgehend Einigkeit. Gerungen wurde jedoch über ihre technische Umsetzung:

Der zentrale Streitpunkt war die Frage, ob der Abgleich möglicher Treffer zentral oder dezentral erfolgen soll. Zunächst unterstützte die Bundesregierung mit dem App-Standard PEPP-PT (kurz für Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing) eine Lösung, bei der sowohl die Nutzer-ID des Infizierten als auch die IDs seiner Kontakte über einen zentral verwalteten Server abgeglichen werden. Das Softwareentwickler*innen-Konsortium, das ursprünglich von zahlreichen Forschungsinstitutionen begründet wurde, hatte sich den höchstmöglichen Standards für Datenschutz und Datensicherheit verschrieben. Aus diesem Grund hielten wir den Ansatz grundsätzlich für vielversprechend, ohne ihn zu unterstützen. Zwischenzeitlich zeichnete sich jedoch ab, dass der PEPP-PT-Ansatz in der konkreten Ausgestaltung für Deutschland mehr Daten verarbeitet als notwendig.

Um diesen datenschutzrechtlichen Bedenken zu begegnen, gab die Bundesregierung am 25. April 2020 bekannt, dass sie nun doch ein dezentrales Modell vorantreibe. Bei der dezentralen Variante veröffentlicht eine infizierte Person die eigenen IDs. Ein Abgleich mit den IDs ihrer Kontaktpersonen findet lokal auf den jeweiligen Smartphones statt.

Die von SAP und der Deutschen Telekom für die Bundesregierung entwickelte „Corona-Warn-App“ wurde dann am 16. Juni 2020 veröffentlicht. Gleichzeitig machte die Bundesregierung den App-Quellcode der Öffentlichkeit hier zugänglich. Der Quellcode wurde von zahlreichen IT-Expert*innen untersucht. Die Expert*innen waren sich weitestgehend einig, dass die App keine erheblichen IT-Sicherheits- oder Datenschutzrisiken birgt.

Die App basiert auf der „Bluetooth Low Energy“-Technologie. Denn die zuverlässige Reichweite des Bluetooth-Signals deckt sich in etwa mit dem, was Virolog*innen in Bezug auf die Corona-Infektionsgefahr als „Hochrisikokontakte“ bezeichnen – 1,5 bis zwei Meter physische Nähe über einen gewissen zeitlichen Abstand.

Um solche Kontakte im Nachhinein erkennen und Kontaktpersonen warnen zu können sollen „Corona-Apps“ regelmäßig eine pseudonyme Kennung (ID) aussenden. Andere App-Installationen in unmittelbarer Nähe können diese IDs empfangen und so Listen aller Smartphones anlegen, die der Bluetooth-Sensor erfassen konnte.

Wenn Nutzer*innen der App positiv auf Corona getestet werden, können andere Nutzer*innen, die sich im Nahbereich aufgehalten haben, darüber informiert werden, dass sie sich möglicherweise mit Corona infiziert haben. Außerdem könnten die betroffenen Personen aufgefordert werden, sich testen zu lassen und/oder sich in Quarantäne zu begeben bzw. beim Gesundheitsamt zu melden. Der Staat selbst hat keine Möglichkeit, jene Personen zu identifizieren, deren App eine Warnung ausspricht.

Der Download und die Installation der App sind freiwillig. Mit dem Launch der App wurde eine umfangreiche Datenschutz-Folgeabschätzung veröffentlicht. Die datenschutzrechtliche Rechtsgrundlage für die Übertragungen und Verarbeitungen personenbezogener Daten, die mit dem Einsatz der App einhergehen, liegt laut der Folgenabschätzung (vgl. S. 65) in der Einwilligung der Nutzer*innen (Art. 4 Nr. 7 DSGVO, Art. 6 Abs. 1 S. 1 lit. a DSGVO). Diese Rechtsgrundlage würde jedenfalls dann an ihre Grenzen stoßen, wenn der Einsatz der App durch mittelbare Zwänge, wie z.B. steuer-, versicherungs- oder arbeitsrechtliche Sanktionen, faktisch verpflichtend würde. Es bleibt aus datenschutzrechtlicher Perspektive also abzuwarten, ob im Zuge der „zweiten Welle“ entsprechende Pläne verlautbart werden.

A.15. Dürfen die Gesundheitsämter einfach so Daten über Corona-Infizierte an andere Behörden, z.B. die Polizei, weiterleiten?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Manche Gesundheitsämter in Baden-Württemberg stellten der Polizei im Frühjahr 2020 laut SWR-Berichten Listen mit Personen zur Verfügung, die positiv auf Corona getestet worden waren. So könne die Polizei vor akut notwendigen Einsätzen, wie beispielsweise bei Verkehrsunfällen, konkrete Schutzmaßnahmen ergreifen, um involvierte Beamt*innen zu schützen und Infektionsgefahren einzudämmen. Dieses vom Landesinnenministerium gestützte Vorgehen kritisierten daraufhin das Landessozialministerium und der Landesdatenschutzbeauftragten, Stefan Brink, als rechtswidrig. (Hinweis: Diese Praxis wurde inzwischen abgestellt und durch ein rechtsförmiges Verfahren ersetzt, s. dazu den letzten Absatz dieses Abschnitts).

Dieser Auffassung schließen wir uns an. Gesundheitsdaten gehören zu den sensibelsten unter den personenbezogenen Daten. Dies rührt daher, dass mit einer ansteckenden Krankheit (mutmaßlich) infizierte Menschen oftmals gesellschaftlich stigmatisiert werden. Dies zeigte sich auch daran, dass asiatisch gelesene Menschen zu Beginn des Corona-Ausbruchs in Deutschland davon berichteten, dass sie verstärkt angefeindet wurden. Entsprechend enthält die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) besonders hohe Anforderungen an Rechtfertigungen für die Verarbeitung solch besonders sensibler (Gesundheits-) Daten (Artikel 9 Absatz 2). Die DSGVO erlaubt zwar die Verarbeitung von Gesundheitsdaten, wenn dies zum Schutz der öffentlichen Gesundheit notwendig ist (Artikel 9 Absatz 2 lit.). Eine solche Verarbeitung setzt jedoch eine klar bestimmte Rechtsgrundlage voraus, die es – insbesondere im Infektionsschutzgesetz – nicht gibt.

Nur eine genau auf die gewünschte Datenübermittelung zugeschnittene Rechtsgrundlage kann ein angemessenes Datenschutzniveau gewährleisten. Gerade, weil Gesundheitsdaten so sensibel sind, müsste diese Rechtsgrundlage Verhältnismäßigkeit im Einzelfall herstellen und rechtsstaatliche Garantien und Schutzmaßnahmen absichern. Eine solche Grundlage müsste Bestimmungen zur Datensicherheit (Artikel 32 DSGVO), den Rechten von Betroffenen (Artikel 12 ff. DSGVO), dem Prinzip der Zweckbindung der Datenverarbeitung (Artikel 5 Absatz 1 b) DSGVO), sowie Lösch- und Kontrollpflichten (Artikel 16 und 51 DSGVO) gewährleisten.

Außerdem hätte die Übermittlung von Gesundheitsdaten nur, wenn sie auf einem Gesetz basierte, eine demokratisch legitimierte und nachvollziehbare Grundlage. Nur so wäre abgesichert, dass verschiedene Behörden vorhersehbar und gleichförmig handeln. Bis zu einer Neuregelung am 5. Mai 2020 schienen die baden-württembergischen Behörden hingegen völlig inkonsistent vorzugehen: Während in Böblingen auch Daten dazu übermittelt werden, ob eine positiv getestete Person wieder genesen ist, ist dies in Stuttgart und Karlsruhe nicht der Fall – und Tübingen übermittelt gar nichts. Ein solch konfuses Vorgehen schafft Unsicherheit und schürt Misstrauen in den Rechtsstaat.

Wäre es denkbar, eine Rechtsgrundlage für die Weitergabe von Gesundheitsdaten an Behörden zu schaffen? Wie Stefan Brink, der Landesdatenschutzbeauftragte, sagte: Im Einzelfall und insbesondere bei Anhaltspunkten für eine Erkrankung kann es rechtlich möglich sein, dass die Polizei Gesundheitsdaten bei den Gesundheitsämtern anfordert. Der Schutz von Polizeibeamt*innen und die Eindämmung der Infektionsgefahr stellen legitime Ziele einer Datenverarbeitung dar. Wie so oft käme es aber auf die Verhältnismäßigkeit im Einzelfall an. Wenn im Einzelfall – etwa aufgrund der Umstände des bevorstehenden Einsatzes – der begründete Verdacht einer Infektionsgefahr besteht, so könnte eine Rechtsgrundlage vorsehen, dass die Polizei dann entsprechende Einzeldaten anfragt. Dies wäre beispielsweise denkbar, wenn vor einem konkreten Einsatz absehbar ist, dass Polizeibeamt*innen sogenannte „Hochrisikokontakte“ – also mehr als 15 Minuten physische Nähe mit weniger als 1,5 Meter Abstand – mit Bürger*innen eingehen müssen, beispielsweise bei Ingewahrsamnahmen oder Rettungsmaßnahmen. Aber: Die Polizei darf nicht „auf Vorrat“ und einsatzunabhängig Listen von COVID-19-Kranken erhalten. Ein undifferenziertes, massenhaftes Übermitteln von ungeschützten Gesundheitsdaten bar jedweder Verhältnismäßigkeit und Einzelfall-Evidenz, wie es zunächst praktiziert wurde, wäre so oder so verfassungswidrig.

Mittlerweile hat die baden-württembergische Landesregierung eine neue Rechtsverordnung erlassen, die die Übermittlung der Daten von Infizierten regelt. Sie hält die im vorstehenden Absatz formulierten Bedingungen ein. Problematisch ist allerdings, dass diese Rechtsverordnung – anders als ein Gesetz – nicht vom Parlament debattiert und verabschiedet wurde. Die Neuregelung schützt jedoch die Gesundheitsdaten der Betroffenen deutlich besser als der vorherige Wildwuchs.

A.16. Dürfen die Bundesländer die Nutzung des Zweitwohnsitzes verbieten?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Viele Menschen flüchteten und flüchten wieder aus den Großstädten an ihren Zweitwohnsitz auf dem Land, um sich dort vor dem Virus zu schützen. In vielen Bundesländern war das zeitweilig kaum noch möglich. In Schleswig-Holstein erließen viele Landkreise, unter anderem Ostholstein und Nordfriesland, (sofort vollziehbare) Allgemeinverfügungen, die eine Nutzung des Zweitwohnsitzes vorrübergehend verbaten. Auch der Landkreis Ostprignitz-Ruppin in Brandenburg und der Landkreis Waldeck-Frankenberg in Hessen untersagten private Reisen an den Zweitwohnsitz per Allgemeinverfügung, ebenso Mecklenburg-Vorpommern. Ab dem 1. Mai durften dann Dauercamper und Besitzer von Zweitwohnung wieder in das Urlaubsland reisen.

Eine Beschränkung touristischer Reisen ist rechtlich problematisch. Zwar könnte man meinen, dass sich das Corona-Virus umso weniger verbreitet, je weniger Menschen verreisen. Eine Beschränkung touristischer Reisen könnte dann dazu beitragen, eine Überlastung der Krankenhauskapazitäten in ländlichen Regionen zu verhindern. Das lässt sich aber so pauschal nicht begründen. Und in der konkreten Ausgestaltung müssen die betroffenen Bundesländer mindestens Raum für Einzelfallabwägungen lassen. Ausnahmen kommen beispielsweise für Menschen mit Vorerkrankungen in Betracht, die sich an ihrem Zweitwohnsitz besser schützen können oder auch für die Pflege von nahen Angehörigen. Wenig nachvollziehbar ist zudem die Ausweisung von Menschen, die sich schon vor dem Verbot in ihre Ferienhäuser zurückgezogen hatten. Eine Rückkehr an ihren Erstwohnsitz wäre in solchen Fällen nicht geeignet, eine weitere Verbreitung des Virus zu verhindern. Im Gegenteil: Durch den Ortswechsel wären die Betroffenen und ihr Umfeld einer erhöhten Infektionsgefahr ausgesetzt. Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht hielt die Ausweisungen jedoch auch in diesen Fällen für rechtmäßig und verwies auf die begrenzten Krankenhauskapazitäten.

Mittlerweile hat die Landesregierung in Schleswig-Holstein eingelenkt und am 23. März 2020 verschiedene Ausnahmen beschlossen, unter anderem auch für Menschen, die sich bereits an ihrem Zweitwohnsitz befinden. Auch der Landkreis Ostprignitz-Ruppin in Brandenburg hat nachgebessert und mit einer zweiten Allgemeinverfügung am 27. März 2020 eine Reihe von Ausnahmen ergänzt. Das Verwaltungsgericht Potsdam hielt die Allgemeinverfügung dennoch für unverhältnismäßig und gab am 31. März dem Eilantrag von zwei Berlinern statt. Ein Zusammenbruch des Gesundheitssystems des Landkreises sei nicht absehbar und ein Verbot von Reisen an den Zweitwohnsitz daher nicht erforderlich.

In Mecklenburg-Vorpommern scheiterte der Versuch, die Regeln über die Osterfeiertage auch für Einheimische zu verschärfen. Das Oberverwaltungsgericht in Greifswald hielt das Verbot von Tagesausflügen zu beliebten Badeorten an der Küste oder in die Seenplatte für unverhältnismäßig. Am 9. April setzte das Gericht den erst am Vortag neu eingefügten § 4a der SARS-CoV-2 Bekämpfungsverordnung M-V im Eilverfahren außer Vollzug. Das Gericht verwies unter anderem darauf, dass an den Stränden ausreichend Platz sei, um die Abstandsregeln einzuhalten. Im Herbst 2020/21 scheinen die Bundesländer Menschen mit Zweitwohnsitz von etwaigen Reisebeschränkungen auszunehmen

A.17. Kann der Staat in Notfallsituationen Menschen zu Zwangsdiensten verpflichten?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Im Frühjahr 2020 konnte man in Italien sehen, dass die Corona-Epidemie zentrale staatliche und gesellschaftliche Infrastrukturen – allen voran das Gesundheitssystem – lahmlegen kann. Das wirft die Frage auf, ob und inwieweit der Staat Einzelne dazu verpflichten kann, zu helfen – zum Beispiel, um Personallücken in Krankenhäusern oder Supermärkten zu schließen. Einige Bundesländer haben entsprechende Gesetze verabschiedet.

Was sagt das Grundgesetz zu Zwangsdiensten?

Das Grundgesetz erlaubt es nur in sehr engen Grenzen, Menschen zu Diensten zu verpflichten. Dies hat unter anderem historische Gründe: Zwangsarbeit im Rahmen der sogenannten „Vernichtung durch Arbeit“ war eines der bewährten Mittel des NS-Regimes, um Menschen systematisch herabzuwürdigen, zu unterdrücken und zu ermorden. Deshalb verbietet das Grundgesetz jede Form der Zwangsarbeit, also die gegenständlich unbegrenzte Inanspruchnahme der gesamten Arbeitskraft einzelner Menschen gegen ihren Willen – jenseits gerichtlich angeordneter Freiheitsentziehungen – absolut und ohne Rechtfertigungsmöglichkeit (Artikel 12 Absatz 3 GG).

Davon zu unterscheiden sind sogenannte herkömmliche allgemeine und für alle gleiche Dienstleistungspflichten, etwa Feuerwehr- oder Deichschutzpflichten (Artikel 12 Absatz 2 GG). Der Staat kann danach Einzelne dazu verpflichten, im Dienste der Allgemeinheit eng definierte und zeitlich begrenzte Leistungen zu erbringen, solange er keine diskriminierenden oder schikanösen Auswahlkriterien verwendet und plausibel begründen kann, warum die Leistung notwendig ist.

Eben weil die – abstrakt in Gesetzen ermöglichte – Dienstverpflichtung „allgemein“ sein muss, ist es auch problematisch, wenn Gesetzgeber die Dienstverpflichtung nur für bestimmte gesellschaftliche Gruppen vorsehen. Aus diesem Grund wurden die Bundesländer Bayern und NRW zu Recht dafür kritisiert, dass sie in ihrem Landes-Infektionsschutzgesetz (Bayern) bzw. dem entsprechenden Gesetzesentwurf (NRW) Dienstverpflichtungen nur für medizinisches Personal vorsehen. Unter anderem aufgrund des berechtigten zivilgesellschaftlichen Drucks wurde die selektive Dienstverpflichtung im mittlerweile verabschiedeten NRW-Landesgesetz durch ein verfassungsrechtlich unbedenkliches Freiwilligenverzeichnis ersetzt.

Dass das notwendig war, sieht auch der wissenschaftliche Dienst des Bundestages so: In einem Gutachten, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt, vertraten die Jurist*innen des Bundestages die Auffassung, dass eine Dienstpflicht, die schon von Gesetzes wegen nur medizinisch ausgebildetes Personal trifft, nicht „allgemein“ und darüber hinaus auch nicht „herkömmlich“ im Sinne des Art. 12 Abs. 2 GG sein kann.

Was heißt das also für die Corona-Epidemie?

Das bedeutet, dass Bundesländer in abstrakten Gesetzen, unter der Voraussetzung einer konkret vorliegenden Mangelsituation die Heranziehung einzelner Menschen zum Dienst vorsehen können. Dabei darf die abstrakte Rechtsgrundlage nicht auf die Heranziehung einzelner Personengruppen – wie z.B. medizinisches Personal – begrenzt sein. Im Einzelfall treffen dann die lokalen Verwaltungsbehörden die Entscheidung, ob und welche Personen sie zum Dienst heranziehen. Dies wird nur bei konkret begründbaren Mangelsituationen möglich sein. Die Behörden haben dann einen Ermessensspielraum, welche Menschen sie zum Dienst heranziehen. Taugliche Ermessensgründe können Fachqualifikationen von Einzelpersonen oder die Verfügbarkeit von wichtigen Ressourcen sein.

Demnach können bei konkreten Mangelsituationen im Gesundheitssystem qualifizierte Ärzt*innen oder Pfleger*innen aus anderen Bereichen abgezogen und verpflichtet werden, an der Bewältigung der Epidemie mitzuwirken. Lebensmittelbetriebe könnten angewiesen werden, bei der Verpflegung dieses Hilfspersonals mitzuwirken. Eher nicht denkbar, weil ungeeignet und daher auch unverhältnismäßig, wäre es, „zufällig ausgewählte“ Privatpersonen zur Lösung von Aufgaben zu verpflichten, für die sie nicht ausgebildet sind.

Aber: Auch hier gelten im Einzelfall stets strenge Verhältnismäßigkeitsanforderungen. Bevor der Staat Menschen zu Diensten verpflichten darf, muss er in jedem einzelnen Fall alle ihm zu Verfügung stehenden eigenen Ressourcen aufwenden und versuchen, die Aufgaben selbst zu lösen. In manchen Landesgesetze ist dies auch explizit festgeschrieben. Der Staat muss also darlegen können, dass er einer konkreten Gefahr unter keinen Umständen selbst begegnen kann und diese Gefahr gleichzeitig so schwerwiegend und dringlich ist, dass sie die Rechte der in Anspruch genommenen Person überwiegt. Eine Gefahr, die derartig schwerwiegende Eingriffe rechtfertigt, wird in der Regel nur bei konkreten Gefahren für Leib und Leben vorliegen.

Wo sind derartige Dienstpflichten geregelt?

Bislang wurden Dienstpflichten nur für „Katastrophen“ geregelt. Für den Schutz vor Katastrophen und ihren Folgen sind die Bundesländer zuständig. Dementsprechend gibt es in Deutschland 16 Katastrophenschutzgesetze – eines in jedem Bundesland. Diese Gesetze enthalten typischerweise Rechtsgrundlagen dafür, Einzelne zur Katastrophenabwehr unter anderem zu Dienstleistungen zu verpflichten (beispielsweise in § 43 Absatz 1 KatSG Nordrhein-Westfalen, § 28 Absatz 1 KatSG Niedersachsen, § 8 Absatz 1 KatSG Berlin, Artikel 9 Absatz 1 Satz 1 KatSG Bayern). Damit diese „Katastrophenschutzpflichten“ ausgelöst werden können, ist zunächst – logischerweise – die Feststellung eines sogenannten „Katastrophenfalles“ notwendig.

Inzwischen sieht Bayern zudem in seinem Landesinfektionsschutzgesetz eine spezifische Dienstleistungspflicht für medizinisches Personal im Falle einer Pandemie vor. Voraussetzung dafür, dass eine Person zu einem Dienst herangezogen werden kann, ist danach ein „Gesundheitsnotstand“ (Artikel 1 Absatz 1 BayIfSG). Dieser Begriff ist ähnlich wie der Katastrophenfall definiert, nur speziell auf epidemische Katastrophen gemünzt. Der Grundsatz, dass Zwangsdienste nur bei einer – allgemeinen oder spezifisch epidemischen – Katastrophe möglich sind, bleibt also bestehen.

Liegen die Voraussetzungen für Zwangsdienste derzeit vor?

Weil Katastrophen vielfältig und in ihren Auswirkungen unvorhersehbar sind, sind sie auch juristisch nur vage definiert. Beispielsweise definiert das niedersächsische Katastrophenschutzgesetz den Katastrophenfall als „Notstand, bei dem Leben, Gesundheit, die lebenswichtige Versorgung der Bevölkerung, die Umwelt oder erhebliche Sachwerte in einem solchen Maße gefährdet oder beeinträchtigt sind, dass seine Bekämpfung durch die zuständigen Behörden und die notwendigen Einsatz- und Hilfskräfte eine zentrale Leitung erfordert“ (Artikel 1 Absatz 2 KatSG Niedersachsen).

