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Corona und die Zivilgesellschaft ©Benjamin Borgerding, Greenpeace
Demokratie und Grundrechte
Art. 1

Corona und Zivilgesellschaft

Das GFF-Monitoring-Projekt „Corona-Virus und Civic Space in Deutschland“ beobachtet Folgen der Corona-Pandemie für die Zivilgesellschaft und bewertet sie verfassungsrechtlich.

Das öffentliche Leben ist durch die Maßnahmen fast vollständig lahm gelegt, mit denen die Regierung die Corona-Pandemie eindämmen will. Für unsere Demokratie ist das eine kritische Zeit. Denn aktuell können zivilgesellschaftliche Akteure, Organisationen wie Einzelpersonen ihre Aufgaben nur noch sehr begrenzt wahrnehmen. Die Freiheitsrechte, auf denen unser friedliches Miteinander basiert, sind stark eingeschränkt: die Meinungs- und Versammlungsfreiheit ebenso wie die demokratischen Teilhabemöglichkeiten. Damit Demokratie und Zivilgesellschaft durch das Corona-Virus keinen irreparablen Schaden nehmen, gilt es jetzt, wachsam zu bleiben.

Mit dem Monitoring-Projekt „Corona-Virus und Civic Space in Deutschland“, das wir im Auftrag von Greenpeace durchführen, beobachten wir die aktuellen Beschränkungen zivilgesellschaftlicher Handlungsspielräume und bewerten sie verfassungsrechtlich. Auf dieser Seite veröffentlichen wir unsere zwischen April und September 2020 erarbeiteten Analysen. Dabei konzentrieren wir uns auf die für die Zivilgesellschaft relevanten Bereiche:

  1. Demonstration und Protest: Beschränkungen im Versammlungsrecht erschweren stark öffentlichkeitswirksame Demonstrationen und Meinungsäußerungen. (Kurzstudie hier herunterladen, Studien-Update hier herunterladen)
  2. Demokratische Teilhabe: Beschleunigte Gesetzgebungsverfahren schränken zivilgesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten deutlich ein. (Kurzstudie hier herunterladen)
  3. Überwachung: Neue Überwachungstechnologien bergen Gefahren auch für zivilgesellschaftliche Akteure.

A. Corona-Maßnahmen und die Zivilgesellschaft: Fazit und Ausblick im September 2020

Fazit und Ausblick im September 2020

Fazit und Ausblick im September 2020

Das Corona-Virus prägte in den vergangenen Monaten den politischen Diskurs und führte zu vorher kaum vorstellbaren Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Zwischen April und Juni 2020 beobachtete die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) im Auftrag von Greenpeace, welche Auswirkungen die Corona-Maßnahmen auf die Zivilgesellschaft haben. Unsere verfassungsrechtlichen Analysen konzentrierten sich insbesondere auf drei Bereiche:

  1. Demonstration und Protest: Beschränkungen im Versammlungsrecht erschweren stark öffentlichkeitswirksame Demonstrationen und Meinungsäußerungen.
  2. Demokratische Teilhabe: Beschleunigte Entscheidungsprozesse schränken zivilgesellschaftliche Beteiligungsmöglichkeiten deutlich ein.
  3. Datenschutz und neue Technologien: Der Einsatz von Corona-Apps birgt auch Gefahren für zivilgesellschaftliche Akteure.

Zum Abschluss des Monitoring-Projekts „Corona Virus und Civic Space in Deutschland“ führen wir diese drei Bereiche zusammen. Wir beleuchten, welche Lehren für die Zukunft sich aus den Erfahrungen der ersten Monate der Krise ergeben – und was die Politik tun sollte, um in Zukunft besser in Pandemien gerüstet zu sein.

A.1. Kurzstudie “Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona” (VÖ: 9. April 2020)

1. Corona-Maßnahmen und die Zivilgesellschaft

Corona-Maßnahmen und die Zivilgesellschaft

Die zum Infektionsschutz angeordneten Kontaktbeschränkungen treffen die aktive Zivilgesellschaft in besonderem Maße. Sie schränken Handlungs- und Kommunikationsräume ein und erschweren damit demokratische Einflussmöglichkeiten auf den politischen Prozess erheblich.

Dies ist problematisch, weil es gerade in diesen Zeiten wichtig ist, dass die Zivilgesellschaft an der demokratischen Willensbildung teilhaben kann. Da sich die Politik auf eine effektive Eindämmung der Pandemie fokussiert, droht sie andere gesellschaftspolitische Probleme wie Klimawandel und Asylpolitik zu vernachlässigen. Auch den Schutz von besonders verletzlichen Gruppen der Gesellschaft – wie Menschen mit Behinderungen oder Menschen in Massenunterkünften – gewährleistet die Politik in den teilweise verkürzten und beschleunigten Entscheidungsprozessen nicht konsequent. Deswegen muss die Zivilgesellschaft gerade während der Krise dringend gehört werden – als Vertreterin marginalisierter Gruppen sowie für die Wahrung des geltenden Grundrechtsschutzes.

2. Demonstration und Protest

Demonstration und Protest

Versammlungen auf offener Straße sind eine unmittelbare und elementare Form demokratischer Teilhabe und Mitgestaltung. Protest durch Demonstrationen ist den meisten Menschen zugänglich. Auch Menschen ohne organisierte Lobby, ob jung oder alt, können ihre Anliegen auf die Straße tragen und so auf sie aufmerksam machen.

Damit erfüllt die in Art. 8 Grundgesetz geschützte Versammlungsfreiheit eine zentrale demokratische Funktion, die das Bundesverfassungsgericht im Brokdorf-Beschluss wie folgt beschrieben hat: “Sie bieten … die Möglichkeit zur öffentlichen Einflußnahme auf den politischen Prozeß, zur Entwicklung pluralistischer Initiativen und Alternativen oder auch zu Kritik und Protest … ; sie enthalten ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren”. (BVerfGE 69, 315 – Brokdorf, Rn. 67)

Dieses „ursprünglich-ungebändigte“ Element von Demonstrationen ließ und lässt sich während der Corona-Pandemie nicht einfach so aufrechterhalten. Gleichwohl muss der Staat die grundlegende Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Demokratie schützen und darf bei Beschränkungen nicht über das infektionsschutzrechtlich Erforderliche hinausgehen. Die vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten allgemeinen Anforderungen an die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit gelten auch in der Corona-Krise und müssen stets beachtet werden – von Politik und Gesetzgebung ebenso wie von den Gerichten.

2.1. Verfassungsrechtliche Vorgaben für Versammlungsverbote und -auflagen gelten auch in der Corona-Krise

Verfassungsrechtliche Vorgaben für Versammlungsverbote und -auflagen gelten auch in der Corona-Krise

Die verfassungsrechtlichen Anforderungen an Verbote und Beschränkungen der Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 Grundgesetz (GG) hat das Bundesverfassungsgericht vor allem im Brokdorf-Beschluss entwickelt.

Insbesondere ist eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung notwendig: Weil die Versammlungsfreiheit von grundlegender Bedeutung ist, sind Beschränkungen nur „zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit“ zulässig (Rn. 70). Verbote können daher immer nur das letzte Mittel sein. Sie sind nur zulässig, wenn den von der konkreten Versammlung ausgehenden Gefahren nicht durch Auflagen – also Vorgaben für die Durchführung der Versammlung – begegnet werden kann (Rn. 80). Außerdem ist die Polizei verpflichtet, mit Veranstalter*innen von Demonstrationen zu kooperieren (Rn. 89), um eine Durchführung der Versammlung so weit wie möglich zu ermöglichen. Den Staat trifft also auch eine Schutzpflicht zugunsten der Versammlungsfreiheit.

Diese verfassungsrechtlichen Grundsätze sind auch unter den veränderten Bedingungen der Corona-Krise im Grundsatz anzuwenden. Mitte April 2020 hat dies auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in zwei Beschlüssen klargestellt.

In einer ersten Entscheidung am 15.04.2020 (1 BvR 828/20) erklärte das BVerfG, dass Demonstrationen nicht ohne Prüfung des konkreten Einzelfalls verboten werden dürfen. Denn Versammlungsfreiheit und Infektionsschutz sind nicht per se unvereinbar, sondern müssen bestmöglich miteinander in Einklang gebracht werden. Dies geschieht vor allem dadurch, dass Versammlungskonzepte an die Anforderungen angepasst werden, die auch sonst für den Infektionsschutz im öffentlichen Raum gelten. Beispielsweise können Versammlungskonzepte Vorkehrungen für die Einhaltung des Mindestabstandes zwischen den Teilnehmer*innen und ggf. weitere Schutzmaßnahmen vorsehen, beispielsweise das Tragen eines Mund- und Nasenschutzes.

Kleinere Ansammlungen von Menschen wurden zu jedem Zeitpunkt der Krise gestattet oder zumindest in Kauf genommen – man denke nur ans Einkaufen im Supermarkt oder den öffentlichen Nahverkehr. Maßnahmen zum Infektionsschutz ermöglichten es, diese Aktivitäten mit den notwendigen Einschränkungen aufrecht zu erhalten. Grundrechtlich besonders geschützte Versammlungen dürfen vor diesem Hintergrund nicht pauschal verboten werden. Stattdessen müssen die Behörden bei jeder einzelnen Versammlung prüfen, ob sie infektionsschutzrechtlich vertretbar ist.

Dabei verpflichtet die im Brokdorf-Beschluss aus Artikel 8 GG abgeleitete staatliche Kooperationspflicht die Behörden dazu, mit den Veranstalter*innen zusammenzuarbeiten und Lösungen und Kompromisse zu suchen, wenn sie deren Schutzkonzepte für nicht ausreichend halten.

Die Geltung des verfassungsrechtlichen Kooperationsgebots hat das Bundesverfassungsgericht in einem zweiten Beschluss am 17.04.2020 klargestellt (1 BvQ 37/20, Rn. 25). Auch diese Feststellung stärkt einen effektiven Grundrechtsschutz. Denn für Veranstalter*innen ist es schwierig, ein „rechtssicheres“ Schutzkonzept zu erstellen, wenn die Behörde eine Zusammenarbeit verweigert.

Gerade in Zeiten, in denen die Durchführung von Versammlungen besonderen rechtlichen Anforderungen unterliegt (und in gewissem Umfang unterliegen darf), muss der Staat Versammlungsteilnehmer*innen bei der Planung und Durchführung unterstützen. Soweit eine einvernehmliche Lösung nicht möglich ist, müssen Behörde und Gerichte vorrangig Auflagen zur Versammlungsdurchführung erlassen – Mindestabstand, Mundschutzpflicht, ggf. Begrenzung der Teilnehmerzahl. Eine Versammlung verbieten dürfen sie nur, wenn derartige Auflagen ausnahmsweise nicht ausreichend sein sollten.

2.2. Positive Entwicklungen in der Praxis von Gesetzgebern, Behörden und Gerichten

Positive Entwicklungen in der Praxis von Gesetzgebern, Behörden und Gerichten

Die Zivilgesellschaft in Deutschland erprobte während der Pandemie kreative Formen des Protests und ging, wenn nötig, auch gerichtlich gegen Versammlungsverbote vor. Rückblickend ist die Entwicklung im Zeitraum März bis Juni 2020 eine positive Entwicklung erkennbar.

Zu Beginn der Kontaktbeschränkungen im März 2020 waren die gesetzlichen Regelungen sowie die Entscheidungen von Behörden und Gerichten zur Versammlungsfreiheit überwiegend restriktiv (näher hierzu unsere Kurzstudie „Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona“ vom 09.04.2020). In den meisten Bundesländern konnte in den ersten Wochen der Krise nur in Ausnahmefällen demonstriert werden: Die entsprechenden „Corona-Verordnungen“ einiger Länder kamen teilweise einem Totalverbot gleich. In vielen anderen Bundesländern wurden die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Genehmigung von Versammlungen von Behörden und Gerichten so eng ausgelegt, dass erlaubte Versammlungen in den ersten Wochen der Krise eine seltene Ausnahme blieben. Eine Kooperation der Behörden mit den Veranstalter*innen fand in den wenigsten Fällen statt.

Die Gerichte thematisierten eine Pflicht der Behörden zur Kooperation meist nicht einmal. Stattdessen verwiesen Richter*innen auf „digitale Protestmöglichkeiten“ oder darauf, dass die Einschränkungen ja nur „vorübergehend“ seien. Beides wird der Bedeutung der Versammlungsfreiheit nicht gerecht. Artikel 8 des Grundgesetzes stellt den physischen Protest auf der Straße unter besonderen Schutz und überlässt den Teilnehmer*innen die Wahl des Zeitpunktes – vor allem dann, wenn sie auf aktuelle Missstände aufmerksam machen wollen.

Seit den beiden oben erwähnten Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts von Mitte April 2020 ist die Rechtsprechung insgesamt versammlungsfreundlicher geworden (näher unser Update „Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona“ vom 20.05.2020). Schon Ende Mai wurden Versammlungen nur noch selten verboten, sondern durften unter Auflagen stattfinden. Auch die Zahl der von Behörden und Gerichten für zulässig erachteten Teilnehmer*innen wuchs zunehmend.

Die Gesetzeslage hat sich ebenfalls vielfach verbessert. Inzwischen gilt in allen Bundesländern wieder, dass Versammlungen grundsätzlich erlaubt sind und nur aus konkreten Gründen im Einzelfall verboten oder von Auflagen abhängig gemacht werden dürfen.

