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Verfassungsbeschwerde gegen erweiterte Überwachungsbefugnisse und intelligente Videoüberwachung

Berlin/Dresden, 28.12.2020 – Die Sächsische Polizei verfügt seit dem Inkrafttreten des novellierten Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes (SächsPVDG) vor einem Jahr über noch schärfere Überwachungsinstrumente als zuvor, trotz zahlreicher Polizeiskandale in der jüngeren Vergangenheit. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) hat daher Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben. „Die neuen Befugnisse ermöglichen Überwachungsmaßnahmen weit im Vorfeld einer konkreten Straftat. Dadurch kann praktisch jede Person Opfer tiefer Grundrechtseingriffe werden“, erklärt David Werdermann, Jurist und Verfahrenskoordinator der GFF.

Vorverlagerte Überwachung verletzt Grundrechte und Rechtsstaatsprinzip

Konkret richtet sich die Verfassungsbeschwerde unter anderem gegen längerfristige Observationen durch Polizeibeamt*innen, den Einsatz verdeckter Ermittler*innen und von Vertrauenspersonen, Abhör- und Ortungsmaßnahmen außerhalb der Wohnung sowie Datenerhebungen mit Bezug zu Telekommunikation und Internetnutzung. All diese Maßnahmen sind nach dem neuen Polizeigesetz schon weit im Vorfeld einer konkreten Gefahr zulässig. Schon wenn die Polizei lediglich annimmt, es könnte sich in der Zukunft eine gefährliche Situation entwickeln – was sich praktisch immer begründen lässt –, kann sie Personen auf vielfältige Weise überwachen. „Für meine Arbeit bin ich unter anderem auf Kontakte in islamistische und kriminelle Milieus angewiesen“, so Arndt Ginzel, investigativer Journalist und einer der Kläger*innen. „Diese Kontakte können künftig als Anhaltspunkt herangezogen werden, um auch mich zu überwachen“.

Intelligente Videoüberwachung verletzt Recht auf informationelle Selbstbestimmung

Ein deutschlandweites Novum stellt die Befugnis zur intelligenten Videoüberwachung dar. Die Polizei darf danach nicht nur Videoaufzeichnungen anfertigen, sondern diese auch automatisiert mit polizeilichen Daten abgleichen. Dies schließt laut der Gesetzesbegründung den Abgleich von besonders sensiblen biometrischen Daten (Gesichtserkennung) ein. Dadurch wird das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt, weil die Maßnahme ohne konkreten Anlass zulässig ist. Theoretisch kann die intelligente Videoüberwachung im gesamten Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern durchgeführt werde. Das umfasst etwa die Hälfte der Fläche des Freistaats. Für die Klägerin Anja Merkel, die im Rahmen der mobilen Jugendarbeit im Grenzgebiet arbeitet, bedeutet die intelligente Videoüberwachung eine empfindliche Einschränkung ihrer Freiheit: „Ich kann mich nicht mehr unbefangen bewegen, wenn ich ständig damit rechnen muss, dass die Polizei meine Gesichtszüge erfasst und abgleicht“, so die Sozialarbeiterin. Die intelligente Videoüberwachung ist äußerst umstritten. Sie ermöglicht eine bisher unbekannte Überwachung des öffentlichen Raums und begünstigt Diskriminierung. Ein Modellprojekt am Berliner Bahnhof Südkreuz brachte 2018 zudem eine erhebliche Fehleranfälligkeit zutage. Zuletzt waren Pläne zur Einführung intelligenter Videoüberwachung im Bundespolizeigesetz aufgegeben worden.

Handgranateneinsatz verstößt gegen Menschenwürde und Trennung von Militär und Polizei

Schließlich richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Einsatz von Kriegswaffen wie Handgranaten durch die Polizei. Das verletzt nicht nur die verfassungsrechtlich gebotene Trennung von Militär und Polizei, sondern auch die Menschenwürde. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf der Staat nicht zwischen den Leben Unschuldiger abwägen. Das macht er jedoch, wenn er beim Einsatz von Handgranaten den Tod Unschuldiger in Kauf nimmt. Die Verfassungsbeschwerde wird von der GFF koordiniert. Zu den Kläger*innen zählen Journalisten, Rechtsanwält*innen, ein Fußballfan und eine Sozialarbeiterin. Sie werden vertreten durch Prof. Dr. Matthias Bäcker (Universität Mainz). Der GFF-Verfahrenskoordinator David Werdermann und weitere Verfahrensbeteiligte stehen für Gespräche zur Verfügung.

Weitere Informationen zum Fall finden Sie hier.

Bei Rückfragen wenden Sie sich an:

Janina Zillekens, presse@freiheitsrechte.org,
Tel. 030/549 08 1055 oder 0175/610 2896

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