Angesichts der exponentiellen Ausbreitung des Coronavirus im Frühjahr 2020 in ganz Deutschland, der rasch vierstelligen Zahl an Todesfällen (im Herbst 2020: fünfstellig) und des vielfach von Expert*innen bestätigten Potenzials, das ganze Gesundheitssystem lahmzulegen, konnte man wohl davon ausgehen, dass eine solche ungewöhnliche Gefahrensituation besteht. Den Katastrophenfall ausgerufen hatte jedoch nur ein Bundesland: Bayern, und zwar am 16. März 2020 (am 16. Juni 2020 endete der Katastrophenfall wieder). Deswegen konnten seinerzeit auch nur in Bayern Personen zu Zwangsdiensten herangezogen werden. Es ist nicht bekannt, dass es dazu gekommen ist. Bislang ist der Katastrophenfall nicht erneut ausgerufen worden. Ende Oktober kündigte jedoch der bayerische Ministerpräsident Söder seine erneute Ausrufung an.

Trotzdem bleibt es ein verfassungsrechtliches Problem, dass Katastrophenfälle so unscharf definiert sind. Zwangsdienste sind sehr schwerwiegende Grundrechtseingriffe. Eigentlich ist es tief im Rechtsstaat verankert, dass gerade die schwersten Grundrechtseingriffe an die am engsten definierten Rechtsbegriffe geknüpft sein müssen. Weil dies aufgrund der Unvorhersehbarkeit und Vielschichtigkeit von Katastrophenfällen nicht möglich sein mag, müssen Zwangsdienste zumindest rechtsstaatlich besonders stark legitimiert sein. Deshalb sollte nicht die Regierung entscheiden, ob eine Katastrophe vorliegt, sondern die am stärksten demokratisch legitimierten Institutionen unseres Rechtsstaats: die Parlamente.

Das grundsätzliche Vorliegen eines (epidemischen) Katastrophenfalls sagt jedoch wenig darüber aus, ob ein Zwangsdienst im Einzelfall verhältnismäßig ist – diese zweite zentrale Voraussetzung muss der Zwangsdienst erfüllen, um rechtmäßig zu sein. Damit etwa eine lokale Katastrophenschutzbehörde medizinisches Personal zwangsweise zur Mithilfe verpflichten kann, müsste das Personal des lokalen Krankenhauses akut überlastet sein. Nicht einmal im unübersichtlichen Frühjahr 2020 war ersichtlich, dass in Deutschland irgendwo derartige Mangelzustände herrschten: Der Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts zum 1.4.2020 zeigte, dass 8.196 von 18.598 registrierten Intensivbetten, also 44%, noch verfügbar waren. Von den 10.402 besetzten Intensivbetten, waren nur 1.876 durch Covid19-Patient*innen belegt. Davon, dass die staatseigenen Ressourcen zur Bewältigung der Krise nicht ausreichten, konnte also seinerzeit keine Rede sein. Zwangsdienst-Anordnungen wären daher unverhältnismäßig und deshalb rechtswidrig gewesen.

Wie wir alle in letzter Zeit erleben mussten, können sich die gesellschaftlichen Umstände jedoch sehr schnell sehr drastisch ändern – und damit auch die verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Dienstverpflichtungen. Wie sich die Epidemie in der Bundesrepublik in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln und wie stark das unser Gesundheitssystem be- oder überlasten wird, ist zurzeit kaum absehbar. Daher lässt sich kaum seriös prognostizieren, ob die Voraussetzungen für Dienstverpflichtungen zukünftig vorliegen werden. Sollten sie einmal vorliegen – was nicht zu hoffen ist – gelten jedoch zusätzliche Einschränkungen. Zum Beispiel kann niemand zu Leistungen gezwungen werden, durch die er*sie seine Gesundheit erheblich gefährden würde (§ 28 Absatz 2 KatSG Niedersachsen), und unter bestimmten Voraussetzungen ist der Staat auch zu Entschädigungen verpflichtet (bspw. in Artikel 14 KatSG Bayern).

Klar bleibt: Die Gewährleistung öffentlicher Sicherheit ist eine Aufgabe des Staates, nicht der Bürger*innen. Die Verpflichtung von Einzelnen, eigentlich öffentliche Aufgaben zu lösen, muss der absolute Ausnahmefall bleiben. Deshalb muss die Feststellung des Katastrophenfalles streng befristet sein.

A.18. Häusliche Quarantäne: Gegen wen und in welchem Umfang können und werden Quarantänemaßnahmen angeordnet? Wie ist dies mit den Grundrechten vereinbar?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Eine Quarantänemaßnahme ist eine behördliche Anordnung nach § 30 Absatz 1 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG), dass eine Person sich in einem Krankenhaus oder sonst in geeigneter Weise „abzusondern“ hat. „In sonst geeigneter Weise“ kann insbesondere auch die häusliche Absonderung in der eigenen Wohnung sein. Dies ist aufgrund der vertrauten Umgebung ein weniger einschneidendes Mittel als die Fremdunterbringung (vgl. Muster-Anordnung der Stadt Nürnberg). Auf der Grundlage des § 30 Absatz 1 IfSG kann eine Anordnung, die es verbietet, die Wohnung ohne Zustimmung der zuständigen Behörde zu verlassen, grundsätzlich nur an Kranke, Krankheits- oder Ansteckungsverdächtige und an Ausscheider*innen adressiert werden.

Im Fall des Coronavirus ist die Regelung des § 30 Absatz 1 Satz 2 IfSG einschlägig, die eine Quarantäne nicht zwingend vorsieht und der Behörde einen Ermessensspielraum einräumt. Die Quarantäne kann deshalb nur angeordnet werden, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung der übertragbaren Krankheit notwendig ist. Die Entscheidung für eine solche Maßnahme sowie die konkrete Ausgestaltung müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen.

Wer einer Quarantäneanordnung nicht nachkommt, kann gemäß § 30 Absatz 2 IfSG auch zwangsweise in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einer anderen abgeschlossenen Einrichtung untergebracht werden. Für eine solche Freiheitsentziehung braucht es aber einen richterlichen Beschluss (gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG).

Quarantäne für Infizierte

Personen, die auf das SARS-CoV-2-Virus positiv getestet wurden, gelten als erkrankt im Sinne des § 2 Nr. 4 IfSG. Um die Infektionskette zu unterbrechen und eine weitere Verbreitung der Krankheit zu verhindern, ist die Absonderung gemäß § 30 Absatz 1 Satz 2 IfSG von Infizierten nach den Richtlinien des Robert-Koch-Instituts geeignet und erforderlich. Aufgrund der hohen Übertragbarkeit und häufig schweren Krankheitsverläufe gibt es nach den bisherigen Erkenntnissen keine vergleichbar geeigneten und weniger einschneidenden Mittel als die Quarantäne. Insbesondere das Tragen von Schutzkleidung wird nicht als gleich effektiv bewertet. Die Anordnung ist in der Regel auch angemessen und der damit verbundene Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG) zu dem Ziel des Schutzes des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit bisher nicht infizierter Dritter (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG) steht nicht außer Verhältnis zu dem mit der Quarantäne verfolgten Ziel.

Die Anordnung darf das erforderliche zeitliche Maß nicht überschreiten (bezüglich der frühesten Zeitpunkte der Entlassung aus einer Absonderung veröffentlicht das RKI in Abstimmung mit der Arbeitsgruppe Infektionsschutz der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG) Kriterien). Außerdem muss das Verlassen der Wohnung in Extremfällen (beispielsweise einem Wohnungsbrand) selbstverständlich erlaubt bleiben.

Quarantäne für „Kontaktpersonen der Kategorie I“

Das Robert-Koch-Institut unterscheidet zwischen verschiedenen Kategorien von Kontaktpersonen. Kontaktpersonen der Kategorie I sind solche, die engen Kontakt mit einer infizierten Person hatten (zum Beispiel ein 15-minütiges Gespräch „face-to-face“, weitere Beispiele siehe Homepage des RKI). Für diese Personen wird nach den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts grundsätzlich die Absonderung in häuslicher Quarantäne angeordnet.

Für Kontaktpersonen der Kategorie II, das sind z.B. Personen, die sich ohne einen kumulativ mindestens 15-minütigen „face-to-face“-Kontakt im selben Raum wie ein bestätigter COVID-19-Fall aufhielten, wird keine Quarantäne, sondern optional nur die Aufklärung über COVID-19, Kontaktreduktion und das Vorgehen bei eintretender Symptomatik empfohlen.

Die Rechtsgrundlage für die Quarantäne von Kontaktpersonen der Kategorie I findet sich in § 28 Absatz 1 Satz 1 i.V.m. § 30 Absatz 1 Satz 2 IfSG. Die Kontaktperson gilt als „Krankheitsverdächtige“ (bei Symptomen) gemäß § 2 Nr. 5 IfSG oder als „Ansteckungsverdächtige“ (ohne Symptome) im Sinne des § 2 Nr. 7 IfSG. Aufgrund der besonderen Gefahr, die von dem Coronavirus ausgeht, wird das Übertragungsrisiko aufgrund der Nähe einer Kontaktpersonen der Kategorie I zu einer infizierten Person von dem RKI (siehe Muster-Bescheid) und den Gesundheitsämtern als ausreichend angesehen, um eine Quarantäne anzuordnen.

Muss sich eine Kontaktperson der Kategorie I in Quarantäne begeben, ist das ein Eingriff in ihr Grundrecht der Freiheit der Person (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG). Für dessen Rechtfertigung ist der Argumentationsaufwand höher als bei Infizierten, da eine Infektion und damit die Gefahr einer Weiterverbreitung nicht sicher ist. Dies gilt besonders, wenn die Person keine Symptome aufweist. Auf Grund der fachlichen Einschätzung des RKI, dass von Kontaktpersonen der Kategorie I eine hohe Infektionsgefahr ausgeht, auch wenn sie keine Symptome haben, kann die Absonderung aber zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit Dritter gerechtfertigt sein. Dies gilt allenfalls für den Zeitraum, in dem die betroffene Person noch andere Personen infizieren könnte (das heißt die maximale Inkubationszeit zwischen einer möglichen Ansteckung und dem ersten Auftauchen von Krankheitssymptomen). Das Tragen von Schutzbekleidung dürfte auch nicht gleich geeignet und damit milderes Mittel sein. Auch bei Spaziergängen oder alleiniger sportlicher Aktivität o.ä. kann ein Kontakt zu anderen Menschen nicht ausgeschlossen werden. Je nachdem, wie hoch die Wahrscheinlichkeit einer Infektion bei der betroffenen Person einzustufen ist, könnten solche Möglichkeiten aber als milderes Mittel in Frage kommen.

Maßnahmen während der Quarantäne: Sind Besuchsverbote, Auskunftspflichten und Zutritt zur Wohnung verhältnismäßig?

Zusammen mit der Absonderung werden grundsätzlich weitere Maßnahmen angeordnet. Bei der Frage der Verhältnismäßigkeit sind die Begründungsanforderungen bei lediglich Ansteckungsverdächtigen (d.h. Kontaktpersonen) höher.

Zum einen wird für die Zeit der Quarantäne ein Besuchsverbot von haushaltsfremden Personen angeordnet. Dazu gibt es keine explizite Grundlage im Gesetz. Die Maßnahme wird aber auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG gestützt und dürfte dem Absonderungsgebot aus § 30 Absatz 1 IfSG inhärent sein. Auch sie soll die Weiterverbreitung des Virus verhindern und ist dazu geeignet. Das Tragen von Schutzbekleidung wird auch hier als nicht gleich wirksam eingestuft, sodass kein milderes Mittel vorliegen dürfte. Die in dem Verbot liegende Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Absatz 1GG) wird für die Zeit der Quarantäne hinter dem Schutz von Dritten zurückstehen müssen. Innerhalb einer Hausgemeinschaft kann nur angeordnet werden, dass Kontakte untereinander auf ein Minimum reduziert werden.

Zum anderen werden die Betroffenen grundsätzlich auch einer Beobachtung unterworfen. Die Rechtsgrundlage dafür findet sich in § 29 IfSG. Mit der Beobachtung gehen verschiedene weitere Verpflichtungen einher, die alle ihrerseits die Grundrechte der betroffenen Person (die in § 29 Absatz 2 Satz 4 IfSG zitiert werden) nicht unverhältnismäßig einschränken dürfen:

Zum einen müssen die Betroffenen die erforderlichen Untersuchungen dulden. Dies ist in § 29 Absatz 2 Satz 1 IfSG ausdrücklich vorgesehen und greift in das Grundrecht der betroffenen Person auf körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundgesetz) ein. Die Maßnahme hat das Ziel, festzustellen, ob sich das Ansteckungsrisiko realisiert hat und damit tatsächlich das Risiko einer Weiterverbreitung des Erregers in der Bevölkerung besteht. Dann können ggf. weitergehende Schutzmaßnahmen durch die Behörde getroffen werden. Sie dient auch dazu, die Qualität und fachliche Bewertung der bereits getroffenen Entscheidungen zu sichern (vgl. Muster-Anordnung der Stadt Nürnberg). Belastungen von relativ geringer Intensivität durch die Untersuchungen (wie zum Beispiel das Entnehmen eines Rachenabstriches) sind hinzunehmen.

Nach § 29 Absatz 2 Satz 3 IfSG müssen Personen unter Beobachtung zudem auf Verlangen der Behörde über alle ihren Gesundheitszustand betreffenden Umstände Auskunft geben. Auch dies ist für die notwendige Beurteilung der erforderlichen Maßnahmen geeignet, erforderlich und angemessen. Insbesondere ist die Begrenzung der Auskunftspflicht auf die den Gesundheitszustand betreffenden Umstände zu beachten.

Mit dem gleichen Ziel werden den Personen unter Quarantäne auch gewisse Mitwirkungspflichten auferlegt: zum Beispiel das tägliche Messen der Körpertemperatur und das Führen eines Tagebuchs (bezüglich Symptomen, Körpertemperatur, allgemeinen Aktivitäten und Kontakten zu weiteren Personen). Dies lässt sich auf § 28 Absatz 1 Satz 1 IfSG und § 29 Absatz 2 Satz 1 und 3 IfSG stützen.

Die Mitteilung von Kontaktpersonen ist bei Infizierten geeignet und erforderlich, um Infektionsketten wirksam und schnell zu unterbrechen. Nur die infizierte Person kann Auskunft über ihre Kontaktpersonen erteilen.

Bei Ansteckungsverdächtigen ist das Führen eines Tagebuchs inklusive der Angabe ihrer Kontaktpersonen zumindest für den Fall der Bestätigung einer Infektion und der dann erforderlichen Nachverfolgung erforderlich und angemessen.

Eine weitreichende Beschränkung des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Artikel 13 Absatz 1 GG) liegt in der Anordnung, dass den Beauftragten des Gesundheitsamts Zutritt zu der Wohnung der Person in häuslicher Quarantäne gestattet werden muss. Ein solches Zutrittsrecht ist explizit in § 29 Absatz 2 Satz 3 IfSG vorgesehen. Es ist aber ausschließlich zum Zwecke der Befragung oder der Untersuchung vorgesehen und kann damit zum Beispiel nicht der Kontrolle der Einhaltung der Quarantäne dienen. Das Zutrittsrecht dient der Erreichung der durch die Beobachtung verfolgten legitimen Ziele (s.o.). Ob es auch das relativ mildeste Mittel darstellt, ist zumindest hinsichtlich des Zutritts zum Zweck der Befragung zweifelhaft, da eine solche auch über telekommunikative Wege stattfinden könnte und dies weniger einschneidend wäre. Im Hinblick auf den Zutritt zum Zweck der Untersuchung dürfte die Anordnung angemessen sein, solange die Untersuchung aus Gründen der Ansteckungsgefahr nicht außerhalb der Wohnung stattfinden kann.

Teilweise wird darüber hinaus auch bereits für den Fall der Zuwiderhandlung die zwangsweise Absonderung durch Unterbringung in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einem abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses nach § 30 Absatz 2 IfSG angedroht (für eine solche ist eine gerichtliche Anordnung erforderlich).

Gibt es regionale Unterschiede bezüglich der Quarantänemaßnahmen?

Für die Anordnung häuslicher Quarantäne von Kontaktpersonen der Kategorie I hatte das Robert-Koch-Institut ursprünglich einen Muster-Bescheid „zur Prüfung und ggf. Anwendung in alleiniger Verantwortung der zuständigen Behörden“ zur Verfügung gestellt. Dieser enthielt (bis auf die Androhung der zwangsweisen Absonderung) sämtliche zuvor dargestellten Maßnahmen. Der Muster-Bescheid wurde inzwischen entfernt. Einen Muster-Bescheid des RKI für die Maßnahmen bei Infizierten gab es nie. Wie die Länder oder gar einzelnen Gesundheitsämter nun die Quarantäneanordnungen formulieren, können wir nicht überblicken. Es wird aber mit Sicherheit Unterschiede geben, die ggf. auch die Besonderheiten von Einzelfällen berücksichtigen.

Zuständig für Anordnungen aufgrund des Infektionsschutzgesetzes ist in der Regel eine Behörde auf kommunaler Ebene (das örtlich zuständige Gesundheitsamt). Diese können auf Grundlage des Gesetzes innerhalb ihres Ermessensspielraums selbst über die Anordnungen und den Umfang der Maßnahmen entscheiden. An die Vorgaben des RKI sind sie dabei nicht gebunden. Dass in der Praxis einige Gesundheitsämter maßgeblich von den Empfehlungen abweichen, ist der GFF derzeit aber nicht bekannt. Die jeweiligen Landesregierungen können durch verschiedene Möglichkeiten auf ein landesweit einheitliches Vorgehen hinwirken. Zum Beispiel dadurch, dass sie Weisungen aussprechen, die Zuständigkeit an sich ziehen oder von der Verordnungsermächtigung des § 32 Satz 1 IfSG Gebrauch machen.

Pflegepersonal: Quarantäne mit Ausnahmen

Das RKI schlägt bei akutem Personalmangel im Bereich der Arztpraxen und Krankenhäuser, Alten- und Pflegeeinrichtungen sowie kritischen Infrastrukturen einen angepassten Umgang mit Kontaktpersonen vor. Beispielsweise kann die häusliche Absonderung von asymptomatischen Kontaktpersonen der Kategorie I, die als Pflegepersonal akut gebraucht werden, auf sieben Tage nach dem Kontakt mit der infizierten Person beschränkt werden, wenn es ansonsten unmöglich ist, eine unverzichtbare Personalbesetzung zu gewährleisten. Dabei müssen die legitimen Infektionsschutzziele und die Versorgung besonders verletzlicher Personengruppen in Alten- und Pflegeeinrichtungen umfassend mit den Grundrechten der betroffenen Person abgewogen werden.

Auch die widersprüchlich anmutende Situation, dass unseren Informationen nach manche Gesundheitsämter die häusliche Absonderung von Pflegepersonal anordnen, für den Arbeitsweg und die Arbeitstätigkeit aber eine Ausnahme machen, kann grundrechtskonform sein. Dies ist aber nur der Fall, soweit die häusliche Absonderung geeignet ist, über den Arbeitsbereich hinaus Infektionsgefahren zu vermindern. An die Erforderlichkeit und Angemessenheit der Quarantäneanordnungen sind dann erhöhte Anforderungen zu stellen. Beispielsweise scheint es unverhältnismäßig zu sein, wenn auch in diesen Fällen ein Zutrittsrecht zur Wohnung besteht. Wenn die Wohnung zum Arbeiten verlassen werden darf, könnte auch eine Untersuchung außerhalb der Wohnung stattfinden.

Quarantäne für ein- und rückreisende Personen

Bezüglich der Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende nach Deutschland hatte der Bund Anfang April mit den Ländern eine Musterverordnung entworfen. Danach mussten sich grundsätzlich pauschal alle aus dem Ausland Einreisenden 14 Tage häuslich absondern. Diese Regeln wurden von den Ländern entweder in ihren Corona-Verordnungen aufgenommen oder auch als eigenständige Verordnung umgesetzt (siehe auch Dr. Sehl auf LTO).

Ob sich eine solche Maßnahme auf § 30 Abs. Absatz 1 Satz 2 IfSG stützen lässt, ist fraglich. Dann müssten die Einreisenden nach den oben genannten Kriterien zumindest als ansteckungsverdächtig gelten. Eine solche Annahme pauschal für alle Einreisenden ist schwer nachvollziehbar. Ob Quarantänemaßnahmen auch für andere, über die in § 30 Absatz 1 IfSG genannten, Personen hinaus angeordnet werden können – beispielsweise auf Grundlage der Generalklausel – kann angesichts der derzeitigen detaillierten Spezialregelung bezweifelt werden (so OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.05.2020 – 13 MN 143/20, das die niedersächsische Regelung einstweilen außer Kraft gesetzt hat; andere Ansicht offenbar: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 7.4.2020 – 3 MB 13/20). Jedenfalls, so argumentiert das OVG Lüneburg, fehlt es an der von § 28 Absatz 1 Satz 1 IfSG geforderten Notwendigkeit der umfassenden Quarantänemaßnahme. Es schlägt alternativ eine Pflicht für Einreisende zur unverzüglichen Meldung bei den jeweils zuständigen Behörden vor. Diese könnten dann die im Einzelfall jeweils erforderlichen Maßnahmen ergreifen (OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.05.2020 – 13 MN 143/20 Rn. 38).