2.3. Fehlende Schutzkonzepte bei den „Anti-Corona Demos“: Feuerprobe für Versammlungsfreiheit

Fehlende Schutzkonzepte bei den „Anti-Corona Demos“: Feuerprobe für Versammlungsfreiheit

Die als „Hygiene-Demos“ bekannt gewordenen Versammlungen, die sich gegen die Corona-Maßnahmen richten, stellten die Rückkehr zur Versammlungsfreiheit erneut vor politische und rechtliche Herausforderungen.

Vor allem im Laufe des Aprils 2020 fanden in vielen deutschen Städten Kundgebungen gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus statt. Diese Demonstrationen überschritten in vielen Fällen die angemeldete Personenzahl oder waren nicht angemeldet. Die teilweise über 500 Teilnehmenden hielten keinen Abstand voneinander und trugen in der Regel keinen Mund-Nasen-Schutz. Da einige der Teilnehmenden die Existenz des Corona-Virus in Frage stellen oder leugnen, hielten sie auch Schutzmaßnahmen für überflüssig.

Zwar wurden die Demonstrationen teilweise wegen fehlender Schutzkonzepte aufgelöst, insgesamt führten die Hygiene-Demos aber nicht dazu, dass die Versammlungsfreiheit wieder generelle beschränkt wurde.

Besonderes Aufsehen erregten die Großdemonstrationen, die am 28/29. August in Berlin unter dem Motto „Versammlung für die Freiheit“ stattfanden. Berlin wurde zum Anlaufpunkt für Tausende Kritiker*innen der aktuellen Corona-Politik, die sich mehrheitlich nicht an die geltenden Schutzmaßnahmen, wie Abstandsregeln und Mund-Nasen-Bedeckung, hielten. Die Versammlungsbehörde in Berlin hatte die Demonstration im Vorfeld mit der Begründung verboten, dass sich die Teilnehmenden bei vergangenen Veranstaltungen bewusst über Hygieneregeln und entsprechende Auflagen hinweggesetzt hätten. Diese Verbotsverfügung wurde allerdings seitens des Verwaltungsgerichts (VG) Berlin kurzfristig gekippt (Beschl. v. 28.08.2020, Az. VG 1 L 296/20). Aus Sicht des VG lagen die Voraussetzungen für ein Verbot nicht vor. Eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit lasse sich weder aus dem Verlauf voriger Demonstrationen noch aus der kritischen Haltung der Teilnehmer*innen zur Corona-Politik ableiten. Das von den Veranstalter*innen vorgelegte Hygienekonzept sei vom Land Berlin nicht ausreichend geprüft worden.

Auch nach den Eilbeschlüssen des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Berlin-Brandenburg (v. 29.08.2020, Az. OVG 1 S 101/20 und OVG 1 S 102/20) durfte die Versammlung nicht verboten werden. Der Widersprich der Behörden gegen das Verbot blieb damit erfolglos. Das OVG bestätigte die Beschlüsse des VG: “Sowohl die ausreichend dimensionierten Versammlungsflächen als auch die Anzahl der eingesetzten Ordner und Deeskalations-Teams sowie die vorgesehene Blockbildung innerhalb des Aufzugs rechtfertigten kein Versammlungsverbot”. Die Versammlungen fanden daher zunächst statt, mussten aber wegen Verstößen gegen Schutzauflagen aufgelöst werden. Trotz wiederholter Aufforderungen durch die Polizei wurden die Mindestabstände nicht eingehalten, auch habe der Versammlungsleiter keine Möglichkeit gehabt, auf die Teilnehmenden einzuwirken. Es sollen Schätzungen zu Folge rund 43.000 Menschen an den Protesten teilgenommen haben.

2.3. Die Versammlungsfreiheit geht gestärkt aus der Krise hervor

Die Versammlungsfreiheit geht gestärkt aus der Krise hervor

Demokratische Freiheitsrechte sind das Fundament unserer Demokratie, und sie haben sich auch in der Krise als widerstandsfähig erwiesen. Auch in Krisenzeiten darf die Versammlungsfreiheit nicht einfach ausgesetzt werden. Die Versammlungsfreiheit stärkten insbesondere auch die engagierten Bürger*innen, die unverhältnismäßige Beschränkungen nicht einfach hingenommen haben und auf kreative Weise weiter für wichtige gesellschaftspolitische Anliegen protestiert haben. Zwar steht eine umfassende Aufarbeitung der Corona-Beschränkungen noch aus, aber schon jetzt zeichnet sich ab: Die Versammlungsfreiheit geht gestärkt aus der Krise hervor.

Dennoch muss die Zivilgesellschaft den staatlichen Umgang mit Protesten weiterhin im Blick behalten. Die behördlichen Auflagen müssen fortwährend dahingehend überprüft werden, ob sie dem Ziel des Infektionsschutzes dienen und ob sie verhältnismäßig sind.

So halten manche Gerichte jede staatlich auferlegte Dokumentationspflicht von Teilnehmer*innen-Daten für verfassungswidrig; andere Gerichte sehen Grundrechte nur als verletzt an, wenn derartige Teilnehmer*innen-Listen anlasslos, also unabhängig von nachgewiesen Infektionen an staatliche (Gesundheits-)Behörden weitergegeben werden. Besonders kritisch ist hierbei auch die abschreckende Wirkung zu sehen, die sich aus dem Einsatz von Listen für viele Menschen ergibt (chilling effects). Hinzu kommt, dass Listen bei Demonstrationen in vielen Fällen nicht hilfreich wären: Bei Tausenden von Menschen bleibt unklar, wer einem infizierten Menschen überhaupt für eine mögliche Infektion hinreichend nahegekommen ist.

Auch Auflagen zu Teilnehmer*innenzahlen sind rechtlich nicht unproblematisch. Die bloße Anzahl der versammelten Menschen erhöht die Infektionsgefahr noch nicht unbedingt. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, ob nach dem Versammlungskonzept eine deutlich erhöhte Infektionsgefahr zu befürchten ist, etwa weil keine wirksamen Maßnahmen gegen eine Unterschreitung der Mindestabstände vorgesehen sind. Sind solche Maßnahmen aber vorgesehen, ist bei einer Begrenzung der Teilnehmer*innenzahl Zurückhaltung geboten. Wenn der Staat die Zahl der Demonstrierenden festlegt, betrifft das den Kern des von Artikel 8 GG geschützten Selbstbestimmungsrechts der Veranstalter*innen (siehe etwa VGH Baden-Württemberg vom 16.05.2020). Daher müssen Einschränkungen sorgfältig begründet sein. Nicht unproblematisch ist es etwa, wenn das OVG Hamburg eine zuvor vom VG Hamburg unter umfassenden Auflagen zu Ordner*innenzahl und Aufbau der Versammlung für 900 Personen zugelassene Demonstration auf dem großen Hamburger Rathausmarkt auf 300 Personen ohne weitere Begründung begrenzt.

Dass sich Menschen mit ihrem Protest gegen die Corona-Politik richten, darf kein Grund dafür sein, entsprechende Demonstrationen zu verbieten. Gerade unliebsame Positionen müssen in einer freiheitlichen Demokratie von der Versammlungsfreiheit geschützt sein. Entscheidend bleibt aber, dass die Teilnehmenden sich an die notwendigen Schutzmaßnahmen und die dafür geltenden Auflagen halten.

3. Demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Pandemie

Demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Pandemie

Zivilgesellschaftliches Engagement in unserer Gesellschaft ist vielfältig. Neben dem Engagement etwa im Freizeitbereich übernimmt die Zivilgesellschaft auch zentrale gesellschaftspolitische Aufgaben. Zivilgesellschaftliche Organisationen setzen sich für die Rechte von benachteiligten Gruppen ein und tragen dazu bei, gesellschaftliche Missstände zu beheben. Die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen ist daher für ein friedliches, demokratisches Miteinander unverzichtbar.

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind politische Akteure; diese Rolle ist keineswegs den Parteien vorbehalten. Nach Art. 21 Abs. 1 GG wirken die Parteien „bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“. Dass sie nur „mitwirken“, eröffnet ausdrücklich Raum beispielsweise für zivilgesellschaftliche Organisationen.

Das originäre Recht der Zivilgesellschaft, die politischen Willens- und Meinungsbildung mitzugestalten, muss die Regierung auch in Krisenzeiten beachten. Wenn zivilgesellschaftliche Organisationen in parlamentarische Abläufe einbezogen werden, kann das helfen, Infektionsschutzmaßnahmen zu legitimieren. Wenn die Politik auch in einer Ausnahmesituation vielfältige Perspektiven in ihre Entscheidungen einbezieht, wird das Vertrauen der Menschen in staatliche Maßnahmen gestärkt. Wird die Zivilgesellschaft in staatliche Entscheidungsprozesse einbezogen, erhöht das zudem die Chancen, dass Gesetze und Maßnahmen wo nötig nachjustiert werden und schlussendlich dem Gemeinwohl dienen.

In Zeiten von verkürzten Gesetzgebungsverfahren und erweiterten Ermächtigungen der Exekutive war es jedoch für die Zivilgesellschaft zeitweise äußerst schwierig, demokratische Teilhabe- und Freiheitsrechte einzufordern und auszuüben.

3.1. Notstandsmentalität gefährdet demokratische Teilhabe

Notstandsmentalität gefährdet demokratische Teilhabe

Die Corona-Krise hat die Rahmenbedingungen für die Teilhabe zivilgesellschaftlicher Organisationen an staatlichen Entscheidungsprozessen verändert. Teilweise war die Teilhabe stark erschwert, insbesondere wegen der beschleunigten Entscheidungsprozesse (näher hierzu unsere Kurzstudie „Demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Pandemie“ v. 16.06.2020).

Dies betrifft insbesondere die ersten Eindämmungs-Maßnahmen im März 2020, die die Exekutive in Form von Rechtsverordnungen erließ. Als Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Schul- und Kitaschließungen verhängt wurden, war beispielsweise übersehen oder vernachlässigt worden, dass hierdurch die Gefahr häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder zunehmen würde. Denn zivilgesellschaftliche Organisationen wie Frauenhäuser und Kinderschutzbund wurden bei den Entscheidungsprozessen nicht gehört, sondern erst nachträglich nach negativen Medienreaktionen einbezogen.

Auch bei den Lockerungsmaßnahmen entzündete sich Kritik daran, dass die Exekutive wirtschaftliche Belange scheinbar stärker als soziale Belange berücksichtigte. Durch die Öffentlichkeit bemängelt wurde beispielsweise, dass die Maßnahmen den Rechten von Kindern auf Chancengleichheit und Bildung nicht gerecht wurden. Das Expert*innen-Gremium der Leopoldina geriet vor diesem Hintergrund auch wegen seiner homogenen Zusammensetzung in die Kritik.

Die demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft ist deutlich schlechter abgesichert, wenn zentrale Entscheidungen auf die Ebene der Exekutive verlagert werden. Doch der Krisenmodus erfasste auch parlamentarische Gesetzgebungsverfahren. Zu Beginn der Krise wurden grundlegende Gesetzesvorhaben, z.B. das erste Bevölkerungsschutzgesetz oder das Gesetz zu den „Corona-Hilfen“, im Schnellverfahren durch die Parlamente gejagt – ohne Anhörungen von Expert*innen oder sonstigen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft. Dies war bei späteren Gesetzesvorhaben ab Mai 2020 anders.

Inzwischen werden Anhörungen wieder durchgeführt. Die Streichung des geplanten „Immunitätsnachweises“ im Infektionsschutzgesetz des Bundes oder der Zwangsverpflichtung von Ärzt*innen im nordrhein-westfälischen Infektionsschutzgesetz sind Beispiele dafür, dass sich die Parlamente wieder mit Bedenken aus der Zivilgesellschaft auseinandersetzen (näher unsere Kurzstudie „Demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Pandemie“ vom 19.06.2020). Auch die Entwicklung der Corona-Tracing-App zeigt, wie wichtig der Einzug zivilgesellschaftlicher Positionen für die Akzeptanz von Infektionsschutzmaßnahmen ist (siehe unten, Abschnitt III.).

3.2. Die Krise als Chance für neue Beteiligungsformate

Die Krise als Chance für neue Beteiligungsformate

Wegen der geltenden Kontaktbeschränkungen kommen zahlreiche klassische Formate, in denen sich die Zivilgesellschaft bislang an politischen Prozessen beteiligte, weiterhin nicht in Frage. Sitzungen in Parlamenten und Ausschüssen finden auch im Juli 2020 noch ohne Besucher*innen statt, Rathäuser sind nur beschränkt zugänglich und persönliche Anhörungen zumindest erschwert.

Die aktuelle Situation bietet insofern auch die Chance, digitale Beteiligungsformate auszubauen. Eine Entwicklung in diese Richtung ist bereits zu beobachten (näher unsere Kurzstudie „Demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Pandemie“ vom 19.06.2020). Sitzungen von Parlamenten und Ausschüssen wurden bereits vor der Krise auch online per Livestream übertragen. Neu ist, dass nunmehr auch Anhörungen in Ausschüssen digital durchgeführt und Expert*innen per Videokonferenz zugeschaltet werden.

