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Wie weit darf die Polizei die Grundrechte für Ermittlungen einschränken?
Polizeiuniform von cocoparisienne, lizensiert unter Pixabay License
Freiheit im digitalen Zeitalter
Art. 1, 2, 10

Überwachung, Gesichts­erkennung und Handgranaten

Wir erheben Verfassungsbeschwerde gegen das novellierte Sächsische Polizeigesetz.

Im Dezember 2020 haben wir Verfassungsbeschwerde gegen das novellierte Sächsische Polizeigesetz (SächsPVDG) erhoben. Gemeinsam mit Journalist*innen, Rechtsanwält*innen, einem Fußballfan und einer Sozialarbeiterin klagen wir gegen schärfere Überwachungsinstrumente.

David Werdermann

Rechtsanwalt und Projektkoordinator

"Die neuen Befugnisse ermöglichen Überwachungsmaßnahmen weit im Vorfeld einer konkreten Straftat. Dadurch kann praktisch jede Person Opfer tiefer Grundrechtseingriffe werden."

Seit dem Inkrafttreten des novellierte Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes (SächPVDG) vor einem Jahr verfügt die Sächsische Polizei über noch schärfere Überwachungsinstrumente als zuvor und kann diese viel weitreichender einsetzen – trotz zahlreicher Polizeiskandale in der jüngeren Vergangenheit.

Vorverlagerte Überwachung verletzt Grundrechte und Rechtsstaatsprinzip

Konkret wenden wir uns gegen längerfristige Observationen durch Polizeibeamte, den Einsatz verdeckter Ermittler*innen und von Vertrauenspersonen, Abhör- und Ortungsmaßnahmen außerhalb der Wohnung sowie Datenerhebungen mit Bezug zu Telekommunikation und Internetnutzung.

Das neue Sächsische Polizeigesetz erlaubt es der Polizei langfristig Menschen zu observieren, sie außerhalb der Wohnung abzuhören und zu orten (§ 63) oder sogar zur polizeilichen Beobachtung auszuschreiben (§ 60 Abs. 2). Ausreichend dafür ist bereits der Verdacht, dass eine Person in Zukunft irgendwann einmal eine „zumindest ihrer Art nach konkretisierte Straftat von erheblicher Bedeutung“ begeht. Als Straftat von erheblicher Bedeutung kommt nach dem Gesetz prinzipiell jede Straftat in Betracht, die organisiert begangen wird und geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören – sogar Bagatelldelikte wie Beleidigungen.

Für mich ist unvorstellbar, dass ich aufgrund von Recherchen in bestimmten Milieus zum Beobachtungs- oder Überwachungsobjekt werde.
Ich möchte nicht, dass mein Recherchematerial in die Hände von Ermittlern kommt oder Quellen nicht mehr sicher sind.
Arndt Ginzel, Kläger, im Interview

Auch die Überwachung von Telekommunikationsverkehr und Internetnutzung (§ 66) ermöglicht das neue Polizeigesetz, wobei hier an Straftatbestände angeknüpft wird, die ihrerseits bereits weit im Vorfeld einer Straftat liegen. Bei einer solchen Vorverlagerung von Eingriffsbefugnissen in das „Vorfeld des Vorfelds“ kann es ausreichen, dass eine Person Kontakte zu Straftäter*innen hat, um in den Fokus der Polizei zu geraten.

Zusätzlich darf die sächsische Polizei nun auch Vertrauenspersonen einsetzen (§ 64), um Menschen auszuspähen. Angesichts der vielfältigen Probleme beim Einsatz von V-Personen, drastisch offenbart durch den NSU, sind gesetzliche Schutzvorkehrungen nötig – die das Gesetz aber gerade nicht enthält. Das verletzt das Rechtsstaatsprinzip.

Ich kann mich nicht mehr unbefangen bewegen, wenn ich ständig damit rechnen muss, dass die Polizei meine Gesichtszüge erfasst und abgleicht.
Anja Merkel, Klägerin, im Interview

Intelligente Videoüberwachung verletzt Recht auf informationelle Selbstbestimmung - Innenministerium greift ein

Ein deutschlandweites Novum stellte die Befugnis zur intelligente Videoüberwachung (§ 59) dar. Die Polizei durfte danach nicht nur Videoaufzeichnungen anfertigen, sondern diese auch automatisiert mit polizeilichen Daten abgleichen. Dies schloss laut der Gesetzesbegründung den Abgleich von besonders sensiblen biometrischen Daten (Gesichtserkennung) ein. Dadurch wurde das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt, weil die Maßnahme ohne konkreten Anlass zulässig ist. Die intelligente Videoüberwachung erstreckte sich auf das gesamte Grenzgebiet bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern (§ 59 Abs. 1 Satz 1). Das umfasst etwa die Hälfte der Fläche des Freistaats. Die Anordnung wurde nun durch das Innenministerium überprüft. Es kommt zu dem Schluss, dass die Maßnahme nicht verhältnismäßig war und nicht über Dezember hinaus verlängert wird.

Handgranateneinsatz verstößt gegen Menschenwürde und Trennung von Militär und Polizei

Schließlich richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen den Einsatz von Kriegswaffen wie Handgranaten durch die Polizei (§ 40 Abs. 4). Das verletzt nicht nur die verfassungsrechtlich gebotene Trennung von Militär und Polizei, sondern auch die Menschenwürde. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts darf der Staat nicht zwischen den Leben Unschuldiger abwägen. Das macht er jedoch, wenn er beim Einsatz von Handgranaten den Tod Unschuldiger in Kauf nimmt.

Wer klagt?

Kläger*innen in dem Verfahren sind Journalisten, Rechtsanwält*innen, ein Fußballfan und eine Sozialarbeiterin. Sie werden vertreten durch Prof. Dr. Matthias Bäcker (Universität Mainz).

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