Mitte Mai haben Bund und Länder beschlossen, dass die Quarantänepflicht nicht mehr für Einreisende aus Ländern der Europäischen Union, sowie aus Island, dem Fürstentum Liechtenstein, Norwegen, der Schweiz und dem Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland gelten soll. Quarantäne kann aber angeordnet werden, wenn in dem betreffenden europäischen Staat die Zahl der Neuinfektionen in den letzten sieben Tagen über 50 pro 100.000 Einwohner liegt. Für die Einreise aus anderen Staaten soll die Quarantänepflicht grundsätzlich weitergelten, es sei denn das dortige Infektionsgeschehen ist auf niedrigem Niveau ist (siehe Informationen des Bundesinnenminsteriums). Die konkreten Regelungen treffen die Länder. Bis zum Herbst 2020 ist die Liste der Risikogebiete beständig angewachsen.

A.19. Darf die Polizei private Wohnungen betreten und/oder durchsuchen, um die Einhaltung der Corona-Maßnahmen zu überprüfen und durchzusetzen?

Welche Vorgaben gelten aktuell für Zusammenkünften und Feiern in privaten Wohnungen?

Bund und Länder haben sich auf Leitlinien für Corona-Maßnahmen geeinigt, darin jedoch keine Vorgaben zu privaten Feiern beschlossen. Die Bundesländer haben bei der Umsetzung der Leitlinien durch Verordnungen und Allgemeinverfügungen jedoch überwiegend Regelungen zu Privatfeiern getroffen. Diese sind teilweise an Inzidenzwerte geknüpft, teilweise haben sie lediglich Empfehlungscharakter. Inhaltlich beschränken die Corona-Regeln meist private Zusammenkünfte auf Angehörige von höchstens zwei oder drei Haushalten und maximal 10 erwachsenen Personen. Die Süddeutsche Zeitung hat dazu hier eine gute Übersicht erstellt. Die neuen Vorgaben sind nunmehr seit dem 2. November 2020 in Kraft und auf Ende November befristet.

Sind die Vorgaben für private Feiern rechtmäßig?

Vorgaben, die Menschen darin beschränken, ihnen nahestehende Personen zu treffen, greifen tief in Grundrechte ein, insbesondere in die allgemeine Handlungsfreiheit sowie gegebenenfalls in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Artikel 2 Abs. 2 sowie Artikel 2 Abs. 1 i.V.m. Artikel 1 Abs. 1 GG). Auch angesichts der Gefahren, die mit der Verbreitung des Coronavirus einher gehen, sind solche Vorgaben allenfalls dann rechtlich zulässig, wenn sie zeitlich befristet sind und zudem hinreichende Ausnahmen zulassen, insbesondere um nahestehende Menschen zu treffen. Angesichts der stark gestiegenen Infektionszahlen und der zeitlichen Befristung dürften die geregelten Vorgaben diesen Voraussetzungen gerade noch gerecht zu werden. Teilweise fehlen in den Regelungen der Bundesländer jedoch wichtige Ausnahmen. So erscheint beispielsweise ein Verbot, das die Mitglieder einer (Patchwork-) Familie daran hindert, sich als Familie zu treffen, unverhältnismäßig und damit rechtswidrig.

Darf die Polizei private Wohnungen durchsuchen, um die Einhaltung der Corona-Maßnahmen zu überprüfen und durchzusetzen?

Das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Artikel 13 des Grundgesetzes nimmt einen hohen Stellenwert ein und steht in engem Zusammenhang mit der freien Entfaltung der Persönlichkeit: Die Wohnung als physischer Rückzugsort und räumliche Privatsphäre soll dem staatlichen Zugriff weitestgehend entzogen werden. Gemäß Artikel 13 Abs. 7 des Grundgesetzes sind Eingriffe und Beschränkungen auf Grund eines Gesetzes zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung und auch zur Bekämpfung von Seuchengefahr zulässig. Das Betreten und Durchsuchen einer Wohnung, weil dort eine Zusammenkunft stattfindet, die gegen die Corona-Regeln verstößt, ist aber in aller Regel unzulässig.

Auf Grundlage der Polizeigesetze der Länder ist das Betreten oder Durchsuchen zur Verhinderung von Verstößen gegen die Corona-Verordnungen im Prinzip nicht möglich, denn die Polizeigesetze lassen das Betreten nur aus bestimmten Gründen zu, nämlich zur Beschlagnahme von Gegenständen, bei Lärmbelästigung oder zur Abwehr von gegenwärtigen Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder zur Verhinderung erheblicher Straftaten.

Das heißt: Wenn von einer Zusammenkunft eine Lärmbelästigung für die Nachbarschaft ausgeht, dann ist die Polizei nach erfolgloser Warnung schließlich auch befugt, die Wohnung zu betreten und z.B. eine Musikanlage zu beschlagnahmen. Sie kann in diesem Zusammenhang auch auf die Einhaltung der Corona-Verordnung hinweisen und sogar ein Bußgeld erteilen. Ausschließlich zur Verhinderung von Verstößen gegen die Corona-Verordnung darf die Polizei eine Wohnung aber nicht betreten. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn die Polizei aufgrund verlässlicher Informationen davon ausgehen könnte, dass eine infektiöse Person unter Verstoß gegen eine Quarantäneanordnung Besuch empfängt und dieser auf Vorwarnung der Beamt*innen die Wohnung nicht freiwillig verlässt. Denn dann bestünde eine konkrete Gesundheitsgefahr. Das allgemeine Ziel, illegale Zusammenkünfte zu verhindern, würde hingegen zum Betreten einer Wohnung nicht ausreichen, weil es in solchen Fällen an der hinreichenden Zuspitzung der Gesundheitsgefahr als „gegenwärtig“ fehlen würde.

Auch eine Durchsuchung einer Wohnung zur Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit ist eher abwegig. Denkbar ist zwar theoretisch, dass die Polizei nach § 102 der Strafprozessordnung eine Wohnung betreten und durchsuchen darf, um für die Verfolgung einer Ordnungswidrigkeit Beweismittel aufzufinden. Notwendig ist dafür aber nach § 105 der Strafprozessordnung ein richterlicher Durchsuchungsbeschluss, nur bei Gefahr im Verzug kann die Staatsanwaltschaft die Maßnahme anordnen. Zwar ist eine solche Durchsuchung gemäß § 46 OWiG sinngemäß auch bei der Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten – etwa Verstößen gegen Anti-Corona-Verordnungen – anwendbar. Art und Umfang der zur Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten gewählten Maßnahmen unterliegen aber dem Ermessen der Beamt*innen (§ 47 OWiG) und sind damit wiederum streng dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. Dass der Sachverhalt einer mutmaßlichen Ordnungswidrigkeit nicht anders als durch das Betreten einer Wohnung aufgeklärt werden kann, dürfte jedoch eher fern liegen.

A. 20. Sind Beherbergungsverbote rechtmäßig?

Die Gerichte (Nachweise am Ende des Abschnitts) sind sich einig: Die meisten der Mitte Oktober 2020 in Kraft getretenen Beherbergungsverbote für Personen aus sogenannten Risikogebieten waren unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. Ob dies auch bei den aktuellen deutschlandweiten Übernachtungsverboten (s. u.) oder zukünftigen Beherbergungsverboten der Fall ist, lässt sich nicht pauschal sagen und muss anhand der jeweiligen konkreten Umstände bewertet werden.

Beherbergungsverbote jedweder Art sind aus grundrechtlicher Sicht sehr problematisch: Einerseits werden die Grundrechte der Betreiber*innen von Hotels und anderen Unterkünften drastisch beschränkt. Dabei geht es insbesondere um die Berufsausübungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) sowie um das Recht auf Eigentum bzw. das sogenannte „Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbetrieb“ (Art. 14 GG). Besonders schwer wiegen diese Eingriffe, wenn den Betroffenen durch die Maßnahmen erhebliche Geschäftseinbußen drohen. Andererseits werden die Reisewilligen in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie in ihrem Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG) beschränkt, wonach jeder das Recht hat, sich an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets aufzuhalten.

Den Grundrechten der Betreiber*innen und der Tourist*innen stehen die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz vor einer Weiterverbreitung des Virus gegenüber. Je nach Lage des Infektionsgeschehens kann es gerechtfertigt sein, Reise- und Übernachtungsmöglichkeiten zu beschränken, um eine Verbreitung des Virus zu verhindern.

Auch das Bundesverfassungsgericht hat festgehalten, dass ein Beherbergungsverbot insgesamt schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte insbesondere der Beherbergungsbetriebe bewirkt. Die Eingriffe könnten jedoch gerechtfertigt sein, wenn sie als Maßnahme der Pandemiebekämpfung verhältnismäßig sind.

Im Oktober 2020 schätzte das RKI das Risiko für die Bevölkerung als „insgesamt hoch“ ein. Die Gerichte bewerteten die Beherbergungsverbote als geeignet, um diesem Risiko entgegenzuwirken und eine flächendeckende Verbreitung der Virus zu verhindern. Sie waren aber der Meinung, dass die Verbote mit den Grundrechtseinschränkungen nicht in einem angemessenen Verhältnis standen. Die Länder hatten nicht ausreichend dargelegt, dass die Beherbergungsverbote – zusammen mit den anderen damaligen Maßnahmen – tatsächlich wirksam sind. Zweifel an der Wirksamkeit bestanden vor allem, weil andere Personen, wie z. B. Geschäftsreisende und Tagestouristen, weiterhin einreisen durften. Außerdem war nicht ersichtlich, warum ausgerechnet Hotels, die doch mehrheitlich über Hygienekonzepte verfügten, zu einer Verbreitung des Virus beitragen sollten. Kritik gab es auch für Regelungen, nach denen man mit einem negativen Testergebnis von dem Verbot befreit war: Bei einer weitgehenden Auslastung der Testkapazitäten sei es unrealistisch, dass die mildernde Wirkung solcher Ausnahmen tatsächlich erreicht werde.

Die aktuellen deutschlandweiten Verbote für Übernachtungen zu touristischen Zwecken müssen für sich bewertet werden. Zwei wichtige Punkte sind im Vergleich mit den Regelungen vom Oktober zu bedenken: Einerseits stellt ein generelles und umfassendes Übernachtungsverbot eine erheblich schärfere Belastung der Grundrechte dar, als bloß partielle Beherbergungsverbote. Der Eingriff in die Grundrechte der Betreiber*innen soll durch die sogenannten „Corona-Hilfen für betroffene Unternehmen“ aber zumindest etwas abgemildert werden. Andererseits hat sich das Infektionsgeschehen mittlerweile auf alle Bundesländer ausgeweitet und steigt exponentiell an. Es ist zudem unklar, ob Beherbergungsbetriebe nicht doch Infektionsherde sind. Vor diesem Hintergrund hat das Oberverwaltungsgericht von Sachsen-Anhalt, bereits mitgeteilt, dass es das flächendeckende Beherbergungsverbot in der momentanen Situation für verhältnismäßig hält, um die Zahl der Neuinfektionen wieder soweit abzusenken, dass Infektionen nachverfolgt werden können. Die Verwaltungsgerichtshöfe von Baden-Württemberg und Bayern äußerten demgegenüber Bedenken. Sie bezweifeln, dass die Regelungen den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes und des sogenannten Parlamentsvorbehalts genügen.

Im Vergleich mit den Regelungen vom Oktober kommt es zu einer paradoxen verfassungsrechtlichen Situation: Obwohl auch das flächendeckende Übernachtungsverbot zwischen Tourist*innen und Geschäftsreisenden unterscheidet könnte das eine gerechtfertigte Ungleichbehandlung darstellen. Woran liegt das? Die Antwort findet sich in den unterschiedlichen Zielrichtungen. Die Beherbergungsverbote vom Oktober zielten darauf ab, dass das Virus nicht aus einem Risikogebiet in das jeweilige Bundesland „eingeschleppt“ wird. Es war nicht ersichtlich und damit auch nicht gerechtfertigt, weshalb das Virus durch eine Touristin eher verbreitet werden sollte als durch eine Geschäftsreisende. Das aktuelle Übernachtungsverbot wurde hingegen erlassen, als sich das Infektionsgeschehen bereits bundesweit ausgedehnt hatte. Es soll menschliche Kontakte und Bewegungsströme insgesamt reduzieren. Die Ungleichbehandlung ist hier gerechtfertigt, da „ein sachlicher Grund“ für sie vorliegt: Auf die Kontakte eines touristischen Aufenthalts kann eher verzichtet werden als auf die eines geschäftlichen Aufenthalts.

Nachweise zu gerichtlichen Entscheidungen: OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 27. Oktober 2020 – 3 R 205/20 –, juris; OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23. Oktober 2020 – 3 MR 47/20 –, juris (das damit seine abweichende Rspr. geändert hat, vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 3 MR 45/20 –, juris); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Oktober 2020 – OVG 11 S 87/20 –, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. Oktober 2020 – 1 S 3156/20 –, juris.

A.21 Darf der Staat Quarantäne-Verweiger*innen in Zwangsgewahrsam nehmen?

Die Rechtsgrundlage für die zwangsweise gesonderte Unterbringung von Personen, die gegen Quarantäne-Auflagen verstoßen, ist § 30 des Infektionsschutzgesetzes. Danach sind Personen, bei denen von einer Ansteckungsgefahr auszugehen ist, im Normalfall lediglich in geeigneter Weise abzusondern, sprich, die Person hat sich in Quarantäne zu begeben. Wer dann jedoch Anordnungen hinsichtlich der Quarantäne nicht Folge leistet, ist in einem abgeschlossenen Krankenhaus oder einer sonstigen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung abzusondern. Diese Vorschrift wurde übrigens nicht erst in der Corona-Pandemie geschaffen, sondern galt auch schon vorher für die Bekämpfung anderer Infektionskrankheiten.

Dabei handelt es sich nicht um eine Straf-, sondern um eine Sicherheitsmaßnahme. Es geht also nicht darum, eine Person für Verstöße gegen Quarantäne-Auflagen zu bestrafen, sondern darum, die Gefahr, die von ihr gegenüber anderen ausgeht, einzudämmen. Denn der Grund dafür, dass sich eine Person überhaupt in Quarantäne zu begeben hat, ist schließlich, dass man wegen bestimmter Anhaltspunkte von einem konkreten Ansteckungsrisiko für andere ausgehen muss – sei es der Kontakt zu einer infizierten Person, sei es Rückkehr aus einem Risikogebiet oder sogar eine nachgewiesene bestehende Infektion.

Die Grenzen für solche Sicherheitsmaßnahmen stellen insbesondere die Grundrechte dar, namentlich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. So zum Beispiel darf eine solche „Zwangsquarantäne“ nicht länger dauern, als sie zum Schutz anderer Personen notwendig ist, weil sonst die Freiheit der Person in ungerechtfertigter Weise eingeschränkt würde.

Im Extremfall kann ein vorsätzlicher Verstoß gegen Quarantäne-Auflagen aber auch ein Fall für das Strafrecht sein. Wer durch einen solchen Verstoß das Virus weiterverbreitet, kann nach § 74 Infektionsschutzgesetz mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft werden. Und wer sich trotz Wissens um eine eigene Infektion bewusst und gewollt in eine Situation begibt, in der er oder sie damit rechnen muss, eine andere Person anzustecken, begeht damit unter Umständen auch eine Körperverletzung. Gehört das Opfer noch dazu einer Risikogruppe an, ist selbst eine Strafbarkeit wegen (versuchten) Totschlags oder Mordes nicht ausgeschlossen.

Wann ist die Grundlage für eine Unterbringung gegeben?

Erst einmal ist festzustellen, dass diese zwangsweise Unterbringung nur für den Fall in Frage kommt, dass jemand Auflagen für eine Quarantäne nicht nachkommt, es geht also nicht um Verstöße gegen allgemeine Hygienevorschriften wie zum Beispiel das Tragen einer Maske. Auch bei einem Verstoß gegen Quarantäne-Auflagen ist die Zwangsabsonderung jedoch nur letztes Mittel. Denn aus dem Grundgesetz ergibt sich, dass Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen. Es müssen also insbesondere erst alle anderen geeigneten und milderen Mittel ausgeschöpft, wie beispielsweise das Gespräch, erschöpft werden, um die Person zur Einhaltung der Quarantäne-Auflagen zu bewegen. Aus dem Grundgesetz ergibt sich auch, dass eine Freiheitsentziehung nur durch ein Gericht angeordnet werden darf. Dies gilt selbstverständlich auch für die „Zwangsquarantäne“.

Wegen der hohen Hürden, die für eine solche gesonderte Unterbringung bei Verstößen gegen Quarantäne-Auflagen bestehen, sehen wir aus grundrechtlicher Sicht keine Bedenken gegen die gesetzliche Regelung als solche. Allerdings kommt es stets darauf an, wie die Vorschrift tatsächlich angewandt wird. So besteht etwa die Gefahr, dass Menschen davon betroffen sein werden, die ohne eigenes Verschulden Quarantäneauflagen nicht richtig einhalten können, weil sie zum Beispiel in überfüllten Flüchtlingsunterkünften untergebracht sind. In diesem Fall aber wäre das mildere Mittel zur Freiheitsentziehung die Unterbringung in dezentralen Unterkünften mit erheblich weniger Infektionspotential.

Das Team der Gesellschaft für Freiheitsrechte

The power of law

Gemeinsam für die Grundrechte vor Gericht

B. Darf der Staat zum Tragen von FFP2- oder KN95/N95-Masken ÖPNV oder Geschäften verpflichten?

Inzwischen gilt in allen Bundesländern die Pflicht zum Tragen medizinischer Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln und Geschäften. Medizinische Masken in diesem Sinne sind sog. OP-Masken sowie Masken der Standards KN95/N95 oder FFP2. In Bayern ist allein das Tragen von FFP2-Masken oder anderen Masken gleichen Standards zulässig, OP-Masken reichen hier nicht aus.

Aus der Perspektive der Pandemie-Bekämpfung ist eine solche qualifizierte Maskenpflicht leicht zu begründen. Denn bessere Masken können sowohl die tragende Person als auch ihre Umgebung deutlich besser vor einer Infektion schützen. Der Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit, den jede Pflicht zum Tragen einer Maske bedeutet, ist bei einer besseren Maske gegenüber einer einfachen Maskenpflicht nur unwesentlich tiefer, wenn überhaupt. Zugleich können die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit durch die besseren Masken besser geschützt werden.

Wohlfahrtsverbände und andere zivilgesellschaftliche Akteur*innen weisen aber zu Recht darauf hin, dass die Regelungen mit Blick auf das im Grundgesetz verankerte Recht der sozialen Teilhabe sowie das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auch problematisch sein können. Medizinische Masken sind in der Regel teurer – ab ca. ein Euro das Stück – und damit für viele Empfänger*innen sozialer Leistungen derzeit kaum bezahlbar. In der Berechnung des Hartz-IV-Regelsatzes sind derzeit monatlich insgesamt nur 17,02 € für die Gesundheitspflege vorgesehen – insbesondere in Pandemie-Zeiten ein deutlich zu geringer Betrag, wenn allein für die hochwertigen Masken mindestens 30 Euro im Monat fällig werden, zumal in der Bedarfsberechnung für den Erwerb medizinischer Erzeugnisse ohne Rezept ganze 2,63 € veranschlagt sind. Inzwischen hat die Bundesregierung angekündigt, dass Menschen in der Grundsicherung je zehn kostenlose FFP2-Masken erhalten sollen. Hierbei kann es sich allerdings nur um einen kleinen und kurzfristigen Beitrag zur Lösung eines strukturellen Problems handeln.

Rechte und Bedürfnisse von Asylsuchenden werden in diesem Zusammenhang weitgehend ignoriert. Die Diskussion um die Regelung zu den kostenlosen FFP2-Masken veranschaulicht dies beispielhaft: Asylsuchende haben keinen Anspruch auf kostenlose FFP2-Masken, obwohl diese aufgrund der Unterbringung in Sammelunterkünften häufig einem besonders hohen Infektionsrisiko ausgesetzt sind und in der Regel noch weniger Geld zur Verfügung haben als Menschen in der Grundsicherung. Der Gesetzgeber ist aufgefordert hier zu handeln. Soziale Teilhabe und effektiver Gesundheitsschutz dürfen keine Frage der Größe des Geldbeutels oder des Aufenthaltsstatus sein.

B.1. Kann der Bundestag noch Gesetze verabschieden, wenn sehr viele Abgeordnete fehlen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Grundsätzlich kann der Bundestag auch dann Beschlüsse fassen und Gesetze verabschieden, wenn er nur minimal besetzt ist. Das ist auch jenseits der Corona-Pandemie der Parlamentsalltag.

Das Grundgesetz schweigt zu der Frage, wie viele Mitglieder des Bundestages anwesend sein müssen, damit dieser Beschlüsse fassen kann, und überlässt es der Geschäftsordnung, dies zu regeln (Artikel 40 Absatz 1 Satz 2 GG). Wie in der Geschäftsordnung des Bundesrates ist auch in der Geschäftsordnung des Bundestages geregelt, dass mehr als die Hälfte seiner Mitglieder anwesend sein müssen, damit der Bundestag beschlussfähig ist (§ 45 Absatz 1 der Geschäftsordnung des Bundestages, GOBT). Wegen der Corona-Pandemie hat der Bundestag diese Schwelle bis zum 31. Dezember 2020 auf ein Viertel seiner Mitglieder herabgesetzt (siehe den neuen § 126a Absatz 1 GOBT). Gleichwohl wird die Beschlussfähigkeit vermutet: Sie liegt also solange vor, bis das Gegenteil festgestellt wurde. Wenn Zweifel bestehen, dass der Bundestag beschlussfähig ist, kann eine Fraktion oder können fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages einen Antrag stellen, die dafür natürlich anwesend sein müssen. Erst auf einen solchen Antrag hin wird überprüft, ob ausreichend Mitglieder des Bundestages anwesend sind (§ 45 Absatz 2 GOBT).