Auch die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Planungs- und Verwaltungsverfahren wird zunehmend digitalisiert. Hier sind unter dem Eindruck der Pandemie längst überfällige Neureglungen zu verzeichnen. So haben Bürger*innen wegen der eingeschränkten Zutrittsmöglichkeiten zu Rathäusern nun die Möglichkeit, (Planungs-)Unterlagen online einzusehen. Solche Fortschritte bei der Digitalisierung von Verwaltung und Bürger*innenbeteiligung sollten auch nach der Krise beibehalten und weiterentwickelt werden.

Allerdings müssen digitale Beteiligungsmodelle ihren analogen Vorbildern auch wirklich inhaltlich gleichwertig sein. Bei der Bereitstellung von Informationen wird dies in der Regel der Fall sein. Anderes gilt aber für Beteiligungsformate wie Anhörungen. Insbesondere ist eine Kombination aus Vorabinformation und Möglichkeit zur schriftlichen Stellungnahme kein gleichwertiger Ersatz für einen persönlichen Dialog zwischen Betroffenen und Entscheidungsträger*innen, wie er in Erörterungsterminen oder Aktionärsversammlungen stattfindet.

Gelingt eine angemessene Ausgestaltung digitaler Beteiligungskonzepte, bleibt das Problem, dass manche Bürger*innen diese nicht nutzen können oder wollen. Die Regierung muss daher weiter daran arbeiten, für alle einen Zugang zu digitaler Infrastruktur zu schaffen. Daher sollten analoge Beteiligungsformen neben digitalen Alternativen erstmal bestehen bleiben, so dass z.B. Informationsmaterial sowohl digital als auch im Print zur Verfügung steht.

3.3. Demokratische Teilhabe erfordert Rettungsschirm und Rechtssicherheit

Demokratische Teilhabe erfordert Rettungsschirm und Rechtssicherheit

Die demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft während der Corona-Krise wird teilweise vernachlässigt. Andererseits gibt es positive und innovative Ansätze, die über die gegenwärtige Krise hinaus genutzt werden sollten.

Von neuen digitalen Formen der Beteiligung profitieren Demokratie und die Zivilgesellschaft aber nur dann langfristig, wenn der Staat seine Verantwortung wahrnimmt, auch gemeinnützigen Organisationen durch die Krise zu helfen. Der Staat muss die Rahmenbedingungen schaffen, die der Zivilgesellschaft ihre Arbeit ermöglicht und darf sie bei seinen finanziellen Schutzprogrammen nicht übersehen. Viele gemeinnützige Organisationen fordern einen „Rettungsschirm Zivilgesellschaft“ gerade auch deswegen, weil sie Unterstützung beim Ausbau von Digitalisierungsstrukturen benötigen. Denn bisher können und wollen nicht alle Organisationen und Akteur*innen gleichermaßen Online-Angebote nutzen.

Die Corona-Krise kann der Staat nur gemeinsam mit der Zivilgesellschaft überwinden. Entsprechend hat der Staat auch eine Verantwortung dafür, die Zivilgesellschaft für diese Aufgabe zu stärken. Dafür muss er zuallererst geeignete Rahmenbedingungen für die Arbeit gemeinnütziger Organisationen schaffen. Der Gesetzgeber ringt aktuell um eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts. Deren Ziel muss es sein, die politische Arbeit der Zivilgesellschaft auf sichere Beine zu stellen, so dass Vereine nicht mehr um den überlebenswichtigen Gemeinnützigkeitsstatus fürchten müssen. Dies ist während der Krise ganz besonders wichtig, da sie eine sich-einmischende Zivilgesellschaft braucht.

4. Chancen und Risiken von „Corona-Apps“

Chancen und Risiken von „Corona-Apps“

Seit dem 26. Juni 2020 können Smartphone-Nutzer*innen die deutsche „Corona-Warn-App“ herunterladen. Anfang September 2020 haben rund 17,1 Millionen Menschen die App auf ihren Smartphones installiert, rund 2500 Teletans wurden zur Verifizierung ausgegeben. Schätzungen zu Folge gibt es bisher insgesamt 2.877 gemeldete Fälle von Infizierten über die App (Stand: 04.09.2020).

Der Einsatz einer App zur Nachverfolgung („tracing“) von Kontakten, also als technisches Hilfsmittel bei der Pandemiebekämpfung, wurde seit Beginn der Corona-Krise diskutiert. Die App soll die zunächst ausschließlich manuellen Verfahren zur Identifizierung von Kontaktpersonen infizierter Menschen ergänzen und beschleunigen – und so die Nachvollziehbarkeit von Infektionsketten erleichtern. Der Einsatz von Corona-Tracing-Apps weckt so die Hoffnung, dass Lockerungen der Kontaktbeschränkungen beibehalten werden können, ohne dass es zu einer „zweiten Infektionswelle“ kommt.

Ursprünglich hatte die Regierung den Einsatz der Tracing-App bereits für einen früheren Zeitpunkt geplant. Die Entwicklung verzögerte sich auch deshalb, weil Politik und Zivilgesellschaft kontrovers und fruchtbar über die technische und rechtliche Ausgestaltung der App diskutierten (näher dazu unsere Kurzstudie vom 06.05.2020).

Der Austausch von Politik und Zivilgesellschaft war und ist beim Thema „Corona-Apps“ aus zwei Gründen besonders wichtig. Zum einen bergen Apps zur automatisierten Kontaktverfolgung bei falscher Ausgestaltung offenkundige Gefahren für die Grundrechte im Allgemeinen und für die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen im Besonderen. Anonymität ist für besonders verletzliche Gruppen wie etwa Whistleblower*innen oder Geflüchtete besonders wichtig, weil sonst ihr Schutz nicht gewährleistet werden kann.

Zum anderen können Apps zur Nachverfolgung von Kontakten nur dann einen wirkungsvollen Beitrag zur Pandemiebekämpfung leisten, wenn sie von einem erheblichen Teil der Bevölkerung auch tatsächlich genutzt werden. Die konkreten Zahlen dazu gehen auseinander, meist wird unter Berufung auf eine Studie der Universität Oxford die Nutzung von mindestens 60 Prozent als Voraussetzung ihrer Effektivität genannt.

Da die Verwendung der App in Deutschland zu Recht freiwillig ist, braucht es für ihren Einsatz Vertrauen und Akzeptanz. Damit eine App von der breiten Mehrheit akzeptiert und genutzt wird, müssen bestimmte technische und rechtliche Voraussetzungen erfüllt sein. Auf der technischen Seite muss das Programm effektiv und nachvollziehbar funktionieren, auf der rechtlichen Seite muss der Datenschutz umfassend gewährleistet sein.

A.2. Update “Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona” (VÖ: 20. Mai 2020)

4.1. Technische Ausgestaltung und Transparenz

Technische Ausgestaltung und Transparenz

Die Bundesregierung hat sich schon vor dem offiziellen App-Start dazu entschieden, den Programmcode der „Corona-Warn-App“ online zur Verfügung zu stellen. Eine Open-Source-Lösung, bei der die Quellcodes öffentlich einsehbar sind, fördert das für eine freiwillige Nutzung notwendige Vertrauen. Vor Bereitstellung der App haben mehr als 65.000 Programmierer*innen die veröffentlichten Codes freiwillig geprüft und Verbesserungsvorschläge gemacht. Die Möglichkeit, auf die Ausgestaltung der App Einfluss zu nehmen, wurde von der Zivilgesellschaft engagiert wahrgenommen.

Wie in den meisten anderen Ländern auch (eine länderspezifische Übersicht zu „Corona-Apps“ stellt das MIT bereit), basiert die automatisierte Kontaktverfolgung in Deutschland auf der „Bluetooth Low Energy“-Technologie (näher dazu in unserer Kurzstudie vom 06.05.2020). Das hat grundsätzlich den Vorteil, dass die App keine Standortdaten erhebt, sondern nur registriert, wenn sich zwei Menschen mit ihren Handys für eine gewisse Dauer nahe beieinander aufhalten. Die Begegnungen werden nicht namentlich zugeordnet, sondern pseudonymisiert anhand einer ID erfasst, die die Smartphones der Nutzer temporär erzeugen. Bei einem positiven Test geben die Erkrankten selbst ihre Infektion freiwillig in der App an. Andere Nutzer*innen, die sich über längere Zeit in der Nähe der infizierten Person befanden, werden dann über das Infektionsrisiko informiert.

Eine weitere Grundsatzentscheidung war, dass Daten nicht zentral erfasst werden, sondern nur lokal auf den Handys der Nutzer*innen. Die Entscheidung für eine dezentrale Lösung ist vor allem aus datenschutzrechtlicher Sicht grundsätzlich zu befürworten und kann daher auch akzeptanzfördernd wirken.

4.2. Datenschutzrechtliche Vorgaben und das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage

Datenschutzrechtliche Vorgaben und das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage

Der Schutz personenbezogener Daten wird durch das europäische Grundrecht auf Datenschutz (Artikel 8 der EU-Grundrechtecharta) sowie im Grundgesetz durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG) garantiert. Diese Grundrechte verlangen unter anderem, dass die Erhebung von Daten der Bürger*innen grundsätzlich einer Rechtsgrundlage bedarf, dass Daten nur für bestimmte und erkennbare Zwecke erhoben werden und nur in dem Umfang, der für die Erfüllung dieser Zwecke notwendig ist.

Diese Anforderungen gelten auch für die Rechtmäßigkeit der „Corona-Warn-App“. So muss die Regierung sicherstellen, dass wirklich nur solche Daten erhoben werden, die für die Nachverfolgung von Kontakten und die Information über Risikokontakte notwendig sind. Daneben muss sie sicherstellen, dass die erhobenen Daten nur für diese Zwecke verwendet werden und nicht an andere staatliche Stellen, insbesondere die Sicherheitsbehörden, weitergeleitet werden.

Als Rechtsgrundlage setzt die Bundesregierung derzeit allein auf die Einwilligung der Nutzer*innen und möchte auf ein „Corona-App-Gesetz“ verzichten. Dies kann perspektivisch noch zum Problem werden. Zwar kann die Einwilligung der Nutzer*innen juristisch bisher als Rechtsgrundlage genügen, weil die Nutzung der „Corona-Warn-App“ freiwillig ist. Eine gesetzliche Regelung treffen müsste die Bundesregierung aber dann, wenn zwangsweise in Grundrechte eingegriffen wird oder zumindest eine Situation entsteht, in der ein faktischer Nutzungszwang herrscht. Dies wäre etwa der Fall, wenn die Installation der App Voraussetzung für den Besuch öffentlicher Veranstaltungen wäre oder von Arbeitgeber*innen überprüft werden könnte. Bisher sind keine Fälle eines faktischen Nutzungszwangs bekannt, sodass es juristisch zum jetzigen Zeitpunkt nicht zwingend eine gesetzliche Grundlage braucht.

Eine konkrete gesetzliche Grundlage für den Einsatz de Corona-Warn-App böte den Vorteil, dass grundlegende Datenschutzgarantien explizit für den Einsatz der App abgesichert werden könnten. Das würde Vertrauen schaffen und festschreiben, dass die Datenschutzanforderungen auch bei einer Fortentwicklung der Software niemals zur Disposition stehen. Dies betrifft etwa den Kreis der Nutzungsberechtigten, die Art der erhobenen Daten und die maximale Speicherdauer.

4.3. Vertrauen der Nutzer*innen

Vertrauen der Nutzer*innen

Letztlich hat die Bundesregierung die Bedenken vom Chaos Computer Club und anderen Organisationen gegen die ursprünglichen Ideen zur Ausgestaltung der „Corona-Tracing-Apps“ berücksichtigt. Insbesondere die Forderungen nach mehr Transparenz und einer stärkeren Absicherung datenschutzrechtlicher Standards hat sie im weiteren Prozess umgesetzt. An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig es ist, zivilgesellschaftliche Stimmen früh in politische und gesetzgeberische Entscheidungsprozesse einzubinden – gerade in Krisenzeiten.

Es ist eine gemeinsame Aufgabe der politischen Entscheidungsträger*innen und der Zivilgesellschaft, über den offenen Quellcode des Programms auch in den kommenden Wochen die Funktionsweise der App zu überprüfen und die Datenverarbeitung nachzuvollziehen. Auch in Österreich waren Nichtregierungsorganisationen in die Evaluation der dortigen „Corona-App“ eingebunden. Eine fortlaufende Kooperation zwischen Staat und Zivilgesellschaft schafft Vertrauen und fördert somit eine freiwillige Nutzung der App.

Daneben müssen auch die Nutzer*innen selbst die Möglichkeit haben, verständliche Informationen zur Funktionsweise der App und vor allem zu den dort gespeicherten Daten zu erlangen. Hierfür sollten explizite und leicht verständliche Informations- und Auskunftsrechte sowie Beschwerdemöglichkeiten geschaffen werden. Weil der App-Einsatz bislang nicht gesetzlich geregelt ist, bestehen allerdings keine eigenständigen Informationsansprüche für Nutzer*innen. Rechtlos sind sie deshalb aber nicht, weil sie auf allgemeine Auskunftsansprüche etwa nach den Informationsfreiheitsgesetzen oder der Datenschutzgrundverordnung zurückgreifen könnten. Dennoch wären spezielle Regelungen als „vertrauensbildende Maßnahme“ zweifelsohne sinnvoll.