Das heißt auch: Wenn weniger als fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages anwesend sind, kann nach der zweiten Variante kein Antrag auf Feststellung der Beschlussunfähigkeit gestellt werden. Deshalb gehen einzelne Stimmen in der rechtswissenschaftlichen Literatur davon aus, dass damit eine absolute Untergrenze erreicht und der Bundestag dann nicht beschlussfähig sei. Dem kann man entgegenhalten, dass auch in einer solchen Situation noch möglich ist, dass die Abgeordneten einer Fraktion einen Antrag stellen, um die Beschlussunfähigkeit feststellen zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser Rechtsfrage noch nicht geäußert. Aber: Nur das Bundesverfassungsgericht kann ein Gesetz für nichtig erklären (sog. „Verwerfungskompetenz“). Auch ein Gesetz, das von weniger als fünf Prozent der Abgeordneten beschlossen wurde, ist damit erst einmal wirksam. Das kann dazu führen, dass sich durch Krankheits- und Quarantäne-Ausfälle Mehrheitsverhältnisse im Bundestag verschieben und sehr wenige anwesende Abgeordnete wirksame Gesetze im Bundestag beschließen könnten. Möglichkeiten trotz Abwesenheit abzustimmen, etwa per „E-Voting“, bestehen nicht.

B.2. Kann der Bundesrat noch Gesetzen zustimmen bzw. sie billigen, wenn sehr viele Mitglieder ausfallen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Der Bundesrat wirkt an allen Gesetzen mit, indem er ihnen zustimmt (sogenannte Zustimmungsgesetze) oder indem er sie billigt (sogenannte Einspruchsgesetze). Er ist das deutlich kleinere Gremium, in dem jedem Bundesland entsprechend seiner Einwohner*innenzahl Stimmen zukommen (zur Verteilung siehe hier). Die Stimmen der Bundesländer werden durch Mitglieder der Landesregierungen ausgeübt (Art. 51 Abs. 1 GG): In der Praxis werden dazu die Ministerpräsident*innen sowie sämtliche Minister*innen und Staatssekretär*innen der Länder bestellt und können sich vertreten (Art. 51 Abs. 1 Satz 2 GG).

Der Bundesrat ist nur dann beschlussfähig, wenn die Mehrheit seiner Stimmen anwesend ist (§ 28 Abs. 1 Geschäftsordnung des Bundesrates, GOBR i.V.m. Art. 52 Abs. 2 Satz 1 und 3 GG): Ein*e Vertreter*in jedes Bundeslandes reicht aus, um sämtliche Stimmen des Landes zu vertreten. Nach gegenwärtiger Stimmverteilung ist der Bundesrat damit jedenfalls beschlussfähig, wenn die Vertreter*innen von zehn Bundesländern anwesend sind. Sofern die Vertreter*innen der sieben bevölkerungsstärksten Bundesländer anwesend sind, reichen auch diese bereits aus. Anders als beim Bundestag besagt die Regelung in der Geschäftsordnung des Bundesrates jedoch, dass der Präsident bei Beschlussunfähigkeit die Sitzung aufzuheben hat (§ 28 Abs. 2 GOBR). Wenn also aufgrund von Krankheits- oder Quarantäneausfällen mehr als die Hälfte der Stimmen des Bundesrates ausfallen, dann scheitern Gesetze an der fehlenden Mitwirkung des Bundesrates. Wegen der Vertretungsregelungen ist das aber unwahrscheinlich.

B.3. Was, wenn Bundestag und Bundesrat nicht beschlussfähig sind? Können bei einer Pandemie „Notstandsgesetze“ beschlossen werden?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Es gibt Situationen, in denen keine Gesetze mehr beschlossen werden können, nämlich wenn Bundestag und/oder Bundesrat beschlussunfähig sind. Dass in einem solchem Fall „Notstandsgesetze“ erlassen werden, sieht das Grundgesetz für eine Pandemie nicht vor.

Aber etwas ausführlicher: Das Grundgesetz bietet im Verteidigungsfall, wenn die Bundesrepublik also mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht, die Möglichkeit zur Notstandsgesetzgebung vor. Dann kann statt des Bundestages der sogenannte „Gemeinsame Ausschuss“ als ein „Notparlament“ zusammentreten und über wichtige Maßnahmen entscheiden (Art. 115a Abs. 2 GG). Der Gemeinsame Ausschuss ist eine Art verkleinertes Mischgremium aus Bundestag und Bundesrat. Er setzt sich aus 48 Mitgliedern zusammen, die zu zwei Dritteln aus Mitgliedern des Bundestages und zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates bestehen. Seine Mitglieder werden dabei zu Beginn jeder Legislaturperiode entsprechend der Fraktionsstärken ausgewählt und die demokratischen Mehrheitsverhältnisse bleiben damit gewahrt (Art. 53a Abs. 1 GG).

Da der Gemeinsame Ausschuss aus Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates besteht, wäre auch er nicht handlungsfähig, wenn diese Mitglieder des Bundestages oder Bundesrates aufgrund von Krankheit oder Quarantänemaßnahmen nicht zusammentreten können. Aber darauf kommt es gar nicht an, weil der Gemeinsame Ausschuss eben nur im Falle der Verteidigung, nicht bei einer Pandemie aktiv wird. Im Frühjahr gab es Reformüberlegungen, um eine Notfallregelung für den Pandemiefall einzuführen (siehe die Berichterstattung der LTO und von Spiegel Online). Dabei ging es insbesondere um die Frage, wie die Mehrheitsverhältnisse aufrechterhalten werden können, selbst wenn die Fraktionen unterschiedlich stark von Ausfällen durch Erkrankungen oder Quarantäne betroffen sind. Erwogen wurde dafür zunächst eine sogenannte „Pairing-Lösung“, wie sie beispielsweise in Großbritannien und in der Vergangenheit auch schon in Deutschland praktiziert wurde: Dabei ziehen bei Abstimmungen auch andere Fraktionen Abgeordnete zurück, so dass die ursprünglichen Mehrheitsverhältnisse gewahrt bleiben. Derartige Absprachen sind jenseits einer Verfassungsänderung möglich. Aber: Wenn sich eine Fraktion nicht an diese Absprachen hält und ihre Abgeordneten dennoch alle abstimmen, wäre der Beschluss des Bundestages trotzdem rechtskräftig. Deshalb hat der Bundestag schließlich seine Geschäftsordnung so geändert, dass für die Beschlussfähigkeit bereits die Anwesenheit eines Viertels seiner Mitglieder genügt (siehe “Kann der Bundestag noch Gesetze verabschieden, wenn sehr viele Abgeordnete fehlen?”).

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B.4. Wofür ist der Bund, wofür sind die Bundesländer bei einer Epidemie zuständig?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Wer in einem Föderalstaat für welche Infektionsschutzmaßnahmen zuständig ist, lässt sich nicht immer einfach feststellen. Der Bund hat durch das Infektionsschutzgesetz (IfSG) die gesetzliche Grundlage für die einzelnen Maßnahmen geschaffen. Welche Maßnahmen tatsächlich ergriffen werden, entscheiden aber die Bundesländer.

Der Infektionsschutz ist Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung nach Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 des Grundgesetzes. Das heißt, die Länder können eigene Gesetze nur erlassen, solange und soweit der Bund nicht selbst ein Gesetz erlassen hat. Hier hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz an sich gezogen, indem er das IfSG erlassen hat. Die Bundesländer treffen aber die im IfSG genannten Maßnahmen, also insbesondere Quarantäneanordnungen (§ 30), Berufsverbote (§ 31) oder auch Ausgangssperren (§ 28). Wer wiederum in den einzelnen Bundesländern zuständig ist, regeln die Bundesländer eigenständig. Für Nordrhein-Westfalen etwa sind die Zuständigkeiten in der Verordnung zur Regelung von Zuständigkeiten nach dem Infektionsschutzgesetz (ZVO-IfSG) geregelt. Danach sind verschiedene Behörden für verschiedene Maßnahmen zuständig. Für die Maßnahmen der §§ 28, 30 und 31 IfSG sind z.B. die Städte und Gemeinden (und dort die örtlichen Ordnungsbehörden) zuständig. Deshalb ergreifen teilweise auch einzelne Städte innerhalb eines Bundeslandes unterschiedliche Maßnahmen.

Zudem sind die Länder durch § 32 IfSG auch ermächtigt, eigene Verordnungen zu erlassen, um allgemeingültige Gebote und Verbote zu formulieren. Davon wurde in Deutschland vielfach Gebrauch gemacht. Zudem haben Bund und Länder zwei Vereinbarungen getroffen, die eine einheitliche Regelung in allen Bundesländern gewährleisten sollen. Auf die erste Vereinbarung hatten alle 16 Länder mit entsprechenden Regelungen reagiert, soweit sie das nicht schon vorher getan hatten. Und auch die zweite Vereinbarung, die weitergehende Maßnahmen vorsieht, haben die Bundesländer in der Zwischenzeit umgesetzt. Die jeweiligen Landesverordnungen unterscheiden sich jedoch weiterhin in vielen Punkten, wie z.B. eine Übersicht der taz vom 28.3.2020 illustriert.

Im IfSG sind außerdem Zuständigkeiten für das Robert Koch-Institut und das Bundesgesundheitsministerium geregelt. Das Robert Koch-Institut hat gemäß § 4 IfSG die Aufgabe, Konzepte zur Vorbeugung und frühzeitigen Erkennung sowie Verhinderung übertragbarer Krankheiten zu entwickeln. Auf Ersuchen der Landesgesundheitsbehörden berät es auch zu konkreten Maßnahmen in den einzelnen Ländern. Gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium ist es gemäß § 5 IfSG auch am Bund-Länder-Informationsaustausch beteiligt. Ziel dieses Verfahrens ist es unter anderem bei gehäuftem Auftreten bedrohlicher Krankheiten die erforderlichen Maßnahmen einzuleiten. Das Bundesgesundheitsministerium muss daher über verschiedene Entwicklungen informiert werden. Die Einzelheiten sind in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über die Koordinierung des Infektionsschutzes in epidemisch bedeutsamen Fällen geregelt.

B.5. Wie sind die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes zu bewerten, die der Bundestag am 25. März 2020 im Eilverfahren beschlossen hat?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Am 25. März 2020 hat der Bundestag im Schnellverfahren Änderungen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) beschlossen. Ergänzt wurde § 28 des Gesetzes, auf den sich die vielen Freiheitsbeschränkungen stützen, die wir im Frühjahr 2020 erlebten und gerade wieder erleben. Diese Ergänzung ist unbefriedigend, weil sie nach wie vor viel zu unbestimmt ist. Eine zunächst vorgesehene Ergänzung zur Verarbeitung von Handystandortdaten, die aus unserer Sicht verfassungswidrig gewesen wäre, zog die Bundesregierung nach heftiger Kritik wieder zurück.

Herzstück der Gesetzesänderung sind allerdings zahlreiche neue Befugnisse für das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) im Falle einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“. Das ist eine neue Form des Ausnahmezustands, über dessen Feststellung der Bundestag entscheidet (§ 5 Absatz 1 IfSG). Liegt eine epidemische Lage nach Ansicht des Bundestages vor, darf das BMG von Menschen, die nach Deutschland einreisen wollen, verschiedene Auskünfte etwa zu ihrem Impfschutz und ihrer Gesundheit verlangen und darf sie untersuchen lassen (§ 5 Absatz 2 Nr. 1). Das BMG darf auch Unternehmen im grenzüberschreitenden Verkehr wie Fluggesellschaften die Beförderung aus bestimmten Staaten nach Deutschland untersagen und die Übermittlung von Daten über Reisegäste verlangen (Nr. 2). Oder es darf anordnen, dass ein Patent etwa für einen Impfstoff im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt genutzt werden kann (Nr. 5). Der Bundestag hat am 25. März 2020 das Vorliegen einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite festgestellt. Am 17. September 2020 lehnte der Bundestag einen Antrag der FDP-Fraktion ab, das Ende der epidemischen Lage von nationaler Tragweite festzustellen; damit gilt sie nach wie vor.

Besonders problematisch sind aber die Ermächtigungen des BMG, Rechtsverordnungen ohne Zustimmung des Bundesrats zu erlassen, mit denen das Ministerium von zahlreichen Gesetzen vorübergehend abweichen darf. Zur Disposition stehen das Arzneimittelgesetz, das Betäubungsmittelgesetz, das IfSG selbst und viele weitere Bestimmungen. Das verkehrt das Verhältnis zwischen Gesetz und Verordnung; denn eigentlich bestimmt das Gesetz, das das Parlament beschließt, die Grenzen einer Verordnung, die die Regierung erlässt, nicht umgekehrt.

In der Summe wird damit in dem Moment, in dem eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt wird, sehr viel Macht in einer einzelnen Behörde – bzw. in ihrer Spitze, dem*der Minister*in – konzentriert, die bislang in verschiedenen Beziehungen geteilt war: Zwischen dem BMG und anderen Bundesministerien bzw. der Bundesregierung als ganzer; zwischen dem Bund und den Ländern; und vor allem zwischen der Exekutive und dem Gesetzgeber. Was also bislang verschiedene Organe intensiv ausgehandelt haben, liegt für die Dauer einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite in den Händen eines einzigen.

Diese fundamentalen Verschiebungen in der Gewaltenteilung unserer föderalen Demokratie gehören schnellstmöglich auf den Prüfstein. Das haben wir bereits im Frühjahr 2020 gesagt und gilt nun erst recht. Wir halten es für unbedingt erforderlich, dass sich das Parlament selbst eingehend damit befasst, unter welchen Bedingungen welche Behörde von welchen Gesetzen auf welche Weise abweichen darf. Diese Arbeit hätte längst beginnen sollen und ist nun schleunigst nachzuholen. Dass das Parlament auch in der Krise arbeitsfähig ist, hat es mit seinen umfangreichen Gesetzesbeschlüssen Ende März bewiesen. Über den relativ entspannten Sommer war erst recht viel Zeit dafür.

Das Ende März beschlossene Gesetz enthält noch viele weitere Bestimmungen. Darunter sei hier noch eine hervorgehoben: Die Gesundheitsämter können künftig vom Bundeskriminalamt Daten zu Fluggästen anfordern, sofern eine Fluggesellschaft diese Daten nicht, nicht rechtzeitig oder nicht vollständig freiwillig übermittelt. Hintergrund ist, dass das Bundeskriminalamt seit 2018 die Fluggastdaten aller Menschen sammelt, die nach oder von Deutschland fliegen. Diese anlasslose Fluggastdatenverarbeitung halten wir für grundrechtswidrig und haben wir deshalb vor den Europäischen Gerichtshof gebracht. Ob es in Ausnahmesituationen wie einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite sinnvoll ist, Fluggastdaten auszuwerten, wird eingängiger zu diskutieren sein. Jedenfalls zeigt die neue Befugnis einmal mehr, dass einmal erhobene Daten immer unvorhergesehene Begehrlichkeiten wecken.

B.6. Ist das bayerische Infektionsschutzgesetz verfassungskonform, das am 25. März 2020 verabschiedet wurde?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Der Landtag des Freistaates Bayern hat am 25. März 2020 ein bayerisches Infektionsschutzgesetz verabschiedet. Das Gesetz beinhaltet Regelungen, die die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems sicherstellen sollen, vor allem durch Material- und Personalbeschaffung. Beispielsweise werden Behörden ermächtigt, medizinisches Material (Atemschutzmasken etc.) zu beschlagnahmen oder auch ein Verkaufsverbot auszusprechen. Außerdem wird die Möglichkeit geregelt, Menschen zu Dienstleistungen zu verpflichten, etwa Ärzt*innen und Pfleger*innen im Ruhestand zur Mithilfe im Gesundheitssystem.

Hat Bayern die nötige Gesetzgebungskompetenz?

Problematisch an dem Gesetz ist, dass es bereits ein Infektionsschutzgesetz des Bundes gibt. Daher ist es fraglich, ob der Freistaat Bayern tatsächlich die Gesetzgebungskompetenz für ein eigenes Infektionsschutzgesetz hat. Sollte er keine Gesetzgebungskompetenz haben, wäre das bayerische Infektionsschutzgesetz verfassungswidrig. Weil aber nur das Bundesverfassungsgericht Gesetze verwerfen kann, ist es erst einmal wirksam.

Im Grundgesetz ist geregelt, dass Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung sind (Artikel 74 Absatz 1 Nr. 19 GG). Das bedeutet, dass die Länder nur Gesetze erlassen dürfen, „solange und soweit“ der Bund eine Materie (noch) nicht geregelt hat (Artikel 72 Absatz 1 GG). Der Bund hat von seiner Gesetzgebungskompetenz durch das Bundesinfektionsschutzgesetz Gebrauch gemacht, welches gerade geändert wurde. Bayern kann also nur Regelungen treffen, soweit dadurch die Materie nicht abschließend geregelt ist.

Die Begründung des bayerischen Infektionsschutzgesetzes lautet denn auch, dass der Bund den Infektionsschutz nicht abschließend geregelt hat, da er zwar Maßnahmen zur Verhinderung der Ausbreitung von Krankheiten getroffen hat, aber eben keine zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Das ließe sich allenfalls mit dem Argument vertreten, dass es im Bundesinfektionsschutzgesetzes deutlich stärker darum gehe, die Verbreitung einer Krankheit zu verhindern, durch Quarantäne, Beobachtung oder Tätigkeitsverbote.

Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages kam jedoch kürzlich zu einem anderen Ergebnis: In einem demLegal Tribune Online vorliegenden Gutachten kamen die Jurist*innen des Bundestages zu dem Ergebnis, dass § 5 Abs. 2 Nr. 4 IfSG eine Sperrwirkung in Bezug auf Regelungen zur Versorgung der Bevölkerung mit medizinischem und sanitärem Material bewirke. Durch den Umstand, dass der Bund diesen Sachbereich nicht geregelt habe, habe er zum Ausdruck gebracht, dass er entsprechenden Maßnahmen im Ergebnis ablehnend gegenüberstehe. Würde sich die Auffassung des wissenschaftlichen Dienstes bei einem Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht durchsetzen, würde drohen, dass das bayerische Infektionsschutzgesetz in großen Teilen nichtig ist.

Damit steht das bayerische Infektionsschutzgesetz also schon hinsichtlich der bayerischen Gesetzgebungskompetenz auf einem sehr wackeligen Fundament.

Wann ist das neue Gesetz anwendbar?

Das bayerische Infektionsschutzgesetz ist seit dem 27. März und, dies beruht auf einer Änderung im Gesetzgebungsverfahren, nur bis zum 31. Dezember 2020 in Kraft. Es gilt nur bei einem „Gesundheitsnotstand“, nämlich wenn in Folge der Verbreitung einer Krankheit die Versorgungssicherheit des öffentlichen Gesundheitssystems ernstlich gefährdet ist (Artikel 1 Absatz 1 BayIfSG). Dieser enge Anwendungsbereich dürfte verhindern, dass etwa bei zukünftigen Grippewelle Maßnahmen auf das neue Gesetz gestützt werden. Der Gesundheitsnotstand muss von der Landesregierung festgestellt werden, also dem Kabinett als Kollektivorgan, und er kann durch diese sowie durch Landtagsbeschluss beendet werden (Artikel 1 Absatz 1 BayIfSG).

Welche Regelungen sieht das Gesetz vor?

Besonders grundrechtsrelevant ist die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit, Menschen entsprechend ihrer Ausbildung zu Dienstleistungen im Gesundheitssystem heranzuziehen – soweit sie dadurch nicht unverhältnismäßig in ihrer Gesundheit oder körperlichen Unversehrtheit gefährdet werden (Artikel 6 BayIfSG). Denkbar wäre im Zusammenhang der Corona-Pandemie etwa, dass Ärzt*innen und Pfleger*innen im Ruhestand zur Mithilfe im Gesundheitssystem herangezogen würden. Solche Dienstleistungspflichten müssen sich an Artikel 12 Absatz 2 GG messen, welcher zwar Zwangsarbeit verbietet, davon aber „allgemeine und gleiche Dienstpflichten“ ausnimmt. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit einer solchen – nicht wirklich allgemeinen, und deshalb problematischen – Dienstpflicht erfahren Sie mehr in unserem Text zur Verfassungsmäßigkeit von Zwangsdiensten.

Zudem sind Maßnahmen geregelt, welche die Versorgung mit Material sicherstellen sollen. So können Behörden bei Menschen oder Einrichtungen, die Atemmasken in größerem Umfang vorrätig haben, diese zukünftig beschlagnahmen. Teilweise haben diese Regelungen die Befürchtung hervorgerufen, dass Behörden nun auch bei Gesundheitseinrichtungen die für Personal vorgesehene Schutzkleidung beschlagnahmen könnten. Auch „hortende“ Privatpersonen könnten theoretisch betroffen sein, dahingehend wird der Regelung vermutlich eher symbolische Bedeutung haben.

Für Dienstleistungen wie für Beschlagnahmen ist außerdem eine Pflicht zur Entschädigung der Betroffenen geregelt, wenn diese enteignende Wirkung hat (Artikel 7 BayIfSG).

Stichwahlen in der Bayerischen Kommunalwahl per Briefwahl

Schließlich wurde im gleichen Gesetzgebungsverfahren das Gemeinde- und Landkreiswahlgesetz geändert und geregelt, dass die Stichwahl bei den Bayerischen Kommunalwahlen am 29. März 2020 ausschließlich per Briefwahl durchgeführt wird. Briefwahlen sind verfassungsrechtlich nicht unproblematisch, weil Wahlen „geheim“ und „frei“ durchgeführt werden müssen (Artikel 38 Absatz 1 GG). Denn es lässt sich nicht sicherstellen, dass alle die Möglichkeit haben, unbeobachtet und unbeeinflusst ihre Stimme abzugeben. Die Wahlrechtsgrundsätze lassen sich nie in Reinform verwirklichen und der Gesetzgeber hat vor dem Hintergrund der mit den Wahlrechtsgrundsätzen verfolgten demokratischen Prinzipien einen gewissen Spielraum bei der Organisation von Wahlen. Einiges spricht dafür, dass die Durchführung einer regulären Wahl aktuell aufgrund des damit verbundenen Risikos der Verbreitung des Corona-Virus mit unverhältnismäßigen Risiken für Gesundheit und Leben der Bevölkerung verbunden wäre. Deshalb muss der Bayerische Landtag zwischen den mit einer Briefwahl einhergehenden Einbußen bei der Geheimheit und Freiheit der Wahl und einem Verschieben der Wahl auf einen unbestimmten Zeitpunkt abwägen.

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B.7 Darf Deutschland angesichts der Corona-Pandemie Grenzen schließen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Wie in zahlreichen anderen europäischen Staaten waren auch in Deutschland seit dem 20. März an vielen Grenzen nur noch bestimmte Übergänge offen, die streng kontrolliert werden – ein Vorgehen, das im Schengen-Raum nur in Ausnahmesituationen zulässig ist. Allerdings ist es fraglich, ob Grenzkontrollen überhaupt zur Eindämmung der Corona-Pandemie beitragen können. Gerade schutzsuchende Menschen dürfen auch im Notstands- oder Katastrophenfall nicht pauschal abgewiesen werden.

Nach einer Entscheidung des Bundesinnesministeriums (BMI) ließ die Bundespolizei an den Grenzübergängen zu Österreich, Frankreich, Luxemburg, Dänemark und in die Schweiz nur noch Reisende mit triftigem Reisegrund und ohne Krankheitssymptome passieren. Was private „triftige Reisegründe“ sind, überließ das BMI dem Ermessen der Beamten vor Ort. Zulässig waren außerdem der grenzüberschreitende Warenverkehr und Reisen aus berufsbedingten Gründen sowie der Grenzübertritt für die Rückkehr in einen EU-Heimatstaat. Diese Reisebeschränkungen galten ebenso für den Flug- und Schiffsverkehr nach Österreich, Spanien, Italien, Luxemburg, Dänemark und in die Schweiz, sowie für den Fern- und Regionalverkehr mit der Bahn.

Anders als das BMI hatte die EU-Kommission dringende private Gründe für einen Übertritt der EU-Außengrenzgen definiert: Ein- oder ausreisen durften Menschen aus zwingenden familiären Gründen sowie Schutzsuchende. Die Bundespolizei schien sich allerdings nicht an diesen Leitlinien zu orientieren. Asylsuchende wurden Presseberichten zufolge pauschal abgewiesen. Darüber hinaus waren auch Besuchsreisen zu Ehepartner*innen oder zum sorgeberechtigen Kind laut Bundespolizei nicht gestattet.

Von den Einreisebeschränkungen zu trennen ist die Frage nach der Zulässigkeit von Kontrollen an den deutschen Landesgrenzen zu anderen EU-Staaten. Nach dem Schengener Grenzkodex dürfen vorrübergehende Grenzkontrollen nur eingeführt werden, wenn „die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit in einem Mitgliedstaat ernsthaft bedroht“ ist (Artikel 25). Es müssen „außergewöhnliche Umstände“ vorliegen und Kontrollen dürfen nur das letzte Mittel der Wahl sein (Artikel 25 Absatz 2). Zudem gilt eine zeitliche Begrenzung von höchstens 30 Tagen oder für die Dauer der ernsthaften Bedrohung, bei einer Bedrohung für die gesamte EU von höchstens 6 Monaten.

Die Grenzkontrollen an den Landesgrenzen sind seit Juni 2020 aufgehoben. Die Reisebeschränkungen gegenüber Drittländern wurden allerdings nur teilweise aufgehoben. Im Allgemeinen ist die Einreise für Reisende aus Drittstaaten nur bei Vorliegen eines wichtigen Reisegrundes möglich. Davon ausgenommen sind Länder mit einem sehr geringen Infektionsgeschehen. In jedem Fall gelten bei Einreisen aus Risikogebieten Quarantäne- und Testpflichten (mehr dazu unter “Häusliche Quarantäne”).


C. Wie ist § 28 a Infektionsschutzgesetz zu bewerten, mit dem der Gesetzgeber durch die Änderung des Infektionsschutzgesetzes am 18. November 2020 eine neue Rechtsgrundlage für Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus eingeführt hat?

Der Deutsche Bundestag hat mit Gesetz vom 18. November 2020 das Infektionsschutzgesetzes (IfSG) geändert und u.a. einen neuen § 28a IfSG eingeführt. § 28a IfSG enthält einen beispielhaften Katalog von Schutzmaßnahmen, die zuständige Behörden sowie die Landesregierungen ergreifen können, um die Verbreitung von COVID-19 zu verhindern. § 28a IfSG präzisiert damit die gesetzliche Grundlage für Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie.

Bislang stützten die Länderregierungen die Rechtsverordnungen zur Eindämmung von COVID-19 auf eine Generalklausel in §§ 28 Abs. 1, 32 IfSG. Diese sehr pauschale Regelung ermächtigt die Landesregierungen, die „notwendigen Schutzmaßnahmen“ zur Eindämmung übertragbarer Krankheiten zu treffen. Was genau unter diesem unbestimmten Begriff zu verstehen ist definierte das Gesetz nicht. Rechtswissenschaftler*innen und Gerichte haben in den vergangenen Monaten kritisiert, dass die erheblichen Grundrechtseinschränkungen durch die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie eine präzisere gesetzliche Grundlage erfordern. Mit der Einführung von § 28a IfSG hat der Bundestag auf diese Kritik reagiert und den Rechtsbegriff der „notwendigen Schutzmaßnahmen“ präzisiert. § 28a IfSG listet beispielhaft, aber nicht abschließend auf, welche Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie möglich sind. Das stärkt die demokratische Legitimation der Maßnahmen der Länder, weil das Parlament einen Katalog von denkbaren Beschränkungen ausdrücklich gebilligt hat. Grundrechte werden durch dieses Gesetz nicht abgeschwächt oder gar beseitigt, das Gesetz erlaubt nur, dass durch bestimmte Maßnahmen in Grundrechte eingegriffen wird – wie es seit März 2020 geschieht.

Der gesetzliche Katalog enthält eine Liste von 17 Maßnahmen. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um die Maßnahmen, die in den letzten acht Monaten von Behörden auf kommunaler und auf Landesebene ergriffen wurden. Die Neuregelung im Infektionsschutzgesetz ordnet diese Maßnahmen nicht unmittelbar an, sondern stellt klar, dass die Länder berechtigt sind, die genannten Maßnahmen zu ergreifen. Daher greift der Katalog als solcher auch nicht in Grundrechte ein; am Maßstab der Grundrechte und insbesondere der Verhältnismäßigkeit sind stets die einzelnen Maßnahmen zu messen, die auf der Grundlage des Katalogs ergehen. Zu den Maßnahmen aus dem Katalog zählen beispielsweise das Abstandsgebot im öffentlichen Raum, die Maskenpflicht, Ausgangs- oder Kontaktbeschränkungen, aber auch Reisebeschränkungen und Ähnliches. Eine Hierarchie zwischen den Maßnahmen gibt das Gesetz nicht vor. Da der Katalog nicht abschließend ist, können die Länder weiterhin auch Maßnahmen vorsehen, die im Katalog nicht genannt sind. Das Gesetz schreibt ausdrücklich vor, dass die Verordnungen begründet werden müssen. Verordnungen sind zudem zwingend zeitlich befristet. In der Regel beträgt die Geltungsdauer vier Wochen, wobei eine Verlängerung möglich ist. Das sind für die Grundrechte der Bürger*innen zu begrüßende Vorgaben.

Fachleute hatten in den letzten Monaten zunehmend thematisiert, warum eine gesetzliche Konkretisierung erforderlich ist und wie eine Neuregelung aussehen solle. Die Rechtswissenschaft war sich weitgehend einig darüber, dass eine Neuregelung notwendig sei und der Handlungsbedarf mit fortschreitender Zeit dringlicher werde. Im Bundestag herrschte gleichwohl für längere Zeit Uneinigkeit über die Erforderlichkeit einer entsprechenden Anpassung. Nachdem aber auch in der Rechtsprechung die Frage nach der gesetzlichen Legitimation von Verordnungen in den Vordergrund rückte, setzte sich in der Großen Koalition die Auffassung durch, die Maßnahmen müssten im Gesetz konkreter benannt werden. Daraufhin erfolgte die Änderung des Infektionsschutzgesetzes in bemerkenswerter Geschwindigkeit: Der Gesetzentwurf wurde am 6. November 2020 eingebracht, das Gesetz schon am 18. November 2020 beschlossen. Das schnelle Handeln ist insofern positiv zu bewerten, als die Neuregelung grundrechtlichen und rechtsstaatlichen Bedürfnissen Rechnung trägt und es der Dringlichkeit der Aufgabe gerecht wird. Der Wortlaut des ursprünglichen Gesetzentwurfs war kritikwürdig, da er schwer verständlich war. Das führte zu zahlreichen Missverständnissen bis hin zur Sorge, Grundrechte würden vollends abgeschafft. Der Gesetzgeber hat die wesentliche Kritik am Gesetzentwurf ernst genommen; die letztlich verabschiedete Fassung des § 28a IfSG berücksichtigt einige Forderungen von Sachverständigen. Dennoch wirft es einen Schatten auf den Gesetzgebungsprozess, dass die Neuregelung breiter hätte diskutiert werden können, wenn der Gesetzgeber sich der Aufgabe früher angenommen hätte – spätestens in der Sommerpause.

C.1. Welche verfassungsrechtlichen Vorgaben müssen bei Entscheidungen über die Verteilung nicht ausreichender medizinischer Ressourcen beachtet werden („Triage“)?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 28.10.2020

Die Zunahme schwerer, durch das Corona-Virus verursachter Erkrankungsfälle wird das deutsche Gesundheitssystem an die Grenzen seiner Kapazitäten bringen. Es ist möglich, dass es zu Situationen kommen wird, in denen das medizinische Personal auswählen muss, welche Personen die lebensnotwendige intensivmedizinische Behandlung bekommen – und damit anderen Personen zugleich diese Behandlung zu versagen (sogenannte „Triage“). Eine gesetzliche Regelung, welche Auswahlkriterien diese schwierige Entscheidung leiten sollen, fehlt bislang. Allerdings haben sieben ärztliche Fachgesellschaften dazu inzwischen klinisch-ethische Empfehlungen (2. Fassung vom 17.4.2020) herausgegeben. Zudem hat der Deutsche Ethikrat sich in einer ad-hoc-Empfehlung geäußert. Im Oktober 2020 hat die Konrad-Adenauer-Stiftung die Ergebnisse einer Befragung europäischer Intensivmediziner*innen veröffentlicht.

Die Regelung der Triage, die tief in die wichtigsten Grundrechte der unmittelbar betroffenen Personen eingreift, muss der Gesetzgeber treffen. Dem Grundgesetz lässt sich lediglich entnehmen, dass bestimmte Regelungsmodelle verfassungswidrig sind. Eine gesetzliche Regelung, welchen Auswahlkriterien die Triage zu folgen hat, müsste sich an der Garantie der Menschenwürde (Artikel 1 Abs. 1 GG) und am sich daraus ableitenden Diskriminierungsverbot (Artikel 3 Abs. 3, Abs. 1 GG) messen lassen.

Welche Anknüpfungspunkte für eine Triage sind nach deutschem Verfassungsrecht ausgeschlossen?

Offensichtlich verboten wäre es, Menschen aufgrund von „Rasse“ oder sozialem Status auszuwählen (Artikel 3 Abs. 3 GG). Wenngleich eine unmittelbar an diesen Merkmalen anknüpfende Selektion aktuell undenkbar ist, ist es dennoch nicht müßig, diese Verbote zu wiederholen: Strukturelle Diskriminierung von Menschen aufgrund dieser Merkmale lässt sich auch in Deutschland in allen Lebensbereichen nachweisen. Auch beim Zugang zu Gesundheitsversorgung ist es zentral, dass alle Beteiligten eigene, zumeist unbewusste Denkmuster und Vorannahmen kritisch hinterfragen und beispielsweise geschilderte Krankheitsverläufe gleichermaßen ernst nehmen.

Weiter dürfen Entscheidungskriterien Menschen nicht wegen Merkmalen der Behinderung (Artikel 3 Abs. 3 Satz 3 GG) oder ihres Alters (Artikel 3 Abs. 1 GG) diskriminieren. Eindeutig verfassungswidrig wäre daher z.B. eine Regelung, die eine Auswahl zuließe, die sich direkt an Alter oder Behinderungen der behandlungsbedürftigen Personen orientierte. Sehr problematisch sind aber auch Regelungen, die zwar nicht direkt an Alter oder Behinderungen anknüpfen, aber praktisch besonders alte oder behinderte Menschen betreffen. Das ist etwa der Fall, wenn sich die Triage (auch) nach der prognostizierten Restlebensdauer richten soll. Denn ein solches Kriterium benachteiligt strukturell natürlich alte Menschen und solche mit bestimmten Vorerkrankungen und Behinderungen.

Das Kriterium prognostizierter Restlebensdauer ist aber nicht nur diskriminierungsanfällig, sondern auch schwer mit dem Konzept der Menschenwürde des Grundgesetzes vereinbar. Menschliche Würde heißt, dass jedem Menschen um seiner selbst willen ein von der staatlichen Gewalt unbedingt zu achtender Wert zukommt. Die Menschenwürde verbietet damit rechtliche Regelungen, die ein Menschenleben für weniger wertvoll erklären als ein anderes. Der Gesetzgeber darf daher nicht die Rettung des Lebens eines jungen Menschen um den Preis des Lebens eines alten Menschen anordnen. Ausdrücklich hat das Bundesverfassungsgericht in seiner – nicht unumstrittenen – Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz von 2006 festgestellt, dass der Schutz des Lebens von Menschen nicht deshalb weniger wert sei, weil diese ohnehin dem Tod geweiht seien: „Menschliches Leben und menschliche Würde genießen ohne Rücksicht auf die Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen gleichen verfassungsrechtlichen Schutz“ (BVerfGE 115, 118, Rn. 132). Mit dieser Rechtsprechung lässt es sich schlecht vereinbaren, dass eine Auswahl nach verbleibender Restlebensdauer eine Wertigkeit vornimmt und dem Leben von Menschen, das voraussichtlich noch länger dauern wird, den Vorzug gibt. Verfassungsrechtler*innen gehen deshalb mehrheitlich davon aus, dass Restlebensdauer kein nach dem Grundgesetz zulässiges Kriterium ist (s. Prof. Mathias Hong auf dem Verfassungsblog sowie Prof. Till Zimmermann auf LTO).

Schließlich wäre auch eine Regelung, nach der die einmal begonnene, lebensnotwendige und weiterhin nicht aussichtslose Behandlung eines Menschen abgebrochen würde, um eine andere Person zu retten, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht mit der Menschenwürde vereinbar. In seiner Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz hat es nämlich entschieden, dass der Gesetzgeber nicht die Tötung unschuldiger Menschen an Bord eines entführten Flugzeugs gebieten darf, selbst wenn damit verhindert würde, dass bei einem terroristischen Anschlag nicht nur die Leben der an Bord befindlichen, sondern zusätzlich eine größere Anzahl von Menschen mit in den Tod gerissen würden (BVerfGE 115, 118). Im Kern beziehen sich die Aussagen des Bundesverfassungsgerichts damit nur auf gesetzliche Regelungen, die eine gezielte Tötung von unschuldigen Menschen durch aktives Tun zur Rettung anderer erlauben. Diese Konstellation ist mit der Situation auf einer Intensivstation vergleichbar, wenn die lebensnotwendige medizinische Behandlung einer Person bereits begonnen wurde, nun aber eine andere behandlungsbedürftige Person eingeliefert wird, deren Behandlung gesetzlich aus bestimmten Erwägungen für vorrangig erklärt wird. Dieser Wertung hat sich auch der Deutsche Ethikrat angeschlossen.

Wenn die klinisch-ethischen Empfehlungen gleichwohl auch in dieser Situation eine Priorisierung vorsehen, so bewegen sie sich damit in verfassungsrechtlicher Hinsicht auf einem sehr schmalen Grat. Wird die – noch einmal: nicht unumstrittene – Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ernst genommen, dürfte der Gesetzgeber eine solche Regelung nicht erlassen. Eine individuell verantwortete Gewissensentscheidung kann anderen Grundsätzen folgen und mag dennoch rechtmäßig sein (zu den möglichen strafrechtlichen Konsequenzen für medizinisches Personal siehe unten). Abstrakt-generelle Richtlinien von Standesverbänden sollten aber selbst dann keine verfassungswidrigen Auswahlkriterien enthalten, wenn klar ist, dass es sich dabei lediglich um Empfehlungen für das medizinische Personal ohne rechtliche Bindungswirkungen handelt.

Welche verfassungsrechtlich zulässigen Kriterien für eine Triage werden diskutiert?

Verfassungsrechtlich herrscht darüber hinaus wenig Eindeutigkeit. Es kann hier daher nur der Stand der aktuellen verfassungsrechtlichen Diskussion umrissen werden.

Zulässig scheint es zunächst, Menschen von einer Versorgung auszuschließen, bei denen auch bei Behandlung keine realistische Überlebenschance bestehen („Aussichtslosigkeit“, so auch die ethisch-klinischen Empfehlungen). Als mögliche Kriterien werden sodann verfassungsrechtlich folgende Möglichkeiten diskutiert: Die Maximierung der Zahl von Menschenleben durch das Kriterium der „Überlebenswahrscheinlichkeit“, eine zeitliche Priorität und ein reines Zufallsprinzip.

Der ethisch-klinischen Empfehlung der ärztlichen Fachgesellschaften und wohl auch der Praxis in der Schweiz liegt die Prämisse zugrunde, die Zahl der zu rettenden Menschenleben zu maximieren („Rettungseffizienz“). Deshalb schlägt sie vor, in der Gruppe der Patient*innen, die einer Priorisierung überhaupt offenstehen, die individuelle Überlebenswahrscheinlichkeit der Behandlung bei Einsatz intensivmedizinischer Behandlung als Entscheidungskriterium heranzuziehen.

Inwiefern sich Grundsätze aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz zur verfassungsrechtlichen Beurteilung dieses Kriteriums heranziehen lassen, ist schwierig und wird unterschiedlich beurteilt. Direkt übertragbar sind sie nicht, denn in diesem Fall ordnete eine gesetzliche Regelung nicht die Tötung einer Person durch aktives Tun zur Rettung einer anderen Person an, sondern träfe nur eine Entscheidung, welche Person gerettet werden muss. Auch wird durch das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit keine Wertigkeit zwischen verschiedenen Menschenleben vorgenommen, sondern lediglich der Versuch unternommen, durch effizienten Einsatz der zur Verfügung stehenden Kapazitäten zahlenmäßig möglichst viele Menschenleben zu retten (für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit deshalb Prof. Mathias Hong auf Verfassungsblog).

Dem kann entgegengehalten werden, dass die Menschenwürde auch eine zahlenmäßige Abwägung oder Aufrechnen von Leben gegeneinander ausschließen soll: Ein Menschenleben ist nicht weniger wert als zwei. Deshalb, so lässt sich argumentieren, ist ein Mensch mit höherer Überlebenschance nicht schutzwürdiger als ein anderer, nur weil möglicherweise die Zahl der geretteten Menschenleben erhöht wird. Zudem birgt auch das Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit die Gefahr einer mittelbaren Diskriminierung von Menschen höheren Alters oder mit Vorerkrankungen und Behinderungen, soweit sich diese auf die Überlebenschance auswirken. Im Einzelfall kann das dazu führen, dass ältere, vorerkrankte oder behinderte Personen im Wettbewerb um die besseren Überlebenschancen schlechte Chancen hätten (deutlich kritischer hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit deshalb Prof. Till Zimmermann auf LTO).

Verfassungsrechtlich diskutiert wird deshalb zudem, unter den Patient*innen völlige Chancengleichheit herzustellen, und zum Beispiel einzig nach zeitlicher Priorität zu gehen und dabei allenfalls diejenigen auszuschließen, bei denen eine Behandlung keine Erfolgsaussicht hat. Ergebnis wäre dann, dass bei einer solchen Herangehensweise zahlenmäßig möglicherweise weniger Menschen überleben. Auch könnte es sein, dass einem ansonsten gesunden Dreißigjährigen die Behandlung versagt werden muss, und einer vorerkrankten Achtzigjährigen der Vortritt zu gewähren ist. Dafür findet aber keine Abwägung von Menschenleben gegeneinander statt und jede einzelne Person hat eine gleiche Chance auf Behandlung, auch wenn ihre Überlebenschancen aufgrund von Alter, Erkrankungen oder Behinderungen geschmälert sind. Aus gleichen Gründen ist auch ein reines Zufallsprinzip denkbar, in Reinform oder gegebenenfalls ergänzend, wenn eine zeitliche Priorität nicht festgestellt werden kann.

Macht sich medizinisches Personal strafbar, wenn es nach unzulässigen Kriterien eine Auswahl unter Patient*innen trifft?

Während der Staat also aufgrund seiner Grundrechtsbindung bestimmte Auswahlkriterien nicht gesetzlich anordnen darf, sagt diese Wertung noch nichts darüber aus, ob medizinisches Personal, das nach diesen Kriterien handelt, sich strafbar macht.

Wenn es um die Auswahl der Personen geht, bei denen eine Behandlung begonnen werden soll, also zwei gleichrangige Pflichten zur Lebensrettung miteinander kollidieren, dann macht sich medizinisches Personal weder eines Tötungsdelikts noch einer unterlassenen Hilfeleistung strafbar. Das gilt selbst dann, wenn diese Entscheidung auf der Grundlage von Kriterien erfolgt, die verfassungsrechtlich unzulässig wären. Denn das Strafrecht verlangt nur, dass die behandelnden Personen einen der beiden Kranken retten, nicht, dass ihre Auswahl auch den Maßstäben folgt, die verfassungsrechtlich an das Handeln des Staates anzulegen sind.