Im Sinne der gleichen Teilhabe aller Bevölkerungsgruppen und -schichten ist darüber hinaus wichtig, dass Informationen über die App und ihre Datenverarbeitung auch in den Sprachen verfügbar sind, die in Deutschland tatsächlich gesprochen werden – nicht nur Deutsch und Englisch, sondern insbesondere auch Türkisch, Arabisch, Russisch und Rumänisch. Zudem werden ärmere Bevölkerungsgruppen von der Nutzung – und damit von einem Instrument zum Gesundheitsschutz – ausgeschlossen, wenn die App dauerhaft nur auf neueren Geräten läuft. Hier muss dringend nachgebessert werden.

Schließlich muss die „Corona-Warn-App“ ein anlassbezogenes Instrument für eine akute Krisensituation bleiben und darf nicht zum Startschuss für eine deutlich umfassendere Sammlungen von Gesundheitsdaten werden. Derartige Entwicklungen sind international vielerorts zu beobachten. Ihnen vorzubeugen und entgegenzuwirken ist derzeit ein wichtiger Bestandteil der Wächteraufgabe der Zivilgesellschaft.

4.4. Anwendungsprobleme und Ausblick

Anwendungsprobleme und Ausblick

Wie die „Corona-Warn-App“ im weiteren Verlauf der Krise von der Bevölkerung angenommen wird und wie groß ihr Beitrag zur schnelleren Nachverfolgung von Infektionsketten langfristig sein wird, bleibt abzuwarten. Wie hoch die Beteiligungsrate bei der App sein muss, damit ihr Nutzen gewährleistet werden kann, ist umstritten. Einer Studie der Universität Oxford zu Folge, fängt die Corona-App an zu wirken, sobald 15 Prozent mitmachen. Demnach wären die aktuellen Downloadzahlen von mehr als 17 Millionen ein Erfolg. Anderen Einschätzungen zu Folge wird eine Nutzungsrate von mehr als 60 Prozent empfohlen.

Schon in den ersten Tagen nach der Einführung der App Mitte Juni gab es negative Nachrichten, da sich die App auf vielen älteren Geräten nicht herunterladen ließ. Kritisiert wurde zudem, dass die App anfangs nur in deutscher Sprache genutzt werden konnte. So wurden viele Menschen von der App-Nutzung potentiell ausgeschlossen. Inzwischen gibt es die Warn-App auch auf Englisch und Türkisch, Versionen in weiteren Sprachen werden aktuell entwickelt.

Um den App-Einsatz nicht nur in Deutschland, sondern auch innerhalb Europas nützlich zu machen, bauen die Deutsche Telekom und SAP im Auftrag der EU-Kommission aktuell eine europäische Warn-Plattform aus. Diese vernetzt die Corona-Apps der unterschiedlichen Mitgliedsstaaten miteinander und soll in Kürze fertig gestellt sein.

Im weiteren Verlauf des App-Einsatzes kam es zu unterschiedlichen Anwendungsproblemen. Ende Juli wurden Probleme bei der Risiko-Ermittlung bekannt. Nur die Nutzer*innen, die ihre App regelmäßig aktiv geöffnet hatten, wurden auch über eine mögliche Infektion informiert. Bei denjenigen, bei denen die App im Hintergrund lief, blieb die Mitteilung angeblich teilweise aus. Das Problem ist laut den Herstellern inzwischen durch ein Update behoben.

Mit der neuen Version der Corona-Warn-App soll nicht nur die Unterbrechung des Datenaustauschs im Hintergrund behoben werden, sondern auch andere Anwendungsprobleme. Die Erläuterungen der Texte zum persönlichen Risikostatus sowie der Testergebnisse waren teilweise missverständlich. Nun erhalten Nutzer*innen nach Begegnungen mit einer positiv auf Corona getesteten Person konkrete Erläuterungen zum individuellen Infektionsrisiko, das je nach Art der Begegnung unterschiedlich ausfallen kann.

Für die Akzeptant der Bevölkerung in Deutschland wird es neben der Einhaltung von datenschutzrechtlichen Vorgaben entscheidend darauf ankommen, dass die Corona-Tracing-App verlässlich funktioniert. Dazu gehört auch, dass das Gesundheitsministerium öffentlich darüber informiert, wenn es zu Störungen kommt und erklärt, wie und wann diese behoben werden.

5. Handlungsempfehlungen an die Politik

Handlungsempfehlungen an die Politik

Die Erfahrungen der ersten Monate der Corona-Krise erlauben es, erstes Resümee zum Verhältnis zwischen den Corona-Maßnahmen und zivilgesellschaftlichen Handlungsspielräumen zu ziehen: Unter welchen Bedingungen darf die demokratische Politik die Rechte der Zivilgesellschaft einschränken und wo liegen dabei die Grenzen? Welche Verantwortung hat die Politik, die Arbeit der Zivilgesellschaft auch in Krisen-Zeiten zu ermöglichen und geeignete Rahmenbedingungen für sie zu schaffen?

Diese Fragen sind insbesondere relevant für die Zukunft. Ziel muss es sein aus den Erfahrungen der jetzigen Krise zu lernen, so dass die Zivilgesellschaft in zukünftigen Krisen besser abgesichert ist.

Stärkung der Versammlungsfreiheit der Zivilgesellschaft

  • Die Versammlungsfreiheit darf im freiheitlich-demokratischen Staat nicht generell verboten werden, sondern nur in Ausnahmefällen und als ultima ratio. Die Bundesländer sind daher aufgefordert, in zukünftigen Krisen das Versammlungsrecht mit allen Mitteln zu verteidigen. Es muss auch in Zukunft eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Einzelfall durchgeführt werden und gelten: Auflagen statt Verbote.
  • Der Staat hat eine Gewährleistungspflicht und muss dafür Sorge tragen, dass eine Versammlung nach Möglichkeit ungestört ablaufen kann. Die Verantwortung für die Einhaltung von Kontaktbeschränkungen darf von den Versammlungsbehörden nicht auf die Versammlungsleiter*innen abgewälzt werden und als Vorwand für ein präventives Versammlungsverbot gelten.
  • Die Versammlungsfreiheit darf nicht wieder mit dem Verweis auf den digitalen Raum oder einen späteren Zeitpunkt ausgehöhlt werden. Ein Verweis auf „Alternativen“ kommt also letztlich einem Verbot gleich.

Stärkung der demokratischen Teilhaberechte

  • Informationsrechte als Existenzbedingung der aktiven Zivilgesellschaft sind in verschiedenen Kontexten und Formen rechtlich vorgesehen und müssen für zukünftige Krisen besser rechtlich abgesichert werden.
  • Auch bei zeitlichem Handlungsdruck für politischen Entscheidungsträger*innen muss die Zivilgesellschaft in Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Auch Beteiligungs- und Anhörungsrechte müssen weiter gestärkt werden, indem sie rechtlich abgesichert werden.
  • Die Politik muss Online-Lösungen für Anhörungs- und Beteiligungsverfahren weiter erforschen und die digitalen Voraussetzungen hierfür bereitstellen. Die Politik sollte einen „Rettungsschirm für die Zivilgesellschaft“ schaffen, der unter anderem auch den erforderlichen Ausbau digitaler Infrastruktur ermöglicht.

Stärkung des Datenschutzes und staatlicher Transparenzpflichten bei neuen Technologien

  • Der Einsatz der Contact-Tracing-App setzt das Vertrauen der Nutzer*innen voraus, welches nur durch die Gewährleistung hoher Transparenz gewährleistet werden kann. Auch beim Einsatz zukünftiger Technologien müssen hohe Transparenzanforderungen gelten und der Quellcode der jeweiligen Anwendungen frühzeitig und vor Inbetriebnahme offengelegt werden. Nur dann kann die Zivilgesellschaft ihrer Kontrollfunktion nachkommen.
  • Bereits vor der Einführung neuer Technologien muss eine transparente und umfassende Datenschutz-Folgenabschätzung durchgeführt werden. Geltende Datenschutzanforderungen müssen im Rahmen der Datenschutz-Folgenabschätzung aus der Perspektive der Betroffenen geprüft werden und entsprechende Analyse-Berichte öffentlich zugänglich sein.
  • In vielen Fällen sind zivilgesellschaftliche Organisationen im Rahmen ihrer Arbeit besonders darauf angewiesen, die Anonymität der Menschen, mit denen sie arbeiten sicherzustellen (z.B. bei Whistleblowern oder bei Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere, denen die Abschiebung droht). Die Stimme der Zivilgesellschaft verdient bei der Einführung neuer Technologien und der Einschätzung ihrer Risiken, besonderes Gehör.

Allgemeine Rechtssicherheit für die Zivilgesellschaft

  • Es gibt kein eigenes Ministerium oder eine größere staatliche Einrichtung, die sich konkret für die Interessen der Zivilgesellschaft einsetzt. Obwohl die Bedeutung des Gemeinnützigkeitsstatus weit über das Steuerrecht hinaus geht, ist die Finanzverwaltung für die Gewährung bzw. die Aberkennung des Status zuständig. Es braucht zukünftig eine stärkere Interessensvertretung der Zivilgesellschaft in der Politik.
  • Bei der anstehenden Reform des Gemeinnützigkeitsrechts muss auch die Bedeutung des politischen Engagements der Zivilgesellschaft berücksichtigt werden. Die Corona-Krise hat gezeigt, dass die politische Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle für das Funktionieren unserer Demokratie spielt. Die Mitwirkung an der politischen Meinungs- und Willensbildung darf den Gemeinnützigkeitsstatus zukünftig nicht mehr gefährden.

B. Kurzstudie: Demokratische Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Pandemie

1. Einleitung

A.1 Einleitung

Während die Zustimmung zu Parteien abnimmt, gewinnen zivilgesellschaftlichen Organisationen stetig neue Mitglieder (siehe: Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung). Diese Entwicklung hat unterschiedliche Gründe. So spielt das zunehmende Selbstverständnis der Gesellschaft als plural und divers eine Rolle. Außerdem werden wichtige Themen wie Klimaschutz und internationale Solidarität aus Sicht vieler von den Parteien nicht ausreichend beachtet.

Zivilgesellschaftliches Engagement ist vielfältig. Es reicht von der Arbeit in Sport- und Musikvereinen bis zur Übernahme von eigentlich sozialstaatlichen Aufgaben wie der Versorgung von Geflüchteten oder älteren Menschen. Zivilgesellschaftliche Organisationen setzen sich für die Rechte von benachteiligten Gruppen ein und für mehr Gerechtigkeit.

Die Arbeit der Zivilgesellschaft stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das zeigt sich auch in der Corona-Krise: Die Zivilgesellschaft engagiert sich vielfältig im Katastrophenschutz und in der Gesundheitsversorgung, und sie pocht auch jetzt immer wieder auf Solidarität. So machen sich viele Vereine stark für den Schutz von gewaltbetroffenen Frauen und Kindern, für eine menschenwürdige Unterbringung von Geflüchteten und die Rechte von Menschen mit Behinderungen.

Dieses Engagement ist zentral für unser friedliches, demokratisches Zusammenleben. Die Zivilgesellschaft muss am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess teilnehmen sowie die Möglichkeit haben, auf hoheitliche Sachentscheidungen Einfluss zu nehmen (vgl. WD-Ausarbeitung). Neben den Parteien spielen zivilgesellschaftliche Organisationen eine wichtige, eigene Rolle in der Demokratie. Im Idealfall trägt die Zivilgesellschaft „durch die Verbindung von interner Sozialisation und externem Sprachrohr zu gesellschaftlichem Zusammenhalt und einer funktionierenden Demokratie bei“ (WZB-Bericht, S. 65).

1.1 Zivilgesellschaftliche Organisationen als politische Akteure

Zivilgesellschaftliche Organisationen als politische Akteure

Nach Art. 21 Abs. 1 GG wirken die Parteien „bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“. Dass sie nur „mitwirken“, eröffnet ausdrücklich Raum für weitere Akteure wie zivilgesellschaftliche Organisationen.

In der Tat sind zivilgesellschaftliche Organisationen wichtige politische Akteure. Sie verschaffen insbesondere den Gesellschaftsgruppen und Themen Gehör, die sonst in der Politik und in anderen Machtstrukturen unterrepräsentiert sind. Sie bündeln Minderheits- und Mehrheitsbedürfnisse und artikulieren die Probleme der Menschen, die in Entscheidungsprozessen leicht übersehen werden. Die Politik profitiert von den so eingebrachten Perspektiven und ist auf diese zivilgesellschaftliche Expertise angewiesen. Umgekehrt vermeidet die Einbindung der Zivilgesellschaft in demokratische Prozesse eine Aufspaltung der Gesellschaft in viele unterschiedliche Interessengruppen und damit eine Desintegration.

Das originäre Recht der Zivilgesellschaft, die politischen Willens- und Meinungsbildung mitzugestalten, muss die Regierung auch in Krisenzeiten bei den parlamentarischen Abläufen beachten. Daneben steht die Zivilgesellschaft selbst in der Pflicht, politisch aktiv zu bleiben und auch in Zeiten von verkürzten Gesetzgebungsverfahren und erweiterten Ermächtigungen der Exekutive demokratische Teilhabe- und Freiheitsrechte einzufordern und auszuüben (siehe dazu Strachwitz, für die Maecenata-Stiftung).