Darf das medizinische Personal eine einmal begonnene lebenserhaltende Behandlung eines Menschen abbrechen, um eine andere Person zu retten?

Anders fällt die rechtliche Bewertung aus, wenn die medizinische Behandlung einer Person bereits begonnen und diesem Menschen dadurch eine konkrete Überlebenschance eröffnet wurde. Wenn ein Mensch zum Beispiel an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird und damit sein Überleben nicht ausgeschlossen ist, dann ist das Ausschalten dieses Geräts, um damit ein anderes Menschenleben zu retten, als aktive Tötung verboten. Weil Menschenleben gleichwertig sind, scheidet insbesondere ein rechtfertigender Notstand nach § 34 StGB aus (so auch Prof. Hilgendorf auf LTO). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Zusammenhang mit dem Behandlungsabbruch in Konstellationen der Sterbehilfe (BGH, NJW 2010, 2963). Diese Rechtsprechung bezieht sich auf Fälle, in denen der Wille des*r Patient*in feststeht, die medizinische Behandlung nicht fortzusetzen und zu sterben. Sie ist deshalb nicht übertragbar (hierzu s. Prof. Reinhard Merkel in der FAZ; anders aber anscheinend Prof. Elisa Hoven im FAZ Einspruch).

Ob die Strafbarkeit solcher Tötungshandlungen dennoch ausnahmsweise entfällt, weil das medizinische Personal in einer Situation des sogenannten „übergesetzlichen Notstands“ handelt und eine ethisch vertretbare Entscheidung getroffen hat, wird unterschiedlich beurteilt, ist aber eher zweifelhaft.

Deshalb ist es ausgesprochen problematisch, dass die ethisch-klinischen Empfehlungen eine Triage auch bei begonnener Behandlung vorschlagen (s. klinisch-ethische Empfehlungen, S. 8 f.): Medizinisches Personal, das diesen Empfehlungen folgt, setzt sich einem beträchtlichen strafrechtlichen Risiko aus.

Wer ist zuständig für eine Entscheidung über die Kriterien der Auswahl – ärztliche Fachgesellschaften, Bundestag oder Länderparlamente?

Es ist nicht nur verständlich, sondern lobenswert, dass ärztliche Fachgesellschaften nun Empfehlungen abgeben, um Kolleg*innen mit zukünftig möglicherweise anstehenden, menschlich schwierigen Entscheidungen nicht allein zu lassen. Verfassungsrechtlich ist das aber nicht unproblematisch. Es spricht nämlich einiges dafür, dass es eine staatliche („hoheitliche“) Aufgabe ist, Kriterien zu entwickeln, anhand derer zu rettende Menschen ausgewählt werden. Soweit nämlich im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge über Menschenleben entschieden wird, besteht eine dahingehende grundrechtliche Schutzpflicht aus dem Recht auf Leben und der Menschenwürde (Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 iVm Artikel 1 Abs. 1 Satz 2 GG). Der Staat muss sicherstellen, dass die Entscheidungskriterien diese Grundrechte ausreichend berücksichtigen. Die Verfassung macht dabei keine eindeutigen Vorgaben, sondern lässt dem Gesetzgeber einen Spielraum.

Für positive Handlungsanweisungen an das Krankenhauspersonal ist in Ermangelung spezieller Zuständigkeiten des Bundes und aufgrund der Sachnähe zur Gesundheitsversorgung eine Zuständigkeit der Landesgesetzgeber nach Artikel 70 Abs. 1 GG naheliegend. Durch Änderungen im Strafgesetzbuch könnte der Bundestag jedoch die Strafbarkeit ärztlichen Handelns ändern und zum Beispiel spezielle Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe für medizinisches Personal regeln, wenn diese im Rahmen eines „Gesundheitsnotstandes“ eine begonnene Behandlung bei einer*m Patient*in zugunsten eines*r anderen beenden.

C.2. Muss der Staat Freiberufler*innen, Selbständigen und Arbeitnehmer*innen helfen, die wegen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie praktisch kein Einkommen mehr haben?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 28.10.2020

Alle Menschen in Deutschland haben ein Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, abgeleitet aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen und materielle Unterstützung gewähren, wenn jemandem die für ein menschenwürdiges Dasein notwendigen materiellen Mittel fehlen (vgl. BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 -, Rn. 134). Zudem hat sich die Bundesregierung mit dem UN-Sozialpakt zur Gewährleistung spezifischer sozialer Rechte verpflichtet, darunter auch das Recht auf angemessene Lebensbedingungen, einschließlich einer angemessenen und geschützten Unterkunft.

Freiberufler*innen und Solo-Selbstständige sind besonders von den derzeitigen staatlichen Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona betroffen. Veranstaltungen müssen abgesagt werden, Sportstudios und kleine Geschäfte müssen schließen: Wer als freiberufliche*r Fotograf*in, Eventmanager*in, Yogalehrer*in oder als Blumenlieferant*in keine Rücklagen bilden konnte, steht derzeit vor existenziellen Problemen. Auch Arbeitnehmer*innen sind betroffen. Gerade in kleineren Betrieben können Lohnfortzahlungen bei Arbeitsausfall wegen Schließungen oder Kinderbetreuung nicht garantiert werden. Viele Betroffene fragen sich, wie sie im nächsten Monat die Miete und andere laufende Ausgaben zahlen sollen. Das Infektionsschutzgesetz sieht nur in sehr begrenztem Umfang Entschädigungen für Infektionsschutzmaßnahmen vor. Nach § 56 können Erkrankte oder Krankheitsverdächtige, denen eine Quarantäne oder ein Berufsverbot verordnet wurde, eine Entschädigung für Verdienstausfälle erhalten. Aber die meisten Menschen sind nicht von solchen Einzelfallanordnungen, sondern von den allgemeinen Schließungsanordnungen betroffen. Um dem verfassungsrechtlich verbürgten Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum in der Krise zur Wirksamkeit zu verhelfen, bedurfte – und bedarf es nun wieder – schneller und unbürokratischer Hilfen. In der Wahl der Mittel sind die Bundesregierung, Landesregierungen und Kommunen frei. Die Mittel müssen jedoch geeignet sein, allen Menschen in Deutschland eine menschenwürdige Existenz zu sichern – trotz sinkender Bearbeitungskapazitäten und einer akut steigenden Anzahl der von Armut Betroffenen.

C.3. Was kann der Staat tun, um einen angemessenen und geschützten Wohnraum zu sichern und Menschen vor Obdachlosigkeit zu schützen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

In Zeiten von Quarantäne und Ausgangsbeschränkungen sind stabile und angemessene Wohnverhältnisse besonders wichtig. Das Recht auf eine angemessene Unterkunft ist in Artikel 11 Absatz 1 des UN-Sozialpakts garantiert. Dazu gehört nach den Empfehlungen des UN-Sozialausschusses neben dem Schutz vor Zwangsräumungen auch die ausreichende Versorgung mit Wasser, Heizung und Strom. Auch das grundrechtlich garantierte Existenzminimum schließt eine angemessene Unterkunft mit ein (vgl. BVerfGE, 9. Februar 2010- 1 BvL 1/09 -, Rn. 135). Eine ausreichende Energieversorgung zum Heizen, Kochen und Betreiben üblicher elektrischer Geräte wie beispielsweise Telefone ist ebenfalls vom Existenzminimum erfasst (vgl. auch Sachverständigenrat für Umweltfragen, Gutachten 2016, Tenorziffer 200). Gerade um in diesen Zeiten einen angemessenen Zugang zu Informationen zu gewährleisten, muss auch ein Internetzugang garantiert sein (vgl. BGH, Urteil vom 24. Januar 2013, III ZR 98/12).

Durch die Corona-Krise werden Zahlungsrückstände in den nächsten Wochen und Monaten –wie schon im Frühjahr 2020 – zunehmen. Um Betroffene zu schützen hatte der Bundestag am 25. März ein Moratorium für Mieter, Strom- und Internetkunden (und Kreditnehmer*innen) beschlossen. Bis Ende Juni durften die jeweiligen Vertragspartner keine Kündigungen aussprechen, wenn Zahlungsrückstände auf den Maßnahmen zum Schutz vor Coronavirus beruhten. Betroffene konnten diesen Zusammenhang durch eidesstattliche Versicherung oder durch entsprechende Dokumente glaubhaft machen. Diese Regelung ist zum 1. Juli 2020 ausgelaufen. Seitdem müssen die Verpflichtungen wieder erfüllt werden; zwischen April und Juni 2020 aufgelaufene Schulden müssen aber erst zum 30. Juni 2022 beglichen werden.

C.4. Welche Verpflichtungen hat den Staat in der Corona-Krise gegenüber Menschen mit Behinderungen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Gemäß Artikel 11 der UN-Behindertenrechtskonvention ist Deutschland verpflichtet, in Gefahrensituationen, einschließlich humanitären Notlagen und Naturkatastrophen, den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Das klingt zunächst selbstverständlich – tatsächlich sind Menschen mit Behinderungen aber von Gefahren oft besonders stark betroffen. Aktuell haben Menschen, die dringend auf technische Hilfsmittel wie E-Rollstühle angewiesen sind, besonders große Schwierigkeiten, diese warten und reparieren zu lassen – und haben faktisch jede Bewegungsfreiheit verloren. Menschen, die für ein selbstbestimmtes Leben auf Assistenz angewiesen sind, müssen mit Ausfällen rechnen, mit möglicherweise fatalen Konsequenzen. Der Staat ist daher verpflichtet, solche besonderen Gefahrenlagen zu identifizieren und kurzfristig und kreativ Abhilfe zu schaffen.

Zentral ist angesichts der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus auch, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Informationen in zugänglichen („barrierefreien“) Formaten haben. Das betrifft insbesondere Menschen mit Hör-, Seh- und kognitiven Beeinträchtigungen. Oft werden Pressekonferenzen und Nachrichten noch nicht übersetzt und untertitelt, insbesondere im „Offline“-Fernsehangebot. Dafür, dass Informationen, etwa Nachrichten und Pressekonferenzen der Bundesregierung, durchgehend in Gebärdensprache übersetzt werden, setzt sich aktuell eine Petition auf change.org ein (change.org/CoronaInfos). Einige staatliche Stellen bemühen sich um Abhilfe: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung bietet ein Erklärvideo zum neuartigen Coronavirus in Gebärdensprache, das Bundesgesundheitsministerium gibt Informationen in Leichter Sprache heraus. Seit dem 17. März übersetzt das Robert Koch-Institut seine Pressebriefings in Gebärdensprache, das Bundesministerium für Arbeit und Soziales bietet ein Gebärden-Infotelefon an.

Menschen mit Behinderungen haben zudem ein Recht auf angemessene gesundheitliche Versorgung. So sind viele Menschen auch beim Arztbesuch oder im Krankenhaus auf technische Hilfsmittel, tierische oder menschliche Assistenz angewiesen. Oder sie bedürfen verständlicher Erklärungen in Leichter Sprache, um in eine gesundheitliche Maßnahme informiert einwilligen zu können. Im Zusammenhang mit zunehmend ausgelasteten Gesundheitssystemen und insbesondere Quarantäne-Maßnahmen kann das für die Gesundheitsversorgung Herausforderungen bedeuten. Wichtig ist es, die erhebliche Bedeutung für die Grund- und Menschenrechte der betroffenen Personen anzuerkennen – und angemessene Vorkehrungen zu treffen. Das gilt insbesondere auch für den Fall, dass Menschen mit Behinderungen an COVID-19 erkranken. Sie dürfen dann gegenüber Menschen ohne Behinderungen nicht benachteiligt werden (zu Auswahlentscheidungen bei Ressourcenknappheit).

Weitergehende Informationen zum Recht von Menschen mit Behinderungen auf Schutz und Sicherheit in der Katastrophenhilfe finden sich in der Studie des UN Hochkommissariats für Menschenrechte von 2015 und beim Deutschen Institut für Menschenrechte.

C.5. Was kann der Staat tun, um Asylsuchende in Sammel- bzw. Gemeinschaftsunterkünften zu schützen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Die Auswirkungen der Corona-Krise sind für Asylsuchende, die auf engstem Raum in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, besonders gravierend. Durch die geteilten Schlafzimmer, die gemeinsam genutzten Küchen und Sanitäranlagen und die hohe Anzahl von Bewohner*innen kann sich das Virus dort schnell ausbreiten. Der vorgeschriebene Abstand zu Mitmenschen kann in Sammelunterkünften nicht eingehalten werden. In vielen Unterkünften sind Bewohner*innen bereits positiv auf das Virus getestet worden. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen stieg im Frühjahr 2020 die Zahl der Infizierten innerhalb von zwei Wochen von 7 auf 313 Geflüchtete. Ein Bewohner des Ankerzentrums Schweinfurt starb am 20. April 2020 an der Infektion. Die Reaktionen unterscheiden sich nach Bundesland und Betreiber erheblich. In manchen Unterkünften führen Krankheitsfälle zu strenger Isolation aller Bewohner*innen. Wegen der ohnehin beengten Verhältnisse führt dies dazu, dass Menschen zu viert in einem kleinen Zimmer in Quarantäne gehalten werden oder sie werden in polizeilich abgeriegelten Quarantänebereichen untergebracht. In anderen Unterkünften bewegen sich die Bewohner*innen trotz bestätigter Infektionsfälle weiterhin uneingeschränkt.

Nach dem Infektionsschutzgesetz muss die zuständige Behörde die notwendigen Maßnahmen treffen, um die durch Corona drohenden Gefahren abzuwenden (§ 16 Absatz 1 Satz 1 und § 28 Absatz 1). Zum Infektionsschutz sind bundesweit Betreuungseinrichtungen für Kinder geschlossen und Veranstaltungen und sonstige Ansammlungen größerer Zahlen von Menschen stark eingeschränkt. Vor diesem Hintergrund ist es ein offensichtlicher Wertungswiderspruch, dass die Bundesländer die Sammelunterkünfte in der bisherigen Form aufrechterhalten.

Um ihren Schutzpflichten nachzukommen, sind die Bundesländer gehalten, Geflüchtete, soweit möglich, dezentral unterzubringen, z.B. in leeren Wohnungen, Hotels oder kleineren Einrichtungen. Das Asylgesetz sieht vor, dass die Verpflichtung, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge beendet werden kann (§ 49 Absatz 2 AsylG). Bei ernstlichen infektionsspezifischen Gefahren verbleibt den Behörden kein Ermessensspielraum. Das sah auch das Verwaltungsgericht Leipzig so und gab am 22. April 2020 dem Eilantrag eines Bewohners der Aufnahmeeinrichtung Dölzig auf dezentrale Unterbringung statt. Das Gericht stellte fest, dass die Abstandsregeln in der Unterkunft nicht eingehalten werden können und daher nach § 49 Abs. 2 AsylG eine Verlegung möglich und auch geboten sei. Das Verwaltungsgericht Dresden entschied am 24. April 2020, dass eine hochschwangere Asylsuchende wegen des Infektionsrisikos nicht weiter in der Erstaufnahmeeinrichtung in Dresden wohnen muss. Diese Entscheidungen sind ein wichtiges Signal an alle Landesregierungen, alternative Unterbringungsmöglichkeiten zu organisieren.

In Bremen und Bayern haben die Flüchtlingsräte bereits Anfang April 2020 gegen die Verantwortlichen der Landesregierungen Strafanzeigen gestellt – wegen Verstoßes gegen die dort geltenden Verordnungen und Allgemeinverfügungen zur Corona-Bekämpfung. Durch den Betrieb der Unterkünfte werden die angeordneten Abstandsgebote, Versammlungs- und Gastronomieverbote verletzt. Die Staatsanwaltschaft Bremen stellte das Verfahren am 20. April 2020 ohne Ermittlungen ein, da sie davon ausgeht, dass die Bewohner*innen einer Unterkunft zum gleichen Haushalt gehören. Die Anzeige hat dennoch erheblich dazu beigetragen, den öffentlichen Druck auf die Landesregierung zu erhöhen.

Eine dezentrale Unterbringung ist zudem erforderlich, um im Fall von Quarantäne oder Ausgangssperren eine menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten sicherzustellen. Nach dem Infektionsschutzgesetz müssen die Behörden die Allgemeinheit über die Gefahren und Verhütungsmöglichkeiten aufklären (§ 3 IfSG). Mehrsprachige Informationen zum Coronavirus hat die Bundesbeauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration veröffentlicht. Die Nichtregierungsorganisation Pro Asyl aktualisiert zudem fortlaufend einen Newsticker mit Corona-Informationen für Geflüchtete und Ihre Unterstützer*innen.

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C.6. Was ist, wenn Menschen krank werden, die ohne gültige Papiere und ohne Krankenversicherung in Deutschland leben? Welche Rechte haben sie in der Corona-Krise?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Für Menschen ohne Papiere ist die Corona-Krise eine existenzielle Bedrohung. Wer in Deutschland keine Aufenthaltspapiere hat, meidet aus Angst vor Abschiebung den Arztbesuch. Denn um in einer Praxis oder im Krankenhaus behandelt zu werden, müssen Menschen ohne Papiere zuvor beim zuständigen Sozialamt einen Krankenschein beantragen. Das Sozialamt ist gesetzlich verpflichtet, die Person bei der Ausländerbehörde zu melden. Die leitet wiederum die Abschiebung in die Wege.

Diese Meldepflicht in § 87 Absatz 1 und 2 AufenthG ist nicht nur datenschutzrechtlich problematisch, sie verletzt auch das Recht auf eine gesundheitliche Minimalversorgung. Dementsprechend hat sich der UN-Sozialausschuss nachdrücklich für die Aufhebung der bestehenden Übermittlungspflichten der Sozialbehörden im Gesundheitsbereich ausgesprochen. Einige Bundesländer haben dieses Problem über anonyme Krankenscheine gelöst.

Während der aktuellen epidemischen Krise ist die Meldepflicht auch deswegen hochproblematisch, weil Covid-19-Erkrankungen dadurch möglicherweise gar nicht oder erst bei Eintreten eines medizinischen Notfalls festgestellt werden. Dadurch erhöht sich die Ansteckungsgefahr für Menschen im Umfeld der Betroffenen und das Virus kann sich schneller ausbreiten. Den Staat trifft daher aktuell eine erhöhte Schutzpflicht, eine gesundheitliche Versorgung für Menschen sicherzustellen, die nicht krankenversichert sind.

Die Bundesländer, in denen es bislang kein funktionierendes System anonymer Krankenscheine gibt, könnten beispielsweise Praxen und Krankenhäusern in Covid-19-Verdachtsfällen eine unbürokratische Erstattung der Kosten zusichern, ohne dass Betroffene zuvor einen Krankenschein beantragen müssen. Berlin hat die Pandemie zum Anlass genommen, um die Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Krankenversicherung zu verbessern. Seit dem 14. April 2020 können Betroffene über die Clearingstelle für nicht krankenversicherte Menschen einen Kostenübernahmeschein erhalten, der sie berechtigt, bei allen niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzten in Berlin eine medizinische Behandlung zu erhalten.

Die besonderen Meldepflichten für Covid-19-Erkrankungen nach § 6 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und § 7 Absatz 1 Satz 1 des Infektionsschutzgesetzes sind für undokumentierte Migrant*innen aufenthaltsrechtlich weniger problematisch. Die Gesundheitsdaten, die an das Gesundheitsamt weitergegeben werden, enthalten keinen Hinweis auf den Aufenthaltsstatus. Das Gesundheitsamt gibt diese Daten wiederum nur anonymisiert an die Landesbehörde und das Robert Koch-Institut weiter.

C.7. Wie beeinflusst die erhöhte Infektionsgefahr in Gefängnissen die Verhältnismäßigkeit von Haft?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Im Gefängnis ist soziale Distanzierung unmöglich. Geteilte Zellen, gemeinschaftlich genutzte Waschräume und Essenssäle befördern eine rasante Ausbreitung des Virus. Gleichzeitig ist der Anteil an Risikopatienten besonders hoch, da viele Insassen an Vorerkrankungen wie HIV oder Hepatitis leiden. In einigen Haftanstalten haben sich bereits zu Beginn der Pandemie mehrere Gefangene mit dem Corona-Virus infiziert.

Unter diesen Bedingungen erhöhter Ansteckungs- und Lebensgefahr trifft den Staat eine besondere Schutzpflicht. Er muss die Verhältnismäßigkeit von Freiheitsstrafen neu bewerten und genau prüfen, welche Freiheitsstrafen derzeit wirklich vollstreckt werden müssen.

Die Bundesländer haben die besondere Gefahr einer Ausbreitung des Virus im Gefängnis erkannt und erste Maßnahmen getroffen. In vielen Bundesländern sind sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen ausgesetzt. Von solchen Freiheitsstrafen sind Menschen betroffen, die verhängte Geldstrafen, z.B. für Beförderungserschleichung (Nutzung des ÖPNV ohne gültiges Ticket) oder andere kleinere Delikte, nicht gezahlt haben. In Berlin müssen kurze Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren derzeit nicht angetreten werden. In einigen Bundesländern schlossen im Frühjahr Jugendarrestanstalten.