Wenn Menschen wahrnehmen, dass zivilgesellschaftliche Organisationen auch in einer Ausnahmesituation gehört werden, kann das ihr Vertrauen in staatliche Maßnahmen etwa zum Infektionsschutz sowie deren Befolgung fördern. Wird die Zivilgesellschaft einbezogen, erhöht das die Chancen, dass Gesetze und Maßnahmen wo nötig nachjustiert werden und schlussendlich dem Gemeinwohl dienen. Wird die Zivilgesellschaft hingegen an den Rand gedrängt, erhöht das die Gefahr, dass sich eine geschlossene und auf nationalistische Lösungen fokussierte Gesellschaft entwickelt (ebd.).

1.2. Ausreichende Finanzierung des Zivilgesellschaftssektors als Voraussetzung demokratischer Teilhabe und neuer digitaler Beteiligungsformen

Ausreichende Finanzierung des Zivilgesellschaftssektors als Voraussetzung demokratischer Teilhabe und neuer digitaler Beteiligungsformen

Für zivilgesellschaftliche Organisationen bringt die Corona-Pandemie große finanzielle Sorgen mit sich. Viele sind in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht, etwa weil Spenden und Fördermittel von Unternehmen und Stiftungen wegzubrechen drohen und viele Fundraising-Events ausfallen. Dieser Bedrohung setzten die bislang aufgelegten staatlichen Hilfsmaßnahmen bisher kaum etwas entgegen. Dabei ist das Überleben zivilgesellschaftlicher Organisationen für die Demokratie wesentlich und erfordert, dass sie ausreichend finanziert sind.

Dieser Monitoring-Beitrag zur Situation der Zivilgesellschaft in der Pandemie widmet sich der Frage, wie sich die Corona-Krise auf den Dialog zwischen Staat und Zivilgesellschaft auswirkt und nimmt dabei die Frage nach finanzieller Rettungsangebote mit in den Blick.

Untersucht wird außerdem, wie sich die Corona-Maßnahmen seit Beginn der Pandemie Anfang März 2020 auf die Beteiligung der Zivilgesellschaft an den politischen Entscheidungsprozessen auswirken. Wie ist es zivilgesellschaftliche Akteur*innen gelungen, an politischen Prozessen mitzuwirken und wo kam die demokratische Teilhabe zu kurz?

Ebenfalls beleuchtet werden die Chancen, die sich aus digitalen Beteiligungsformen für die Zivilgesellschaft ergeben könnten – auch für die Zeit nach der Krise.

2. Teilhaberechte der Zivilgesellschaft und krisenbedingte Herausforderungen

B.2 Teilhaberechte der Zivilgesellschaft und krisenbedingte Herausforderungen

Laut der OECD muss demokratische Teilhabe der Bürger*innen auf drei Stufen verwirklicht werden: (1) Information der Zivilgesellschaft über Entscheidungsprozesse, (2) Beratung mit der Zivilgesellschaft während der Entscheidungsprozesse, (3) tatsächliche Mitentscheidung.

In Deutschland hat die Zivilgesellschaft einige etablierte Teilhaberechte, wobei Informations- und Beratungsrechte traditionell weit stärker ausgeformt sind als echte Mitentscheidungsrechte.

2.1 Informationsrechte der Zivilgesellschaft

Informationsrechte der Zivilgesellschaft

Zivilgesellschaftliche Organisationen können sich nur dann effektiv beteiligen, wenn sie umfassend und rechtzeitig über anstehende Entscheidungen informiert sind. Die Informationsrechte der Öffentlichkeit sind also die entscheidende Grundlage für alle weiteren Beteiligungsrechte. Informationsrechte sind als Existenzbedingung der aktiven Zivilgesellschaft daher in verschiedenen Kontexten und Formen rechtlich vorgesehen.

Wichtig ist dies vor allem in der Gesetzgebung. So müssen die Sitzungen des Bundestages nach Artikel 42 des Grundgesetzes (GG) öffentlich stattfinden. Ausschuss-Sitzungen, in denen die Detailarbeit an Gesetzesentwürfen stattfindet, sind zwar nach § 69 der Geschäftsordnung des Bundestages (GOBT) grundsätzlich nicht öffentlich. Allerdings finden in den Ausschüssen öffentliche Anhörungen statt (§ 70 GOBT), in denen Sachverständige und Interessenvertreter*innen zu Gesetzesvorhaben gehört und befragt werden.

Auch in der Verwaltung sind Informationsrechte vorgesehen. Zum Beispiel müssen die Entwürfe von Plänen frühzeitig öffentlich ausgelegt werden. Dies gilt sowohl für gewöhnliche Bebauungs-Pläne (vgl. etwa § 3 Absatz 1 des Baugesetzbuchs) als auch für Großvorhaben wie Autobahnen, Flughäfen oder Bahnhöfe (z. B. „Stuttgart 21“) oder Genehmigungen für größere Industrieprojekte (§ 10 Absatz 3 Satz 1 des Bundesimmissionsschutzgesetzes).

Darüber hinaus besteht ein allgemeiner Informationsanspruch über die Tätigkeit staatlicher Stellen, der sich aus den Informationsfreiheitsgesetzen des Bundes und der Länder ergibt. Er wird ergänzt durch spezielle Informationsrechte in Bezug auf Umweltinformationen und Verbraucherinformationen. Die GFF unterstützt etwa Transparenz-Klagen nach diesen Gesetzen.

2.2. Beteiligungs- und Anhörungsrechte der Zivilgesellschaft

Beteiligungs- und Anhörungsrechte der Zivilgesellschaft

Beteiligungs- und Anhörungsrechte bauen häufig auf den genannten Informationsrechten auf bzw. hängen mit ihnen zusammen.

Anhörungen von Sachverständigen und Interessenvertreter*innen in den Ausschüssen des Bundestags ermöglich es der Zivilgesellschaft insbesondere, eigene Positionen in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. Auch in Planungs- und Genehmigungsverfahren dient die Information dazu, eine Beteiligung der Öffentlichkeit zu ermöglichen. Anhörungsrechte geben Einzelpersonen ebenso wie zivilgesellschaftlichen Organisationen das Recht, ihre Einwände gegen behördliche Vorhaben geltend zu machen, und umfassen einen Anspruch auf Berücksichtigung und Prüfung dieser Einwände durch die Verwaltung. Auch das Petitionsrecht nach Artikel 17 GG eröffnet der Zivilgesellschaft die Möglichkeit, aktiv gestalterisch auf politische Prozesse einzuwirken.

2.3. Mitentscheidungsrechte der Zivilgesellschaft

Mitentscheidungsrechte der Zivilgesellschaft

Im Gegensatz zu Informations- und Mitwirkungsrechten sind echte Mitentscheidungsrechte der Zivilgesellschaft allerdings die Ausnahme. Das Grundgesetz setzt auf die repräsentative statt auf die direkte Demokratie. Verbindliche Volksentscheide auf Bundesebene sieht das Grundgesetz deswegen nicht vor, außer für die Neugliederung des Bundesgebiets (Artikel 29 GG). Anders ist es auf Landes- und Kommunal-Ebene: So sehen die Landesverfassungen und Gemeindeordnungen Volksentscheide bzw. Bürgerbegehren vor (siehe etwa Artikel 3 der Berliner Verfassung).

2.4. Veränderte Rahmenbedingungen in der Corona-Pandemie

Veränderte Rahmenbedingungen in der Corona-Pandemie

Die Corona-Krise verändert die Rahmenbedingungen für die Teilhabe zivilgesellschaftlicher Organisationen an staatlichen Entscheidungsprozessen. Teilweise wird Teilhabe stark erschwert.

Dies gilt für verschiedene Beteiligungsformen in unterschiedlichem Maße. So kann etwa die verfassungsrechtlich gebotene Öffentlichkeit von Sitzungen des Bundestages eher unproblematisch durch digitale Streaming-Lösungen hergestellt werden. Anhörungen und Stellungnahmen können grundsätzlich ebenfalls digital durchgeführt werden.

Doch obwohl Beteiligung technisch möglich ist, erschweren die zeitlich verkürzten Verfahren sie in der Corona-Krise deutlich. Entscheidungsträger*innen stehen unter Handlungsdruck, sodass die Gefahr besteht, dass sie zivilgesellschaftliche Akteur*innen nicht oder nur reduziert einbeziehen.

Im nächsten Abschnitt untersuchen wir, welche Veränderungen in den vergangenen Monaten zu beobachten waren und wie sie rechtlich zu bewerten sind.

3. Monitoring zur Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Krise

B.3 Monitoring zur Teilhabe der Zivilgesellschaft in der Corona-Krise

Eine Bilanz der demokratischen Teilhabe zivilgesellschaftlicher Organisationen während der Corona-Krise fällt gemischt aus: An einigen Stellen wird zivilgesellschaftliche Teilhabe vernachlässigt, an anderen hingegen finden sich positive und innovative Ansätze, die über die gegenwärtige Krise hinaus genutzt werden sollten.

3.1. Vernachlässigung zivilgesellschaftlicher Teilhabe beim Erlass von „Corona-Verordnungen“

Die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungen, die unmittelbar die Pandemiebekämpfung betreffen, kam häufig zu kurz.

Dies betrifft insbesondere die Entscheidungsprozesse rund um die ersten Eindämmungs-Maßnahmen im März 2020 durch Rechtsverordnungen der Exekutive. Als Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Schul- und Kitaschließungen verhängt wurden, war beispielsweise übersehen oder vernachlässigt worden, dass hierdurch die Gefahr häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder zunehmen würde. Denn zivilgesellschaftliche Organisationen wie Frauenhäuser und Kinderschutzbund wurden bei den Entscheidungsprozessen nicht gehört. Erst durch die medialen Reaktionen im Nachgang der Entscheidungen wurde ihre Stimme einbezogen.

Doch auch bei den Lockerungsmaßnahmen entzündete sich Kritik daran, dass wirtschaftliche Belange scheinbar stärker als soziale Belange berücksichtigt wurden. Bemängelt wurde beispielsweise, dass sich die Maßnahmen nicht ausreichend mit den Rechten von Kindern auf Chancengleichheit und Bildung befassen. Auch berge die unzureichende Unterstützung von Familien die Gefahr eines Rückfalls in frühere Geschlechterrollen. Dabei wurde auch thematisiert, dass die beratenden Expert*innen in der Regel männlich waren. Vor allem die einflussreiche Leopoldina-Studie wurde vielfach wegen ihrer wenig diversen Verfasser*innen kritisiert: Frauen, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte und jüngere Menschen sind unter den Leopoldina-Expert*innen auffällig unterrepräsentiert. Es ist naheliegend, dass sich diese mangelnde Diversität auch inhaltlich in den Empfehlungen an die Bundesregierung niederschlägt. Das ist problematisch, weil die Frage, welche Einschränkungen zuerst gelockert werden sollten, in erster Linie keine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage ist, bei der die Zivilgesellschaft daher möglichst umfassend zu Wort kommen sollte.

Die Entscheidungsprozesse während der Corona-Krise offenbaren außerdem teilweise typische Gefahren einer Rechtssetzung durch die Exekutive, also die Regierung und die Ministerien und Behörden. Diese kann zwar in der Regel schneller und flexibler agieren als die Legislative, also die Parlamente.

Das Parlament ist im Vergleich zur Regierung die demokratischere Institution – allein schon deswegen, weil die Abgeordneten im Gegensatz zu Regierungsmitgliedern unmittelbar von der Bevölkerung gewählt werden. Daher hat das Bundesverfassungsgericht aus dem Demokratieprinzip (Artikel 20 Absatz 2 GG) den Grundsatz abgeleitet, dass der parlamentarische Gesetzgeber alle für die Grundrechtsausübung „wesentlichen“ Entscheidungen hinreichend deutlich vorzeichnen muss – und eben nicht allein der Exekutive überlassen darf (sog. „Wesentlichkeitsgrundsatz“).

Dieser Grundsatz darf auch in der gegenwärtigen Krise nicht aus dem Blick geraten. Daher ist die Gesetzgebung gefragt, nachzujustieren und für die getroffenen Maßnahmen die bisher fehlenden Rechtsgrundlagen im Infektionsschutzgesetz zu schaffen. Außerdem müssen die Grenzen exekutiver Rechtsetzungs-Befugnisse laufend kritisch hinterfragt werden, wie es beispielsweise im Bereich des Versammlungsrechts geschieht (siehe dazu D.2. Kurzstudie “Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona” (VÖ: 9. April 2020))

3.2. Risiken parlamentarischer „Schnellverfahren“

Risiken parlamentarischer „Schnellverfahren“

Doch auch im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren werden zivilgesellschaftliche Organisationen derzeit nicht ausreichend einbezogen. Ausdruck des parlamentarischen Krisenmodus ist eine Gesetzgebung im „Schnellverfahren“, bei der keine Anhörungen von Vertreter*innen der Zivilgesellschaft stattfinden oder Stellungnahmen abgegeben werden können.

Zu Beginn der Corona-Krise fielen sonst übliche Anhörungen zivilgesellschaftlicher Akteur*innen selbst bei den grundlegenden Gesetzesvorhaben aus. Dies gilt etwa für das Ende März 2020 verabschiedete „erste Bevölkerungsschutzgesetz“, mit dem vor allem das Infektionsschutzrecht an die Krise angepasst werden sollte. Der Bericht des Gesundheitsausschusses umfasst gerade einmal vier Seiten, Anhörungen wurden danach keine durchgeführt. In der Folge gab es von juristischer Seite einige Kritik (s. etwa Klafki, Möllers und Kießling) insbesondere daran, dass die unbestimmten Regelungen zu Grundrechtseingriffen in der Generalklausel im § 28 des Infektionsschutzgesetzes trotz der bereits damals geltenden massiven Grundrechtsbeschränkungen nicht präzisiert worden waren. Dadurch werde, so die Kritik, der Wesentlichkeitsgrundsatz verletzt (siehe zu diesem Grundsatz den vorherigen Abschnitt).