Für die verbleibenden Gefangenen gibt es in allen Bundesländern massive Einschränkungen ihrer Rechte: Besuche sind auf wenige Stunden im Monat begrenzt, was für viele Gefangene eine starke Belastung ist. Für Familien stellen die Besuchsbeschränkungen zudem einen Eingriff in das Grundrecht auf Schutz der Familie aus Art. 6 Abs. 1 GG dar. Weitestgehend ausgesetzt sind auch Arbeitsmöglichkeiten, Bildungsangebote, Gruppentherapien und Freizeitangebote. Diese Beschränkungen verletzen den verfassungsrechtlich verankerten Recht der Gefangenen auf Resozialisierung, das auf dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip basiert (vgl: Pandemie und Strafvollzug: Auswirkungen der Krise auf den Schutz von Ehe und Familie und die Resozialisierung). Um der staatlichen Pflicht zum Schutz der Gesundheit gerecht zu werden, ohne die Resozialisierung zu gefährden, sollten alle Bundesländer daher die Zahl der Inhaftierten vorübergehend so weit wie möglich minimieren. Besonders bei Menschen, die einer Risikogruppe angehören und von denen erkennbar keine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, sollte sorgfältig geprüft werden, ob es in der aktuellen Situation eine Alternative zur Inhaftierung gibt. Dies erleichtert bei den übrigen Gefangenen die Einhaltung von Abstandsregeln und die Gewährleistung menschenwürdiger Quarantänebedingungen.

C.8. Welche Pflichten hat der Staat angesichts der erwarteten Zunahme häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder im Zuge der Ausgangsbeschränkungen?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Ausgangsbeschränkungen und Schulschließungen, Unsicherheit und Existenzängste bilden einen Nährboden für häusliche Gewalt, vor deren drastischer Zunahme unter anderen der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter und die Zentrale Informationsstelle Autonomer Frauenhäuser im Frühjahr 2020 warnten. Berichte aus China, nach denen die häusliche Gewalt um ein Dreifaches im Zuge der Corona-Epidemie gestiegen sein soll, unterstützten diese Einschätzung. Leider hat sich diese Sorge bewahrheitet: Laut Polizeidaten und Berichten von Frauenhäusern stiegen die Übergriffe enorm. Betroffen sind vor allem Frauen und Kinder, denen gegenüber der Staat eine besondere Schutzpflicht hat.

Für gefährdete Kinder war die Situation im Frühjahr 2020 besonders bedrohlich, weil durch den Schulausfall eine zentrale Schutzinstanz wegfiel. Von den neuen Einschränkungen im Herbst 2020 blieben die Schulen jedoch (zunächst) verschont. Katharina Göpel vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (BFF) wies im Frühjahr darauf hin, dass es für Frauen deutlich schwieriger ist, Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn sie sich unter Umständen durchgehend mit dem gewalttätigen Partner in derselben Wohnung aufhalten müssen. Das gilt umso mehr für Personen, deren Bewegungsfreiheit zusätzlich eingeschränkt ist, etwa Frauen und Kinder mit Behinderungen oder Asylsuchende in Sammelunterkünften.

Der Staat muss jede*n Einzelne*n vor rechtswidrigen Angriffen Dritter schützen – das gilt auch innerhalb der Familien- oder Wohngemeinschaft. Diese Pflicht ergibt sich aus dem Grundgesetz, genauer aus dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Artikel 2 Absatz 2) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Artikel 1 Absatz 1). Dass der Staat Kinder und Jugendliche besonders schützen muss, folgt daneben auch aus dem Bundeskinderschutzgesetz und der UN-Kinderrechtskonvention. Zu umfangreichen Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt hat sich Deutschland mit der Istanbul-Konvention verpflichtet. Neben der effektiven Strafverfolgung umfasst dies gesetzgeberische und politische Maßnahmen (Artikel 7), die Bereitstellung von angemessenen finanziellen und personellen Mitteln (Artikel 8), die Unterstützung der Zivilgesellschaft (Artikel 9) sowie genaue Datensammlung und -analyse (Artikel 11). Ebenso verpflichten das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), insbesondere die Allgemeine Empfehlung Nr. 19, und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), insbesondere Artikel 2 und 3, Deutschland zum effektiven Opferschutz. Auch während der Corona-Epidemie sollen Schutzeinrichtungen für Frauen laut Familienministerin Franziska Giffey weiter offen bleiben und Kindernotdienste „uneingeschränkt weiterlaufen“. Zudem seien Frauen nicht grundsätzlich daran gehindert, das Haus zu verlassen. Aber der bloße Verweis auf bestehende Strukturen wird der staatlichen Schutzpflicht angesichts der Zunahme von häuslicher Gewalt nicht gerecht. Die bestehenden Versorgungsstrukturen waren schon vor der Krise ausgelastet. In der aktuellen Situation muss die Regierung aus verfassungsrechtlicher Sicht dringend Ausgleich schaffen – durch Austausch mit Expert*innen, sorgfältige Lagebewertungen und konkrete Maßnahmen. Die finanzielle Unterstützung für soziale Dienste durch den Corona-Rettungsschirm scheint insofern ein Schritt in die richtige Richtung zu sein. In jedem Fall muss der Staat die durch die Ausgangsbeschränkungen zunehmende Bedrohung für Leib und Leben von Frauen und Kindern in seine Abwägungsprozesse einfließen lassen.

C.9. Sind die Einschränkungen für Personen in Pflegeeinrichtungen verhältnismäßig?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Die aktuelle Gesetzeslage für Personen in Pflegeeinrichtungen

Zu Beginn der Corona-Pandemie erlebten Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen massive Grundrechtseingriffe, die ihrem Schutz dienen sollen: Auf Grund von Ausgangssperren und Besuchsverboten waren sie weitgehend sozial isoliert, unabhängig von ihrer eigenen gesundheitlichen Situation. Die späteren Verbotslockerungen erreichten Menschen in Pflegeeinrichtungen spärlich und mit erheblicher Verzögerung.

Zwar galten für Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen zeitweilig nur noch in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westphalen strengere Ausgangsbeschränkungen als für die Allgemeinheit. Besuche in Pflegeheimen sind aber nach wie vor nur sehr eingeschränkt möglich. Gerade mobilitätseingeschränkte Bewohner*innen können am sozialen Leben aber nur teilhaben, wenn Freund*innen und Verwandte sie besuchen.

In vielen Bundesländern dürfen Bewohner*innen mittlerweile – zumeist einmal täglich – wieder Besuch empfangen. Dieser ist aber auf ein bis zwei gleichbleibende Personen beschränkt, die zumeist aus dem familiären Umkreis stammen sowie über 16 Jahre alt sein müssen. Kann die Einrichtungsleitung keine Sicherheitsvorkehrungen zur Eindämmung der Infektionsrisiken gewährleisten, sind weitergehende Beschränkungen des Besuchsrechts möglich. Hierfür sind die jeweiligen Behörden, in manchen Ländern aber auch die Einrichtungsleitungen selbstständig zuständig. Auf dieser Seite des BIVA Pflegeschutzbundes finden sich aktuelle Informationen, auch bezogen auf die einzelnen Bundesländer.

Isoliert im Pflegeheim – gehen die Maßnahmen zu weit?

Besuchsverbote und andere Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie greifen weit in zahlreiche Freiheitsrechte der Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen sowie deren Besucher*innen ein. Für die Betroffenen kann das eine immense psychische Belastung bedeuten. Auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive müssen die Entscheider*innen deshalb alle Maßnahmen sorgfältig auf ihre Verhältnismäßigkeit hin überprüfen. Besuchsempfangsverbote berühren die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG, sowie aufgrund der sozialen Isolierung der Betroffenen das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Dies gilt umso mehr, je bedeutsamer der Besuch ist: Die Bedürfnisse nach Seelsorge und Sterbebegleitung, aber auch nach einem Gespräch mit dem Rechtsbeistand vertiefen die Grundrechtsbeeinträchtigung im Fall eines Besuchsverbots noch.

Wird Bewohner*innen der Kontakt zur Partnerin, zum Partner oder zu den eigenen Kindern unmöglich gemacht, greift der Staat in das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Grundrecht auf Ehe und Familie ein. Auch wenn der Staat den Umgang nur mit einzelnen Familienmitgliedern erlaubt, ist das ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff, insbesondere, wenn er ganze Gruppen, zum Beispiel Minderjährige, vom Besuchsrecht gänzlich ausschließt. Das wird noch relevanter, wenn die Bewohner*innen der Pflegeeinrichtung aufgrund ihrer Beeinträchtigungen keinen anderweitigen Kontakt zu ihren Angehörigen haben können, z.B. durch Telefon oder Videoanrufe.

Die Besuchsverbote berühren auch die Grundrechte jener Freund*innen und Familienangehörigen, denen das Betreten der Pflegeeinrichtung verboten wird (Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 GG).

Nach gegenwärtigem Wissensstand stellt Covid-19 für die Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen eine ernstzunehmende Gefahr dar. Ausbrüche in Pflegeheimen gehen oft mit schwersten Krankheitsverläufen und hohen Todesraten einher. Dennoch können die Entscheider*innen Grundrechtseingriffe nicht pauschal mit dem Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit rechtfertigen. Zulässig sind allein sorgfältige Einzelfallabwägungen. Je länger die Beschränkungen andauern, desto höher ist der Rechtfertigungsaufwand. Die Beschränkungen sind nur insoweit verhältnismäßig, wie sie tatsächlich zur Vermeidung von Infektionen geeignet und erforderlich sind.

Diesbezüglich erscheinen insbesondere ausnahmslos ausgesprochene Besuchsverbote gegenüber Minderjährigen zweifelhaft: Auch Jugendliche unter 16 Jahren können zur Einhaltung von Hygieneauflagen in der Lage sein, jedenfalls in Sondersituationen wie dem Besuch in einer Pflegeeinrichtung. Auch der Ausschluss des Partners oder der Partnerin aufgrund der Beschränkung auf nur eine Kontaktperson ist gesondert rechtfertigungsbedürftig.

Zudem müssen Gesetzgeber, Behörden und Einrichtungsleitungen auf einzelne, verletzliche Gruppen besonders Rücksicht nehmen. Um die Infektionsgefahr zu reduzieren, müssen erlaubte Besuche in vielen Ländern in gesonderten Räumen stattfinden. Dürfen Besucher*innen ausnahmsweise die Zimmer von Bewohner*innen betreten, ist das für Pflegeeinrichtungen mit jeweils erheblichen Mehrbelastungen verbunden, weil sie besondere Hygienevorkehrungen treffen müssen. Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass immobilen Bewohner*innen faktisch jegliches Besuchsempfangsrecht entzogen wird. Stattdessen müssen die Verantwortlichen flexibel mit Ausnahmegenehmigungen und Sondermaßnahmen umgehen – das ist grundrechtlich geboten.

Auch die individuellen Regelungen der Pflegeeinrichtungen müssen sich an den Grundrechten messen lassen. Die Einrichtungen sind je nach ihrer Organisationsform entweder unmittelbar zur Wahrung und Einhaltung der Grundrechte verpflichtet, oder mittelbar im Rahmen der Auslegung des privatrechtlichen Heim- und Pflegevertrags. Hängt das Besuchs(empfangs)recht von der Einwilligung der Einrichtungsleitung oder der Umsetzung eines Hygienekonzepts ab, können Bewohner*innen oder ihre Angehörigen verlangen, dass ein entsprechendes Konzept umgesetzt wird und Besuche im eingeschränkten Rahmen ermöglicht werden. Diese Ansprüche können sie auf die Fürsorgepflichten der Einrichtungen, § 241 Abs. 2 BGB, stützen.

Können sich die Betroffenen gegen unverhältnismäßige Einschränkungen wehren?

Betroffene können im Streitfall vor Gericht gehen. Wehren sie sich gegen eine Maßnahme einer privatrechtlichen Einrichtungsleitung, sind die Zivilgerichte zuständig. Gegen Entscheidungen der Länder und ihrer Behörden sind es die Verwaltungsgerichte. Die richtige Antrags- und Klageart richtet sich vor den Verwaltungsgerichten zudem nach der vom jeweiligen Land gewählten Regelungsart, also danach, ob wie etwa in Baden-Württemberg eine Rechtsverordnung, oder wie z.B. in Sachsen eine Allgemeinverfügung besteht. Ein Widerspruchsverfahren dürfte typischerweise nicht notwendig sein, bestimmt sich jedoch nach dem jeweiligen Landesrecht, vgl. § 68 Absatz 1 Satz 2 Nr. 1 VwGO.


D. Corona und die Grundrechte von Schüler*innen

D.1. Gilt auch in Zeiten von Corona die Schulpflicht?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Schulpflicht allgemein

Das Grundgesetz formuliert in Artikel 7 Absatz 1 einen staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Diesen Auftrag konkretisiert allerdings nicht der Bund, sondern die Bundesländer mit ihren Regelungen zur Schulpflicht (vgl. auch BVerfG Beschl. v. 21.4.1989 – 1 BvR 235/89), denn das Schulwesen ist Ländersache. Die Schulpflicht ist daher nicht deutschlandweit einheitlich gestaltet. In der Regel muss jede Person zwölf Jahre lang zur Schule gehen. Für Jugendliche, die nicht mehr schulpflichtig sind und weiterführende Schulen besuchen, besteht aber auch eine Pflicht, am Unterricht teilzunehmen.

Schulpflicht in Zeiten von Corona

Die Länder hatten die Schulen ab Mitte März 2020 durch Rechtsverordnungen geschlossen bzw. das Fernbleiben von diesen Einrichtungen angeordnet. Damit setzten sie für die jeweils festgelegten Zeiträume zumindest die Präsenzschulpflicht außer Kraft. Mit den Schulschließungen wollten die Länder eine weitere Verbreitung des Coronavirus verhindern. Grundsätzlich kann die (teilweise) Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne von § 33 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) – darunter fallen nach Nr. 3 auch Schulen – eine notwendige Schutzmaßnahme nach § 28 IfSG darstellen (vgl. Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. April 2020 – 8 B 1097/20.N).

Seit Mai 2020 sahen die Verordnungen oder Landesgesetze eine stufenweise Wiedereröffnung der Schulen vor. Dadurch lebte auch die Schul- und Anwesenheitspflicht wieder auf. Das heißt, dass die jeweils betroffenen Schüler*innen ab den vorgesehenen Zeitpunkten wieder zur Anwesenheit in der Schule verpflichtet waren. Die Regelungen der Länder sehen jedoch teilweise besondere Ausnahmen von dieser Pflicht vor, zum Beispiel für Schüler*innen mit relevanten Vorerkrankungen oder für Schüler*innen, die in einem Haushalt mit Personen aus Risikogruppen zusammenleben. Die einzelnen Regelungen der Bundesländer veröffentlichen die jeweiligen Kultusministerien auch online, einen Überblick über die Öffnungsmaßnahmen bietet z.B. das Deutsche Schulportal (Stand: 12. Mai 2020).

Zum neuen Schuljahr wurde der Schulbetrieb weiter normalisiert. Allein die Hygieneanforderungen wurden verschärft, und auf Corona-Infektionen wird mit (Teil-) Schließungen reagiert. Auch von dem Lockdown „light“ im November 2020 sind Schulen (wie KiTas) zunächst nicht erfasst. Entsprechend gelten auch nach wie vor Schul- und Präsenzpflicht fort.

D.2. Welche Rolle spielen Grundrechte in Bezug auf die Öffnung und Schließung der Schulen in Zeiten von Corona?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Bei der Entscheidung, wann und unter welchen Voraussetzungen Schulen geschlossen oder wieder geöffnet werden, muss der Gesetzgeber auch die von diesen Maßnahmen betroffenen Grundrechte beachten und sorgfältig abwägen.

Schüler*innen haben ein Recht auf Bildung. Dieses ist in fast allen Verfassungen der Bundesländer und in den Schulgesetzen verankert. Aus dem staatlichen Bildungsauftrag im Grundgesetz (Artikel 7 Absatz 1 GG) folgt zumindest die Pflicht, einen unverzichtbaren Mindeststandard schulischer Bildung und Erziehung zu sichern. Die Schulen müssen grundsätzlich sicherstellen, dass die Schüler*innen das Ziel des jeweiligen Bildungsganges erreichen können. Das bedeutet allerdings nicht, dass ein*e Schüler*in einen Rechtsanspruch auf beispielsweise eine bestimmte Anzahl von Unterrichtsstunden hat.

Zusätzlich ist auch die in Artikel 12 des Grundgesetzes verankerte Berufsfreiheit der Schüler*innen betroffen. Denn die Zulassung zu einer bestimmten Berufsausbildung erfordert grundsätzlich einen Schulabschluss. Abschlussprüfungen können gefährdet oder beeinträchtigt werden, wenn Präsenzunterreicht ausfällt. Eine Rolle spielt dabei auch der Gleichheitssatz aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes: Wegen des prüfungsrechtlichen Gebots der Chancengleichheit müssen Schüler*innen grundsätzlich vergleichbare Prüfungsbedingungen gewährleistet werden.

Daneben steht der Auftrag des Staates, das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung vor dem Coronavirus zu schützen (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG). Die Durchführung von Präsenzveranstaltungen in der Schule kann die Gesundheit der Schüler*innen und Lehrkräfte sowie der mit ihnen zusammenlebenden Angehörigen gefährden.

Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gilt jedoch nicht absolut und ohne Einschränkung. Der Gesetzgeber muss prüfen, ob er seinem Schutzauftrag bereits durch weniger einschneidende Mittel als der Schulschließung genügen kann. Solche Mittel können zum Beispiel die Öffnung unter strenger Einhaltung von Schutz-, Abstands- und Hygienemaßnahmen sein, freiwilliger oder zeitversetzter Unterricht in kleineren Gruppen oder die stufenweise Öffnung von Schulen, solange dadurch ausreichender Schutz gewährleistet wird (siehe auch die in den jeweiligen Bundesländern erlassenen Musterhygienepläne für Schulen, z.B. für Berlin).

Wenn Schulen stufenweise wieder geöffnet werden und nur teilweise Unterricht entfällt, kommt erneut der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz ins Spiel. Eine Ungleichbehandlung von Schüler*innen unterschiedlicher Klassenstufen muss gerechtfertigt sein, das heißt, es muss ein sachlicher Grund für sie bestehen. Solche sachlichen Gründe könnten zum Beispiel sein, dass Schüler*innen vor Abschlussprüfungen stehen oder ältere Schüler*innen vernünftiger mit notwendigen Hygieneregeln umgehen können (vgl. Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 24. April 2020 – 8 B 1097/20.N).

Mittlerweile sind die Schulen zwar wieder geöffnet; allerdings ist derzeit nicht absehbar, ob das den ganzen Winter 2020/21 über so bleiben kann.

D.3. Was gilt für die Durchführung von Abschlussprüfungen in Zeiten von Corona?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Zeitpunkt der Abschlussprüfungen

Am 25. März 2020 entschieden die Kultusminister*innen der Länder in einem gemeinsamen Beschluss, dass Prüfungen, insbesondere die schriftlichen Abiturprüfungen, bis Ende des Schuljahres stattfinden sollen, soweit dies aus Infektionsschutzgründen zulässig ist. Die konkreten Regelungen bezüglich der Prüfungstermine und -abläufe mussten jedoch die jeweiligen Bundesländer treffen, sie sind an diesen Beschluss nicht gebunden. Die Regelungen durften die Grundrechte der betroffenen Prüflinge nicht in unverhältnismäßiger Weise einschränken.

Zu beachten war, dass ein verfassungsrechtlich verankerter Prüfungsanspruch besteht.

Das heißt, dass Schüler*innen grundsätzlich Anspruch auf eine Abschlussprüfung haben, wenn sie die Schullaufbahn erfolgreich absolviert haben. Einen Anspruch auf einen bestimmten Prüfungszeitpunkt kann man aus den Grundrechten nur unter sehr hohen Anforderungen herleiten (vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.4.2020 – OVG 3 S 30/20). Grundsätzlich muss ein verhältnismäßig zeitnaher Erwerb des Abschlusses und damit der Zugang zu Studium und Beruf für die Schüler*innen ermöglicht werden.

Das Gebot der Chancengleichheit stellt zudem sicher, dass die Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Dazu sollen für vergleichbare Prüflinge so weit wie möglich vergleichbare Prüfungsbedingungen und Bewertungsmaßstäbe gelten (ständige Rechtsprechung, vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Juli 2015 – BVerwG 6 C 35.14).

Gerade das Gebot der Chancengleichheit sprach für eine Verschiebung der Prüfungen. Ohne Präsenzunterricht werden die schon immer bestehenden unterschiedlichen Lernbedingungen der Schüler*innen verschärft, die durch ihre sozialen und familiären Umstände geprägt sind (so auch OVG Berlin-Brandenburg Beschl. v. 21.4.2020 – OVG 3 S 30/20). Da zum Beispiel Bibliotheken geschlossen waren, spielten die räumlichen und technischen Gegebenheiten bei den Schüler*innen zu Hause eine entscheidende Rolle, genauso wie die sehr unterschiedlichen Möglichkeiten ihrer Angehörigen, sie bei der Prüfungsvorbereitung zu unterstützen.

Erschwerend traten pandemiebedingte psychische Belastungen der Schüler*innen hinzu. Viele Kinder und Jugendliche hatten Existenzängste, weil ihre Eltern ihre Arbeit verloren hatten, oder sorgen sich um die eigene Gesundheit oder die ihrer Angehörigen. Psychisch belastend konnte es auch sein, wenn sich Schüler*innen entscheiden müssen, am teilweise freiwilligen Präsenzunterricht teilzunehmen und damit ihre eigenen Bildungschancen zu verbessern, oder zuhause zu bleiben, um ihre eigene Gesundheit und die ihrer Angehörigen nicht zu gefährden.

Die Gerichte lehnten Anträge von Abiturient*innen auf Verschiebung der Abiturprüfungen allerdings ausschließlich ab (VG Berlin, Beschluss vom 20. April 2020 – VG 3 L 155.20; VG Berlin, Beschluss vom 20.04.2020 – VG 3 L 159/20; bestätigt durch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.4.2020 – OVG 3 S 30/20 und OVG 3 S 31/20). Sie verwiesen darauf, dass den zuständigen Stellen bei der Festlegung von Prüfungsterminen ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht. Ein individueller Anspruch auf Verschiebung von Prüfungen bestehe nicht. Dies gelte auch bei psychischem Stress, solange dieser nicht den Grad einer psychischen Erkrankung erreiche. Um unterschiedliche Bildungschancen anzugleichen, sei der Gesetz- und Verordnungsgeber gefragt, entsprechende Maßnahmen innerhalb des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums zu ergreifen (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.4.2020 – OVG 3 S 30/20).

Solange die nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand notwendigen Schutzmaßnahmen eingehalten werden, folgt nach Ansicht des Verwaltungsgerichts Wiesbaden (VG Wiesbaden, Beschluss vom 30.03.2020 – 6 L 342/20.WI) und des Verwaltungsgerichts Berlin (VG Berlin, Beschluss vom 17. April 2020 – VG 14 L 59.20) auch aus seuchenrechtlichen Gesichtspunkten kein Anspruch auf die vorübergehende Aussetzung der Prüfungstermine.

Möglich bleibt aber weiterhin, die Abiturprüfungsergebnisse im Nachhinein gerichtlich überprüfen zu lassen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21.4.2020 – OVG 3 S 30/20; so auch Dr. Heinze auf LTO).

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Pandemie zum Ende des nun laufenden Schuljahres soweit entspannt hat, dass sich ähnliche (Rechts-) Fragen bei kommenden Abschlussprüfungen nicht erneut stellen.

Alternative Möglichkeiten

Auch wenn den Gesetz- und Verordnungsgebern bei den zu ergreifenden Maßnahmen Gestaltungsspielräume zukommen, müssen sie die aufgezeigten Grundrechte sorgfältig abwägen und im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ebenso geeignete, aber weniger einschneidende Mittel in Erwägung ziehen.

Als milderes Mittel gegenüber der verpflichtenden Prüfungsdurchführung oder -verschiebung kam die Durchführung von Abschlussprüfungen auf freiwilliger Basis in Betracht. Damit wäre es den Schüler*innen überlassen, ob sie an den Prüfungen zeitnah oder zu einem späteren Zeitpunkt teilnehmen. So hätten Belastungen abgemildert werden können.

Eine (zusätzliche) Alternative war das unter dem Stichwort „Durchschnittsabitur“ oder „Notabitur“ diskutierte Konzept. Nach ihm würde der Abschluss ohne Prüfungen auf Grundlage der Vornoten in den Oberstufenkursen vergeben wird. Diese Vornoten machen ohnehin den größten Teil der Abiturnote aus. Durch diese Möglichkeit wäre dem Gesundheitsschutz und der Chancengleichheit weitgehend Rechnung getragen worden. Dafür sprachen sich unter anderem viele Landesschüler*innenvertretungen und -verbände sowie Teile der Gewerkschaft aus.

Kritisiert wurde die Möglichkeit aber gleichzeitig auch im Hinblick auf die Chancengleichheit. Die Vergleichbarkeit mit anderen Abschlussjahrgängen könnte weniger gegeben sein, da die Vornoten nur auf schulinterne Leistungen, nicht aber auf zentralen Aufgaben beruhen. Weiterhin bestand die Sorge, dass ein auf wenige Bundesländer begrenztes „Notabitur“ in anderen Bundesländern, an Universitäten oder im Ausland nicht als gleichwertig anerkannt werden könnte. Grundsätzlich könnten solche möglichen Nachteile innerhalb Deutschlands beispielsweise durch Beschlüsse der Kultusministerkonferenz zur gegenseitigen Anerkennung abgemildert werden. Auch in anderen Ländern wurden teilweise solche oder ähnliche „Notabschlüsse“ vergeben, zum Beispiel in Frankreich. Letztlich hat sich in Deutschland aber keines der aufgeführten Alternativkonzepte durchgesetzt, weil die meisten Prüfungen unter halbwegs normalen Umständen im Sommer 2020 nachgeholt werden konnten.

E. Zukunft der Corona-Regelungen – was muss sich ändern?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Noch bevor überhaupt Zeit war, sich an die weitreichenden Kontaktverbote und weiteren Einschränkungen zu gewöhnen, begann die Debatte über eine Exit-Strategie und Wege aus den aktuellen Freiheitseinschränkungen. Anders als von so manchem befürchtet, ist das über den Sommer auch tatsächlich gelungen – schrittweise zwar, aber letztlich waren sogar Großdemos wieder ohne wesentliche Einschränkungen möglich.

Eine ähnliche Diskussion wird sich auch im Herbst/Winter 2020 schnell wieder entwickeln, nachdem die Freiheit im November wieder stark eingeschränkt wird. Das Verfassungsrecht bietet Maßstäbe dafür, wie es weiter gehen kann mit den Maßnahmen gegen das Corona-Virus – und wie nicht. Es definiert die Grenzen staatlicher Gewalt, zeigt also vor allem, was nicht erlaubt ist oder nicht mehr erlaubt sein kann.

E.1. Welche verfassungsrechtlichen Maßstäbe gelten für die nächsten Wochen besonders?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Drei – von vielen! – verfassungsrechtlichen Maßstäben seien hier genannt. Einer der wichtigsten ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Er besagt, dass Maßnahmen zunächst geeignet sein müssen, um ein gesetztes Ziel zu erreichen. Um das beurteilen zu können, muss der Staat die dafür relevanten Tatsachen soweit wie möglich ermitteln. Kommen für ein Ziel verschiedene Maßnahmen in Betracht, muss er die mildeste, also die Freiheit schonendste Variante wählen. Und diese Variante muss schließlich auch nach Abwägung aller der Maßnahme entgegenstehenden Interessen angemessen sein.

Diese Verhältnismäßigkeitsprüfung muss der Staat wiederholen, sobald sich die Lage ändert: Eine Maßnahme kann sich durch neue Erkenntnisse als ungeeignet erweisen; daran scheiterten etwa im Oktober 2020 viele Beherbergungsverbote. Oder es tut sich im Zeitverlauf eine mildere Alternative auf. Oder die Maßnahme erweist sich als zu hart, etwa weil sie zu großen, anfangs möglicherweise nicht erwarteten Schaden anrichtet.

Ein weiterer wichtiger Maßstab des Verfassungsrechts ist der allgemeine Gleichheitssatz des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 1 GG). Er besagt, dass wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Auch eine hieran ausgerichtete Maßnahme erfordert stete Überprüfung. Wenn sich etwa aus einer homogenen Gruppe eine von ihr wesentlich verschiedene Untergruppe herausbildet, kann das zu einer differenzierten Behandlung zwingen. So lässt sich zum Beispiel diskutieren, ob Immune anders zu behandeln sind als Menschen, die noch nicht an COVID-19 erkrankt waren. Auch zwingt der allgemeine Gleichheitssatz zu in sich schlüssigen Regelungskonzepten: Kinos zu schließen, Theater aber offenzuhalten, ginge zum Beispiel nicht.

Ein dritter Maßstab des Verfassungsrechts ist der Gesetzesvorbehalt in Verbindung mit dem Bestimmtheitsgebot. Danach dürfen belastende Hoheitsakte nur aufgrund einer gesetzlichen Ermächtigung ergehen, und diese Gesetze müssen Inhalt, Zweck und Ausmaß erkennen lassen, also hinreichend bestimmt sein. Das heißt, wenn ein Bundesland ein Kontaktverbot anordnet, muss es ein Gesetz geben, das genau regelt, was solche Verbote umfassen, wann und in welchem Umfang sie angeordnet werden können. Denn die Menschen müssen erkennen können, wie der Staat auf ihr Verhalten reagieren wird und wann er die Grenzen des Gesetzes überschreitet. Das gilt ganz besonders, aber nicht nur für Strafgesetze.

E.2. Sollten die Freiheitsbeschränkungen nicht den ganzen Winter über bestehen bleiben?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Es wäre unverhältnismäßig, die gegenwärtigen Freiheitsbeschränkungen aufrechtzuerhalten, bis ein Impfstoff gegen COVID-19 gefunden ist und zumindest die Risikogruppen geimpft sind. Zwar wäre ein so radikales Vorgehen dazu geeignet, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren und dadurch Menschenleben zu retten. Aber ein – vom Infektionsgeschehen unabhängiger – Shutdown auf unabsehbare Zeit wäre schon nicht erforderlich, weil sich im Frühjahr gezeigt hat, dass die ergriffenen Maßnahmen das Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahrt haben. Deshalb war es notwendig, die Freiheitseinschränkungen zu lockern; das haben die Bundesländer auch getan. Ob sie es dabei übertrieben haben, wurde viel diskutiert. Aber die Zügel dauerhaft gar nicht zu lockern, wäre unangemessen gewesen, weil die gesamtgesellschaftlichen Kosten – sozialer, psychischer und wirtschaftlicher Art – schlicht zu groß wären. Letztlich hat sich auch gezeigt, dass das Infektionsgeschehen über den Sommer 2020 trotz der Lockerungen beherrschbar war. Das hat sich im Herbst 2020 geändert, weshalb für November wieder starke Einschränkungen beschlossen wurden.

Unabhängig vom aktuellen Infektionsgeschehen hat der Staat die Pflicht, das allgemeine Infektionsrisiko abzusenken und das Gesundheitssystem aufzurüsten. Das Infektionsrisiko lässt sich durch Hygienemaßnahmen reduzieren: Schutzmasken im öffentlichen Raum, Desinfektionsmittel in Ämtern, Zügen und Geschäften, gesteigerte Hygienevorschriften für Gaststätten, die strikte Trennung in Krankenhäusern von Corona-Patient*innen und der sie behandelnden Personen vom Rest des Krankenhausbetriebs. All diese Beschränkungen galten auch im Sommer 2020 und wurden nun teilweise weiter verschärft. Zugleich nutzten die Krankenhäuser die Zeit, um ihre Kapazitäten auszubauen: Neue Intensivbetreuungsplätze wurden geschaffen, alte Beatmungsgeräte instandgesetzt, Schutzkleidung und -masken in großem Stil erworben, medizinisches Personal zurück in den Dienst gerufen. Das Zwischenziel der harten Ausgangsbeschränkungen, dem Gesundheitssystem Zeit zu verschaffen, wurde augenscheinlich erreicht.

E.3. Können Kontaktverbote und weitere Einschränkungen auf Angehörige von Risikogruppen beschränkt werden?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Als Alternative zu den gegenwärtigen Beschränkungen für alle wird nach wie vor diskutiert, sie nur noch auf Risikogruppen zu begrenzen. Wer eine Vorerkrankung habe, müsse bis auf Weiteres Kontakt zu anderen Menschen meiden.

Aber wären Freiheitsbeschränkungen nur für Risikogruppen tatsächlich verhältnismäßig? Dafür müssten so fokussierte Beschränkungen überhaupt dazu geeignet sein, unser Gesundheitssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Für Großbritannien und die USA hat das Imperial College das verneint; auch für Deutschland wird bezweifelt, dass auf Risikogruppen begrenzte Freiheitsbeschränkungen ausreichen. Wie schwierig es ist, Risikogruppen gezielt zu schützen, zeigen die vielen Todesfälle in Altenheimen.

Diese Einschätzung kann sich zwar im Laufe der Zeit ändern, wenn nämlich die Kapazitäten des Gesundheitssystems erheblich ausgebaut sind. Aber Sars-CoV-2 ist auch für Menschen gefährlich, die nicht daran sterben: Eine Lungenentzündung ist eine schwere Krankheit und eine künstliche Beatmung kann zu nachhaltigen Schäden an der Lunge führen. Auch wird von langanhaltenden Schäden am Gehirn berichtet. Schließlich würde die flächendeckende Belegung der Intensivstationen mit (jüngeren) COVID-19-Patient*innen, die Beatmungsgeräte brauchen, viel weiteres Leid bei anderen Kranken verursachen, die nicht oder nicht ausreichend versorgt werden können. Vor allem spricht aber gegen eine Isolierung nur von Risikogruppen, dass sie den Infektionsschutz auf den Kopf stellt: Die freiheitsbeschränkenden Maßnahmen des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) knüpfen an der Infektion bzw. dem Infektions- oder Ansteckungsverdacht an. D.h. Maßnahmen sollten sich vorrangig gegen (potentiell) Infizierte richten.

E.4 Dürfen künftig nur noch Infizierte und Verdachtsfälle isoliert werden?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Eine andere, gezielte Form der Freiheitsbeschränkung im Sinne des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) wäre ihre Begrenzung auf Infizierte, Krankheitsverdächtige und Ansteckungsverdächtige, statt alle Menschen als ansteckungsverdächtig zu behandeln. Diesen Ansatz verfolgen insbesondere ostasiatische Staaten wie Südkorea, Taiwan und Japan. Im Sommer 2020 wurde das auch in Europa wieder möglich.

Dafür hatte der Staat aber erst die Voraussetzungen schaffen müssen. Die wichtigste: Die Zahl der Neuinfektion so weit zu reduzieren, dass es wieder realistisch wird, in Einzelfällen Infektionsketten nachzuvollziehen. Infizierte müssen außerdem zuverlässig erkannt werden. Auch insoweit ist bereits viel geschehen, indem die Testkapazitäten ausgebaut wurden. Hat sich jemand infiziert, müssen seine Kontaktpersonen der letzten Tage nachvollzogen werden. Sich dabei auf das Gedächtnis der Betroffenen zu verlassen, ist fehleranfällig. Die Alternative, eine Tracing-App, gibt es inzwischen; mit ihr können Personen automatisiert darüber informiert werden, dass sie Kontakt zu einem*r Infizierten hatten. Die Infizierten und idealerweise auch all ihre Kontaktpersonen müssten sich dann in Quarantäne begeben. Sehr kritisch ist, mit welchen Mitteln diese Quarantäne kontrolliert werden darf. Nachdem das Infektionsgeschehen aber im Herbst 2020 wieder außer Kontrolle geraten ist (in 75 % der Fälle lässt sich der Ursprung einer Infektion nicht mehr nachvollziehen), darf der Staat auch wieder pauschalere Beschränkungen aussprechen, wie für den November geschehen.

E.5. Sollten Freiheitsbeschränkungen künftig nur noch in bestimmten Gebieten gelten?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Im Frühjahr 2020 gingen die Bundesländer weitgehend einheitlich vor, obwohl die Risiken in den verschiedenen Regionen durchaus unterschiedlich waren – je nach Infektionsrate, Zusammensetzung der Bevölkerung oder Niveau der medizinischen Versorgung. Ein einheitliches Vorgehen mag vor allem in den ersten Wochen sinnvoll gewesen sein, weil viel Unsicherheit über das Ausmaß der Gefahr bestand und Einheit die Akzeptanz der Maßnahmen erhöhte. Je mehr der Staat aber über die regionale Verbreitung des Corona-Virus und die Belastbarkeit des Gesundheitssystems lernte, umso mehr wurde es geboten, stärker räumlich zu differenzieren.

Eben dazu kam es in den Sommermonaten. Die Bundesländer emanzipierten sich weitgehend von der gemeinsamen Linie und fanden zu regionalen Lösungen. Das hielt auch noch bis in den Herbst 2020 hinein. Als aber die Infektionszahlen nicht nur in einzelnen Landkreisen und Stadtteilen, sondern nahezu flächendeckend stiegen, fanden die Bundesländern Ende Oktober zu einem gemeinsamen Vorgehen zurück. Das ist vernünftig; es ist aber ebenso klar, dass nach einer Unterdrückung des Virus lokale Differenzierung wieder möglich und sogar geboten ist.

E.6. Muss der Bundestag die gesetzlichen Grundlagen mittelfristig ausdifferenzieren?

Dieser Abschnitt wurde zuletzt überprüft am: 10.02.2021

Ende 2020 hat die Impfkampagne gegen das Sars-CoV-2-Virus auch in Deutschland begonnen, einige Millionen Menschen wurden inzwischen geimpft. Zudem haben ebenfalls einige Millionen Menschen bereits eine Infektion mit dem Virus überstanden und damit jedenfalls eine gewisse Immunisierung erlangt. Daher stellt sich zunehmend die Frage, ob die Freiheitsbeschränkungen für geimpfte oder aus anderen Gründen nachweislich immune Menschen aufgehoben werden können. In der öffentlichen Debatte wird dies teilweise unter der Überschrift der Forderung nach „Privilegien“ für Geimpfte diskutiert. Verfassungsrechtlich handelt es sich bei der Aufhebung der Freiheitsbeschränkungen jedoch nicht um „Privilegien“, sondern um die Rückkehr zum Normalzustand, in dem Grundrechte nicht pandemiebedingt eingeschränkt sind.

Bereits seit dem Frühjahr 2020 hatte sich diese Frage für Personen gestellt, die eine COVID-19 Erkrankung überstanden hatten. Ob genesene Personen vor einer erneuten Ansteckung geschützt sind und das Virus nicht auf Dritte übertragen können, kann bis heute jedoch nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Nach einer ausführlich begründeten ablehnenden Stellungnahme des Deutschen Ethikrats vom 22. September 2020 sah die Bundesregierung schließlich davon ab, Genesene einer Infektion von den Freiheitsbeschränkungen auszunehmen.

Bei geimpften Personen steht hingegen fest, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit vor einer Ansteckung geschützt sind. Ob und in welchem Maße die Übertragung von Sars-CoV-2 durch geimpfte Personen verringert oder verhindert wird, ist dagegen noch nicht geklärt. In einer Ad-hoc-Stellungnahme vom 4. Februar 2021 teilte der Ethikrat mit, dass sichergestellt werden müsse, dass Geimpfte andere Menschen nicht mehr mit Sars-Cov-2 infizieren, bevor Beschränkungen für diese Personen aufgehoben werden könnten. Ließe sich die Frage mit hinreichender Sicherheit bejahen, könnte der Allgemeine Gleichheitssatz für eine Aufhebung der Beschränkungen für Geimpfte sprechen: Sie sind für niemanden gefährlich, anders als jene Menschen, die das Virus noch verbreiten können.

Ob und inwieweit der Staat Beschränkungen für geimpfte Personen aufheben und für nicht-geimpfte Personen aufrechterhalten muss, lässt sich erst beantworten, wenn die konkreten Maßnahmen bekannt sind. Stehen dem Staat mildere, gleich effektive Mittel als die Differenzierung nach dem Impfstatus zur Verfügung, wäre diese Differenzierung nicht erforderlich und damit rechtswidrig. Das könnte etwa die Öffnung kommunaler Einrichtungen wie Bibliotheken oder Schwimmbäder betreffen: Hier kommt als milderes Mittel im Vergleich zu einer exklusiven Öffnung für Geimpfte die Etablierung eines Hygienekonzepts mit Corona-Schnelltest als Alternative zum Impfnachweis in Betracht. Ähnlich dürfte dies bei staatlich angeordneten Schließungen privater Einrichtungen, etwa Restaurants oder Fitnessstudios, zu bewerten sein. Auch diese Situation ließe sich ohne die Benachteiligung Nicht-Geimpfter lösen, wenn der Zugang alternativ zum Nachweis einer Impfung an einen negativen Schnelltest in Verbindung mit einem Hygienekonzept geknüpft wird.

Anders ist die Situation im privaten Bereich. Private Unternehmen sind im Grundsatz nicht direkt grundrechtsverpflichtet und können grundsätzlich frei entscheiden, mit wem sie Verträge schließen oder wem sie Zugang zu ihren Einrichtungen gewähren. Betreiber*innen von Restaurants oder Konzertveranstalter*innen dürften daher entscheiden, ihre Dienstleistungen nur für Geimpfte anzubieten. Nur in bestimmten Konstellationen sind auch Private mittelbar grundrechtsverpflichtet, etwa wenn der Zugang zu ihren Angeboten für eine prinzipiell gleichberechtigte, basale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unerlässlich ist. Zu denken wäre hier etwa an Betreiberfirmen von Verkehrsmitteln, sofern diese nicht ohnehin eine Beförderungspflicht trifft (vgl. z.B. § 22 Personenbeförderungsgesetz).

Die Freiheitsbeschränkungen ausschließlich für Geimpfte aufzuheben birgt zudem die Gefahr von „Nebenwirkungen“. Das unbeschwerte Verhalten Geimpfter könnte die Disziplin der Noch-nicht-Geimpften senken, wodurch es wieder zu einer schnelleren Ausbreitung des Virus kommen könnte. Dieses sozialpsychologische Argument könnte jedenfalls leichtere Eingriffe in Grundrechte wie etwa Maskenpflichten auch gegenüber Menschen rechtfertigen, die „eigentlich“ keine Maske mehr tragen müssten, weil sie immun sind: Wenn eine Maskenpflicht als bindend empfunden werden soll, dann müssen alle mitmachen, ansonsten droht die Compliance insgesamt abzubröckeln.

Ob nun im Einzelfall eine Differenzierung nach dem Impfstatus erforderlich ist oder eine Rücknahme der Freiheitsbeschränkungen für alle mit entsprechenden Hygienekonzepten und Schnelltests für Nicht-Geimpfte in Betracht kommt, lässt sich letztlich aber erst beantworten, wenn die medizinischen Aspekte geklärt sind – und dann auch jeweils nur für einzelne Maßnahmen individuell.

F. Wo kann ich weiterlesen?

Rechtsprechung zum Coronavirus

Das Bundesministerium des Inneren pflegt eine interne Übersicht zu coronabezogener Rechtsprechung. Wir haben sie auf Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes herausverlangt und freuen uns, sie hier öffentlich zugänglich machen zu können. Sie wird regelmäßig aktualisiert.

BMI-Übersicht der aufgenommenen Entscheidungen und Pressemitteilungen mit Bezug auf das Coronavirus (PDF, 36 S., 310 kb, Stand: 26.05.2020)

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