Auch der Prozess zum Erlass des „zweiten Bevölkerungsschutzgesetzes“ ist von verkürzten Entscheidungsstrukturen geprägt. Hier ging es unter anderem um die Ausweitung von Infektionstests und die Aufstockung von Kurzarbeitergeld. Zu dem inzwischen verabschiedeten Gesetzesentwurf fand immerhin am 11.05.2020 eine Expertenanhörung statt. Wie bedeutend zivilgesellschaftlicher Protest ist, beweist der im selben Gesetz ursprünglich geplante „Immunitätsnachweises“. Gesundheitsminister Spahn nahm ihn schließlich nach erheblichem Widerstand wieder zurück, um das Vorhaben zunächst dem Ethikrat vorzulegen. Dieser Vorgang verdeutlicht, dass gesellschaftlich hoch umstrittene Fragen umfangreich und pluralistisch diskutiert werden müssen – gerade, wenn es um Maßnahmen geht, die nur dann wirksam sind, wenn sie breit akzeptiert werden.

Wie wichtig die Einbindung der Zivilgesellschaft in Gesetzgebungsverfahren für den Schutz der Grundrechte ist, zeigen auch Beispiele aus den Bundesländern. So wurde das Landesinfektionsschutz-Gesetz in Bayern im Eilverfahren und ohne nennenswerte Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure durch das Parlament gebracht. Resultat war unter anderem die Möglichkeit einer Zwangsverpflichtung von Ärzt*innen, die vielfach für verfassungswidrig gehalten wurde. Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen dagegen, die ursprünglich ähnliches geplant hatte, ist hiervon nach erheblichen Protesten und Sachverständigenanhörungen abgerückt und hat stattdessen ein Freiwilligenverzeichnis eingeführt.

Ein weiteres Beispiel für eine fruchtbare Einbindung der Zivilgesellschaft in gesetzgeberische Entscheidungsprozesse ist die Diskussion um „Corona-Tracing-Apps“, die eine Rückverfolgung von Infektionsketten ermöglichen sollen. Hier wurde ein erster Gesetzesentwurf nach Protesten zivilgesellschaftlicher Akteur*innen wegen datenschutzrechtlicher Mängel zurückgezogen (ausführlich hierzu unsere Kurzstudie zu „Corona-Apps“).

3.3. Fehlender „Rettungsschirm Zivilgesellschaft“

Fehlender „Rettungsschirm Zivilgesellschaft“

Auch die Gesetze zu Corona-Hilfen im Umfang von 600 Milliarden Euro wurden im Schnellverfahren verabschiedet. Nach dem Bericht des zuständigen Sozialausschusses fanden auch hierzu keine öffentlichen Anhörungen statt. Die im Gesetz vorgesehenen umfassenden wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen waren ohne Frage dringlich, doch führte das Schnellverfahren dazu, dass Belange der Zivilgesellschaft unter den Tisch fielen.

Bedauerlicherweise gibt es so auch keinen „Rettungsschirm“ für gemeinnützige zivilgesellschaftliche Organisationen, obwohl dieser dringend benötigt wird. Die bestehenden Soforthilfeprogramme von Bund und Ländern sowie die Notkreditprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) stehen gemeinnützigen zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht offen, sofern die nicht vornehmlich gewerblich tätig sind. Die Krise macht also auch deutlich, wie eingeschränkt der Blick des Staates auf diesen Sektor ist, zu dem etwa 600.000 gemeinnützige Organisationen mit 30 Millionen Engagierten und mehr als 3 Millionen Angestellten zählen. Kleinere gemeinnützige Vereine, die sich kritisch in gesellschaftspolitische Geschehen einbringen, werden in der aktuellen Krise übersehen.

Gerade kleinere zivilgesellschaftliche Organisationen leiden finanziell unter der Corona-Krise. Neben dem Wegfall von Spenden und Fördermittel von Unternehmen und Stiftungen und dem Ausfall von Fundraising-Events spielt auch die Finanzierung durch Projektmittel eine große Rolle. Projektförderungen werden häufig an Projektergebnisse gekoppelt, die in der aktuellen Lage nicht erbracht werden können. Projektmittel ermöglichen in der Regel keinen Aufbau finanzieller Rücklagen. Außerdem ist es gemeinnützigen Organisationen generell nur erlaubt gemäßigt Gewinne zu erwirtschaften oder Vermögen zu bilden, so dass die Möglichkeit finanzielle Polster für Krisenzeiten zu schaffen, nur begrenzt besteht.

Studien und offene Briefe machen darauf aufmerksam, wie gefährlich die Krise gerade für kleine gemeinnützige zivilgesellschaftliche Organisationen ist. Die Studie „Lokal kreativ, digital herausgefordert, finanziell unter Druck. Die Lage des freiwilligen Engagements in der ersten Phase der Corona-Krise“ vom Stifterverband zeigt, welche unentbehrlichen Beitrage die Zivilgesellschaft zur Bewältigung der Pandemie leistet, wie stark sie von den Auswirkungen der Krise betroffen ist – und dass staatliche Hilfen erforderlich sind. Außerdem veröffentlichten DNR, VENRO und Klima Allianz einen Brief an die Politik, in dem sie den dringenden Handlungsbedarf zum Schutz von gemeinwohlorientierten Organisationen hervorheben. Auch in einem offenen Brief eines größeren Zusammenschlusses von Dachverbänden und Dachorganisationen wird mehr Solidarität mit dem gemeinnützigen Sektor gefordert und auf die staatliche Verantwortung hingewiesen, geeignete Rahmenbedingungen für die Arbeit von gemeinnützigen zivilgesellschaftliche Organisationen zu schaffen.

Diese Einschätzungen und Hilferufe führten bislang nicht zu ausreichenden und konkreten Hilfsmaßnahmen. Die Bundesländer Berlin, Bremen und Rheinland-Pfalz haben zwar in einer gemeinsamen Initiative die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Organisationen gefordert. Sie konnten sich im Bundesrat aber nicht durchsetzen: Der Entschließungsantrag erhielt am 5. Juni 2020 nicht die erforderliche Plenarmehrheit. Bei dem Antrag der drei Länder ging es konkret um die Einführung eines Programms zur Unterstützung von gemeinnützigen zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Digitalisierung, da die Umstellung auf digitale Formate in der jetzigen Zeit besonders wichtig sei.

Positiv hervorzuheben ist die vergleichsweise frühe Initiative der Grünen für einen „Rettungsschirm für die Zivilgesellschaft“. In einem Antrag vom 21. April 2020 forderte die Partei „Soforthilfe für kleine und gemeinnützige Organisationen“ in der Corona-Krise und machte deutlich, dass die bestehenden Rettungsschirme nicht ausreichend greifen. Die Soforthilfe-Mittel sollten aus dem Haushalt der Deutsche Stiftung Engagement und Ehrenamt kommen, die sich im Aufbau befindet, und in dem dieses Jahr noch 23 Mio. bereitstehen. Es ist zu hoffen, dass die Bunderegierung diesem Vorschlag folgt.

Immerhin sieht ein Beschluss des Koalitionsausschusses vom 3. Juni 2020 weitere Hilfen für den Sport und das Ehrenamt vor.

3.4. Entstehung neuer digitaler Beteiligungsformen

Entstehung neuer digitaler Beteiligungsformen

Die Krise eröffnet die Möglichkeit, über neue digitale Beteiligungsformen nachzudenken, um die demokratischen Teilhaberechte der Zivilgesellschaft zu gewährleisten. Dies setzt aber den Ausbau von Digitalisierungsstrukturen voraus, von denen nicht nur Organisationen, sondern sehr viele Menschen profitieren würden.

Der Informationsanspruch der Öffentlichkeit kann vergleichsweise einfach im digitalen Raum erfüllt werden. Plenarsitzungen des Bundestages waren schon vor der Krise im Online-Stream, im Radio und im Fernsehen nachzuverfolgen. Auch öffentliche Ausschusssitzungen des Bundestages, insbesondere Anhörungen von Sachverständigen und Interessensvertreter*innen, sind schon seit längerem online nachzuverfolgen und abrufbar. Nun darf nach § 126a Absatz 4 GOBT die Öffentlichkeit bei öffentlichen Ausschussberatungen und Anhörungssitzungen auch ausschließlich digital hergestellt werden, d. h. unter Ausschluss der physischen Öffentlichkeit. Ähnliches gilt für internationale Veranstaltungen wie den Petersburger Klimadialog, die derzeit häufig nur digital stattfinden können, für die Öffentlichkeit aber online mitzuverfolgen und abrufbar sind.

Auch Anhörungs- und weitere Beteiligungsrechte werden zunehmend digital umgesetzt. So finden auch die Anhörungen zivilgesellschaftlicher Akteur*innen zu Gesetzesvorhaben zunehmend in Online-Konferenzen statt. Zwar sind im Zuge der Corona-Krise auch Anhörungen (vorläufig) ausgefallen (siehe etwa hier für den Gesundheitsausschuss). Viele öffentliche Anhörungs- und Ausschusssitzungen wurden aber erfolgreich in den digitalen Raum verlegt. Expert*innen wurden per Videokonferenz zugeschaltet, und Interessierte konnten die Sitzungen im Livestream verfolgen. So konnten öffentliche Sachverständigenanhörungen zu umstrittenen Themen wie etwa zur „Rückholung radioaktiver Abfälle aus der Asse II“ oder zu aktuellen Maßnahmen im Kontext der gegenwärtigen Krise (etwa zum Sozialschutzpaket II oder zum „Zweiten Bevölkerungsschutzgesetz“, vgl. oben) trotz der geltenden Kontaktbeschränkungen durchgeführt werden. Nach den Schnellverfahren der ersten Wochen der Epidemie scheinen digitale Beteiligungsformate im Parlamentsalltag anzukommen.

Neue Online-Beteiligungsformen wurden auch für Planungs- und Verwaltungsverfahren eingeführt. Die Planunterlagen in baurechtlichen Verfahren konnten bisher nur persönlich eingesehen werden, etwa in Rathäusern, die nun nicht mehr oder nur eingeschränkt öffentlich zugänglich sind. Auch größere Anhörungen und Erörterungstermine können unter den geltenden Kontaktbeschränkungen nicht mehr wie gewohnt durchgeführt werden. Daher fielen zu Beginn der Krise Anhörungen aus, sodass Genehmigungsverfahren ins Stocken gerieten. Als Reaktion darauf hat der Bundestag ein Gesetz zur Online-Beteiligung in Planungsverfahren verabschiedet („Planungssicherstellungsgesetz“). Darin ist vorgesehen, dass Planunterlagen auch digital ausgelegt und eingesehen werden können – ein klarer Fortschritt gegenüber dem Gang zum Rathaus. Ein Klick im Internet ist deutlich niederschwelliger und zudem von Öffnungszeiten und körperlicher Mobilität unabhängig.

Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass nicht alle Menschen auf Online-Alternativen ausweichen können. Für die Zukunft wäre sowohl ein digitales als auch ein analoges Format begrüßenswert. Auch sind Online-Lösungen nicht immer wirklich gleichwertig.

So ist fraglich, ob das in § 5 des Planungssicherstellungsgesetzes vorgesehene Instrument der „Online-Konsultationen“ wirklich ein angemessener Ersatz für Erörterungstermine und Anhörungen ist. Hier ist nur eine Online-Information mit einem Recht zur schriftlichen Stellungnahme verbunden, das den spontanen Austausch zwischen Zivilgesellschaft und Entscheidungsträger*innen nicht zu ersetzen vermag. Daher kritisierten auch Umweltorganisationen die Regelung.

Auch im Gesellschaftsrecht zeigt sich, dass Online-Lösungen „analogen“ Austausch nicht immer gleichwertig ersetzen können. Gerade bei Aktiengesellschaften kann die Zivilgesellschaft durch den Erwerb von Aktien und Teilnahme an Hauptversammlungen intern Kritik an den Geschäften großer Konzerne üben. Diese Proteste werden derzeit faktisch beschnitten. Der Gesetzgeber hat virtuelle Hauptversammlungen gesetzlich ermöglicht, in denen Fragen vorab elektronisch vorzulegen sind. Dies schränkt das umfassende Frage- und Auskunftsrecht nach § 131 des Aktiengesetzes erheblich ein und erschwert eine wirkungsvolle Kritik von Anteilseignern auf Hauptversammlungen. Dies beklagen etwa kritische Aktionäre des deutschen Rüstungskonzerns Rheinmetall.

Das Corona-Virus stellt auch die Mitentscheidungsrechte der Zivilgesellschaft vor Herausforderungen. Teilweise scheiterten Bürger*innenbegehren, weil die erforderlichen Unterschriften wegen der Kontaktbeschränkungen nicht weiter gesammelt werden konnten, Fristen zur Einreichung des Begehrens aber weiterliefen und schließlich verstrichen. Das ist angesichts der Bedeutung von Bürger*innenbegehren als wichtiges direktdemokratisches Element nicht hinnehmbar: Zivilgesellschaftliche Mitentscheidungsrechte dürfen nicht daran scheitern, dass formale Voraussetzungen unter den gegebenen Umständen nicht eingehalten werden können. Stattdessen ist der Staat gefordert, die Umsetzbarkeit von Bürger*innen- und Volksbegehren auch in der Krise sicherzustellen, etwa durch eine Aussetzung von Fristen und die Förderung und Ermöglichung digitaler Verfahren.

Unabhängig davon findet die Zivilgesellschaft auch hier immer wieder kreative Lösungen, um Beteiligungs- und Mitentscheidungsrechte durchzusetzen. So gelang es einer Initiative in Hamburg, kontaktlos (wenn auch kostspielig) Unterschriften zu sammeln, indem sie 17.000 Postwurfsendungen an die Haushalte verteilte, die dann in großer Zahl unterschrieben zurückkamen.

4. Zwischenfazit und Ausblick

B.4 Zwischenfazit und Ausblick

Die Corona-Krise ist eine Herausforderung für die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen an staatlichen Entscheidungsprozessen, da traditionelle Formen der Information, Beteiligung und Mitentscheidung infolge der Kontaktbeschränkungen und Schnellverfahren erschwert oder unmöglich werden.

Zugleich kann die Krise aber auch einen wichtigen Anstoß geben in Richtung einer – seit langem geforderten – Digitalisierung von Verwaltung, Regierung und Bürger*innen-Beteiligung. Vor allem Informationsrechte der Zivilgesellschaft sind auf digitalem Wege häufig einfacher zu verwirklichen als in den hergebrachten Formen.

Auch die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen durch Anhörung und Beratung lässt sich grundsätzlich im Netz verwirklichen. Allerdings ist hier besonders darauf acht zu geben, dass digitale Alternativen wirklich gleichwertig sind. Wo ein persönlicher Dialog vorgesehen war, sollte dieser nicht durch eine Kombination bloßer Informations- und schriftlicher Fragerechte ersetzt werden. Denn ein fruchtbarer Austausch von Staat und Zivilgesellschaft lebt auch von Spontaneität und persönlicher Begegnung.

Mitentscheidungsrechte der Bürger*innen durch Volks- oder Bürgerbegehren müssen gerade auch in Zeiten der Krise wirksam sein und vom Staat geschützt werden. Auch hier sind digitale Alternativen sinnvoll und Erfolg versprechend, etwa Softwarelösungen für ein rechtssicheres Sammeln von Unterschriften.

Alle bestehenden Chancen, die sich aus der Krise für neue digitale Formen der Beteiligung ergeben, können nur dann genutzt werden, wenn der Staat seine Aufgabe, den gemeinnützigen Sektor in der Krise zu retten, erfüllt. Die Zivilgesellschaft darf bei den Schutzprogrammen nicht übersehen werden. Forderungen nach staatlichen Nothilfen beziehen sich gerade auch auf die Unterstützung des Ausbaus von Digitalisierungsstrukturen. Dies ist wichtig, da bei aller berechtigter Hoffnung, die in digitale Alternativen gesetzt wird, berücksichtigt werden muss, dass bisher nicht alle Organisationen und Akteur*innen gleichermaßen Online-Angebote nutzen können oder wollen.

Neben Organisationen sind auch viele Bevölkerungsgruppen nach wie vor teilweise von der Nutzung des Internets ausgeschlossen. Neben älteren Menschen betrifft dies auch Frauen (sog. „Digital Gender Gap“). Auch die Kosten für Hardware und einen Internetzugang schließen viele Menschen aus, die nicht genug Geld haben. Ein vollständiges Ausweichen auf das Netz kann daher allenfalls vorübergehend eine Lösung sein. Jedenfalls aber kann und sollte die Corona-Krise genutzt werden, um mit neuen digitalen Teilhabemöglichkeiten zu experimentieren und hierfür Akzeptanz auch für die Zeit nach dem Virus zu schaffen.

Dies setzt jedoch voraus, dass die Zivilgesellschaft die Krise überlebt – vor allem wirtschaftlich.

5. Handlungsempfehlungen an die Politik

B.5 Handlungsempfehlungen an die Politik

  • Zivilgesellschaftliche Organisationen stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt, setzen sich für mehr Gerechtigkeit und bringen Themen wie Klimaschutz und internationale Solidarität ein, die oftmals von der Politik vernachlässigt werden. Der Staat trägt daher die Verantwortung, geeignete Rahmenbedingungen für die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen zu schaffen.
  • Informationsrechte als Existenzbedingung der aktiven Zivilgesellschaft sind in verschiedenen Kontexten und Formen rechtlich vorgesehen und müssen auch in Krisenzeiten geschützt werden. Beteiligungs- und Anhörungsrechte bauen häufig auf den genannten Informationsrechten auf bzw. hängen mit ihnen zusammen.
  • Die zeitlich verkürzten Verfahren in der Corona-Krise erschweren – trotz digitaler Beteiligungsformen – die demokratische Teilhabe deutlich. Politische Entscheidungsträger*innen dürfen nicht durch zeitlichen Handlungsdruck die Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteur*innen vernachlässigen.
  • Das Landesinfektionsschutz-Gesetz in Bayern wurde im Eilverfahren und ohne nennenswerte Beteiligung zivilgesellschaftlicher Akteure durch das Parlament gebracht. So etwas darf nicht erneut geschehen.
  • Gesetze wie zu den Corona-Hilfen im Umfang von 600 Milliarden Euro dürfen in der Zukunft nicht ohne die Beteiligung der Zivilgesellschaft verabschiedet werden. Nach dem Bericht des zuständigen Sozialausschusses fanden auch hierzu keine öffentlichen Anhörungen statt.
  • Die Politik muss den Forderungen einer Vielzahl von Organisationen nachkommen, einen „Rettungsschirm für die Zivilgesellschaft“ schaffen und konkrete Maßnahmen für einen nachhaltigen Schutz von gemeinwohlorientierten und nicht vornehmlich gewerblich tätigen Organisationen erlassen.
  • Die Politik muss Online-Lösungen für Anhörungs- und Beteiligungsverfahren weiter erforschen und die digitalen Voraussetzungen hierfür bereitstellen.

C. Kurzstudie: “Corona-Apps” und Zivilgesellschaft – Risiken, Chancen und rechtliche Anforderungen

Risiken, Chancen und rechtliche Anforderungen

Contact-Tracing-Apps auf Smartphones werden als ein wichtiger Baustein zur Eindämmung des Corona-Virus diskutiert. Mit ihnen soll es deutlich schneller und leichter möglich sein, Menschen zu identifizieren, die mit infizierten Personen Kontakt hatten. Im Gegenzug könnten die Kontaktbeschränkungen in absehbarer Zeit gelockert werden. Im besten Falle können Contact-Tracing-Apps also dazu beitragen, die weitere Übertragung des Virus einzudämmen und gleichzeitig einen Teil unserer in den letzten Wochen verlorenen Freiheiten zurückzugewinnen.

Empirische Untersuchungen zur Effektivität solcher Apps gibt es bislang nicht. Theoretische epidemiologische Studien kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass ein effektives Contact-Tracing nur möglich ist, wenn circa 60% der Bevölkerung eine entsprechende App verwenden. Der Erfolg von Tracing-Apps wird somit maßgeblich von ihrer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz abhängen. Diese Akzeptanz lässt sich jedoch nicht durch rechtlichen Zwang verordnen, sondern hängt unmittelbar davon ab, in welchem Maße die Nutzer*innen der App und den mit ihr verbundenen Akteur*innen vertrauen – Datenschutz und Sicherheit sind dabei zentral.

Bei allen Chancen, die Contact-Tracing-Apps bieten, bergen sie auch Risiken. Datensparsame Modelle sind genauso denkbar wie Apps, die „Social Graphing“ ermöglichen würden, also die umfassende Nachverfolgung sozialer Interaktionen von Individuen. Hiervor warnt beispielsweise das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) e. V. in seiner Datenschutz-Folgenabschätzung. Apps mit umfassenden Nachverfolgungsmöglichkeiten können gerade für zivilgesellschaftliche Organisationen gefährlich werden. Denn in ihrer Arbeit ist es oft wesentlich, personenbezogene Daten geheim halten zu können. Zum Beispiel, wenn es um den Kontakt mit Whistleblower*innen geht oder um die medizinische Behandlung von Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere, die von der Abschiebung bedroht sind. Zivilgesellschaftliche Organisationen können gefährdete Personen in vielen Fällen nur ausreichend schützen, wenn sie ihre Anonymität gewährleisten können.

Dieser Beitrag des Monitoring-Projekts „Corona-Virus und Civic Space in Deutschland“ untersucht daher die möglichen Auswirkungen von Contact-Tracing-Apps auf die Zivilgesellschaft. Wir beleuchten die Risiken und Potentiale der Apps, und auch die wichtige Rolle, die zivilgesellschaftliche Akteure in der öffentlichen Diskussion über ihren Einsatz spielen.

Eine finale Bewertung ist indes noch nicht möglich, solange noch keine fertige App vorliegt. Denn die Details sind wesentlich, insbesondere die rechtlichen Grundlagen, die geplante Anwendung und der Quellcode. Im Sinne der Zivilgesellschaft ist es zwingend notwendig, dass vor einem flächendeckenden Einsatz der App ihr Quellcode veröffentlicht wird, denn nur so können unabhängige Datenschutz- und IT-Expert*innen sie kritisch untersuchen.

Doch auch unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Tracing-Apps gibt es klare rechtliche Anforderungen: Die bestehenden datenschutzrechtlichen Grenzen müssen eingehalten werden. Sie sind Schutzschild der Zivilgesellschaft. Darum sollten sie auch in der Debatte um die geplanten Apps eine zentrale Rolle spielen.

1. Contact Tracing-Apps & Datenspende-Apps: wie funktionieren sie?

Wie funktionieren Contact Tracing-Apps und welches Modell wird von der Bundesregierung unterstützt?

Die Bundesregierung hat während der letzten Wochen verschiedene App-Modelle geprüft, die effektives „Contact Tracing“ und Datenschutz miteinander in Einklang bringen sollen. Insbesondere sollen keine Standortdaten erhoben werden, höchstmögliche IT-Sicherheitsstandards eingehalten und die Informationen über die App-Nutzer*innen datenschutzkonform erhoben werden. An der praktischen Umsetzung wird bereits mit Hochdruck gearbeitet.

Grundlage soll die „Bluetooth Low Energy“-Technologie sein. Denn die zuverlässige Reichweite des Bluetooth-Signals könnte sich in etwa mit dem decken, was Virolog*innen in Bezug auf die Corona-Infektionsgefahr als „Hochrisikokontakte“ bezeichnen – anderthalb bis zwei Meter physische Nähe über eine gewisse zeitliche Dauer. Zurzeit ist noch unklar, wie zuverlässig die Entfernungsbestimmung mittels „Bluetooth Low Energy“ wirklich funktioniert. Einige IT-Expert*innen sind skeptisch angesichts verschiedener Geräte und Betriebssysteme. Zudem muss ausgeschlossen werden, dass alltägliche Zufälligkeiten, etwa ob das Gerät in der Hosentasche transportiert oder in der Hand gehalten werden, die Messungen verfälschen. Dafür laufen derzeit Kalibrierungsversuche, auch mit Unterstützung der Bundeswehr.

Von allen Smartphones, die der entsprechend kalibrierte Bluetooth-Sensor erfassen konnte, soll die App eine ID-Liste anlegen. Diese IDs fungieren als Pseudonyme der Geräte-Nutzer*innen; sie sind temporär und werden auf ihrem Smartphone erzeugt. Mit Hilfe dieser Liste soll die App zeitnah alle „Hochrisikokontakte“ von Personen warnen können, die positiv auf Corona getestet wurden. Wenn Nutzer*innen der App positiv auf Corona getestet werden, können sie freiwillig und pseudonym über ihre Infektion informieren. Technisch unterscheiden sich die daran anschließenden Matching-Ansätze, das Ziel bleibt aber gleich: Hochrisikokontakte sollen schnellstmöglich darüber informiert werden, dass sie sich möglicherweise mit Corona angesteckt haben. Außerdem könnten die betroffenen Personen aufgefordert werden, sich testen zu lassen und/oder sich in Quarantäne zu begeben bzw. beim Gesundheitsamt zu melden. Es benötigt dafür entsprechende Kommunikations- und Begleitungskonzepte von der Bundesregierung, damit Betroffene die Situation gut bewältigen können.

Nachdem zunächst unterschiedliche Modelle für Contact-Tracing-Apps diskutiert wurden, hat sich die Bundesregierung am 26. April 2020 für den Einsatz einer dezentralen Softwarearchitektur ausgesprochen. Damit wird der sogenannte PEPP-PT-Ansatz (Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing) nicht weiterverfolgt, der einen zentralen Datenabgleich vorsieht und anfangs auch durch Bund, Länder und andere europäische Staaten unterstützt wurde. Diese Initiative wurde von 130 europäischen Wissenschaftler*innen, Firmen und Forschungseinrichtungen Anfang April ins Leben gerufen, federführend war dabei das Heinrich-Hertz-Institut (HHI) der Fraunhofer-Gesellschaft. Aufgrund innerer Konflikte ist das Bündnis dann jedoch immer weiter zerfallen.

Mit Blick auf den zentralen Ansatz hatten zuletzt der Chaos Computer Club (CCC), netzpolitische Vereine, Informatiker*innen und die Stiftung Datenschutz gewarnt, dass der „geringe Datenschutz eines zentralen Ansatzes und das Fehlen technischer Beschränkungen gegen Zweckentfremdung“ das Vertrauen in eine App untergraben würde. Zuvor mahnten über 300 Wissenschaftler*innen aus den Bereichen IT-Sicherheit und Datenschutz, dass mit einem solchem Werkzeug nicht im großen Stil sensible Daten der Bevölkerung erhoben werden dürften.

Der dezentrale DP-PPT-Ansatz (auch DP^3T-Initiative) wurde ebenfalls von einem internationalen Konsortium aus Expert*innen unterschiedlicher Fachrichtungen entwickelt. Der Bundesregierung schwebt derzeit auf Basis dieses Ansatzes eine App vor, die „die in Kürze zur Verfügung stehenden Programmierschnittstellen der wesentlichen Anbieter von mobilen Betriebssystem nutzt und gleichzeitig die epidemiologische Qualitätssicherung bestmöglich integriert“. Eine ständig im Hintergrund aktive Contact-Tracing-App kann allerdings nur dann technisch effizient eingesetzt werden, wenn die entsprechenden Schnittstellen (sogenannte Application programming interfaces, oder APIs) der Smartphone-Betriebssysteme zur Verfügung stehen. Sprich: Ohne die großen Hersteller Apple und Google geht es nicht. Apple und Google haben bereits angekündigt, dass sie an einer API für Contact-Tracing-Apps arbeiten – allerdings nur für dezentrale App-Modelle. Damit erschweren die Hersteller es Gesetzgebern schon im Vorhinein, alternative Modelle zu etablieren, etwa eine zentrale und eine dezentrale Alternative mit Auswahlmöglichkeiten für individuelle Nutzer*innen anzubieten. Dies war Presseberichten zufolge auch der Grund, warum die Bundesregierung letztlich die Unterstützung für PEPP-PT beendete.

1.1. Was ist die Corona-Datenspenden-App und wie unterscheidet sie sich vom Contact-Tracing?

Was ist die Corona-Datenspenden-App und wie unterscheidet sie sich vom Contact-Tracing?

Während Tracing-Apps noch in der Entwicklung sind, ist bereits eine Corona-Datenspende-App verfügbar. Hierbei handelt es sich um ein völlig anderes und von den Tracing-Apps unabhängiges Konzept: Die Datenspende-App verfolgt keine Kontakte nach, sondern übermittelt die von Fitnesstrackern oder Smartwatches erhobenen gesundheitsbezogenen Daten. Die sogenannten Wearables messen Körperfunktionen wie z.B. Puls, Blutdruck, Temperatur oder Schlafphasen. Nutzer*innen solcher Technologien können diese Daten einverständlich über eine sogenannte Corona-Datenspende App an das Robert-Koch-Institut (RKI) „spenden“, gemeinsam mit soziodemographischen Daten wie Alter, Geschlecht, Gewicht und Postleitzahl, damit das RKI weitere Erkenntnisse zu Ausbreitung und Verlauf der COVID-19-Erkrankungen gewinnen kann.

Die Corona-Datenspende App steht aus unterschiedlichen Gründen in der Kritik. Kritisiert werden sowohl das Entwicklungsverfahren als auch auf die konkrete Ausgestaltung der App, insbesondere unzureichender Datenschutz und IT-Sicherheit. So erhielt die zuständige Datenschutz-Aufsichtsbehörde nicht die endgültige Version der App für eine Vorab-Prüfung. Zudem konzipierte ein eHealth Start-Up die App mit einem proprietären Quellcode, der nicht Open Source und daher nicht für Dritte einseh- und überprüfbar ist. Darüber hinaus bestehen Bedenken hinsichtlich der Nutzung der Daten. Denn der Zweck der App ist mit der „verbesserten Steuerung von Eindämmungsmaßnahmen gegen die Corona-Pandemie“ sehr weit gefasst. Da er eben nicht auf ein bestimmtes Forschungsvorhaben begrenzt ist, könnte er nachträglich noch erweitert werden. Zudem ist fraglich, ob die angelegte Speicherdauer von zehn Jahren dem Grundsatz der Datensparsamkeit gerecht wird.

2. Risiken und Problemfelder

C.2 Risiken und Problemfelder

In der aktuellen Debatte um Contact-Tracing-Apps zeichnen sich insbesondere vier Problemkomplexe ab: Missbrauchsmöglichkeiten, Fehleranfälligkeit, rechtliche Konsequenzen für Nutzer*innen und die Freiwilligkeit der Nutzung. Hierzu haben sich bereits verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur*innen geäußert, etwa der CCC, FifF und Reporter Ohne Grenzen.

2.1. Missbrauchsmöglichkeiten

Missbrauchsmöglichkeiten wegen des großen Datenumfangs

Die Contact-Tracing-App soll die Daten eines Großteils der Bevölkerung verarbeiten. Zwar werden diese Daten grundsätzlich mit kryptographischen Mitteln pseudonymisiert. Temporäre IDs dienen als Pseudonyme, die nach kurzer Zeit ausgetauscht werden, um eine Identifizierung einzelner Personen durch Unbefugte zu erschweren. Die Schwierigkeit ist aber, dass die erhobenen Daten durch die Zusammenführung mit anderen Daten de-pseudonymisiert und damit im Nachhinein ein Personen-Bezug hergestellt werden könnte. Damit das System funktioniert, muss es im Falle einer bestätigten Infektion eine bestimmte ID als infiziert markieren und alle IDs, die mit ihr in Kontakt waren, benachrichtigen können. Sobald es bestimmten Akteuren möglich wird, diese IDs durch Hinzuziehung weiterer Daten Individuen zuzuordnen, sind sensible Gesundheitsdaten im Umlauf (vgl. Art. 9 DSGVO) – mit unterschiedlichen Risiken für die Nutzer*innen, je nachdem, wie die App konkret ausgestaltet wird.

2.2. Überwachung

Wer hat Zugriff auf die Daten und inwieweit eröffnet dies Überwachungsmöglichkeiten?

Eine wesentliche Frage bei der Umsetzung der App ist, wie genau die temporären IDs miteinander abgeglichen werden. Beide Umsetzungsmöglichkeiten, sowohl die zentrale als auch die dezentrale, bieten hierbei Angriffsflächen, anhand derer ein Personenbezug hergestellt und Überwachung ermöglicht werden könnte.

Werden die ID-Listen auf einem zentralen Server gespeichert, könnte der Betreiber die pseudonymisierten IDs theoretisch durch Verknüpfung mit anderen Daten – etwa mit den bei der Kommunikation mit dem Server verwendeten personenbezogenen IP-Adressen – re-personalisieren und so Nutzer*innen überwachen. Dies ist ausdrücklich nicht vorgesehen, dennoch könnten die gesammelten Daten Begehrlichkeiten wecken. Auch ein Zugriff mit kriminellen Absichten ist eine potentielle Gefahr.

Bei der Implementierung ist also auch zu klären, wer Anbieter der Tracing-App sein sollte und inwiefern sichergestellt wird, dass unabhängige Audits durchgeführt werden.

Bei einem dezentralen Ansatz besteht hingegen eher das Risiko individueller Angriffe auf die Privatheit der Nutzer*innen: So könnten individuell publizierte Infektionsmeldungen leichter Individuen zugeordnet werden; etwa, wenn man eine Kamera mit einem Bluetooth-Scanner kombinieren würde, der IDs von Kund*innen oder Arbeitnehmer*innen aufzeichnet. Käme dann über die App die Liste „infizierter“ IDs, wäre ein rascher Rückschluss auf das Aussehen und damit die Identität Infizierter möglich.

Zudem stellt sich die Frage, ob verhindert werden kann, dass die Betriebssysteme für die App, Apple iOS und Google Android, Zugriff auf die Daten erhalten. Die Konzerne verneinen, dass ein solcher Zugriff möglich sein wird. Die Daten sollen lediglich geräteintern in einer sogenannten „Secure Enclave“ gespeichert werden – also einer Art geheimem Daten-Tresor, auf den auch die Betriebssystem-Hersteller nicht zugreifen können sollen. Bis der Quelltext sowohl konkreter Apps als auch der entsprechenden Funktionen der Betriebssysteme vorliegt, kann dies nicht abschließend bewertet werden.

2.3. Fehler

Sind Tracing-Apps fehleranfällig?

Eine weitere Gefahr sind sogenannte „False Positives“, dass also die Contact-Tracing-App fälschlicherweise davon ausgeht, eine Person sei in Kontakt mit einer infizierten Person gekommen. False Positives könnten z.B. entstehen, wenn Personen sich zwar räumlich nah gekommen sind, aber durch eine Glasscheibe getrennt waren und sich deswegen gar nicht anstecken konnten. False Positives könnten aber auch durch missbräuchliche Meldungen – sogenanntes „Trollen“ – ausgelöst werden, wenn sich also Personen bewusst als infiziert melden, obwohl sie keinerlei Hinweise auf eine Infektion haben, um andere in die Quarantäne zu zwingen. Dies muss unbedingt durch eine geeignete Gestaltung der Apps ausgeschlossen werden, beispielsweise indem eine Infektionsmeldung nur möglich ist, wenn zugleich eine TAN eingegeben wird, die das Testlabor zusammen mit dem positiven Testergebnis mitteilen könnte. Dieser Aspekt sollte auch deshalb im Blick bleiben, weil Infizierte stigmatisiert und ausgegrenzt werden könnten.

Der umgekehrte Fall ist ein „False Negative“. Hierbei geht die App davon aus, eine Person habe keinen Kontakt mit einer infizierten Person gehabt, obwohl dies tatsächlich der Fall gewesen ist. Dies kann zum Beispiel geschehen, wenn das Bluetooth-Signal gestört wird und deshalb zu schwach ist. Dann könnten Hochrisiko-Personen unerkannt andere anstecken.

Bei der weiteren Umsetzung der Contact-Tracing-App sollte auch sichergestellt werden, dass False Positives oder False Negatives weitestgehend verhindert werden. Eine mögliche Lösung wäre die laufende Verbesserung und Korrektur des Bewertungs- und Meldesystems der App, indem dieses als lernendes System gestaltet wird. Die App könnte jeweils abgleichen, welche Initialmeldungen bei Kontaktpersonen zu Folgemeldungen geführt haben. Dadurch könnte sie immer bessere Parameter zur Erkennung und Bewertung möglicher Fehlmeldungen entwickeln. Bei einer zentralen Lösung ließe sich eine solche künstliche Intelligenz leicht im zentralen Server installieren. Bei einer dezentralen Lösung ist eine Fehlmeldung-Korrektur zwar auch denkbar (sog. „federated learning“), aber technisch deutlich schwieriger umsetzbar.

2.4. Rechtliche Konsequenzen für die Nutzer*innen

Welche rechtlichen Konsequenzen hat die Contact-Tracing-App für die Nutzer*innen?

Für die User der Contact-Tracing-App stellt sich die Frage, was es für Konsequenzen für sie hat, wenn die App ihnen meldet, dass sie mit einem*r Infizierten Kontakt hatten.

Unklar ist bisher, wie genau die Gesundheitsämter in die Abläufe integriert werden sollen und könnten. Eine Infizierung mit dem Corona-Virus ist nach dem Infektionsschutzgesetz meldepflichtig (§ 6 IfSG i.V.m der Verordnung über die Ausdehnung der Meldepflicht) und muss daher an das Gesundheitsamt weitergegeben werden. Fraglich ist, ob das Infektions-Meldungsverfahren ab Einführung der App parallel manuell weiterläuft oder nur noch elektronisch funktioniert. Eine elektronische Lösung würde in jedem Fall datenschutzrechtlichen Rechtfertigungsbedarf auslösen, zudem wäre nach Art. 9 Abs. 2 lit. h DSGVO eine Rechtsgrundlage erforderlich.

Weiterhin ist bisher offen, ob mit der App Quarantäneanordnungen digital überwacht werden können und wer diese Überwachung kontrollieren würde. Je nach dem könnte die Gefahr bestehen, dass das Gesundheitsamt anhand der Meldungen jegliche Kontakte nachvollziehen kann, also deutlich mehr als im derzeitigen analogen Verfahren. Hierdurch lassen sich soziale Netze nachvollziehen. Bei einem digitalen Contact-Tracing würde die App zudem auch unbemerkte und unbekannte Kontakte, etwa Sitznachbar*innen im Zug, registrieren und könnte diese melden. Dies würde einerseits deutlich die Effektivität, andererseits aber auch den datenschutzrechtlichen Rechtfertigungsbedarf erhöhen.

2.5. Die Bedingung: Freiwillige Nutzung

Die Bedingung: Freiwillige Nutzung

Eng mit den rechtlichen Konsequenzen hängt die Freiwilligkeit der App-Nutzung zusammen. Insbesondere wenn als Rechtsgrundlage eine datenschutzrechtliche Einwilligung dienen soll, ist eine freiwillige Nutzung Voraussetzung. Die Bundesregierung versichert aktuell, dass die Nutzung freiwillig sein soll.

Ein Problem könnte sich aber aus einem mittelbaren Nutzungszwang ergeben. Denn: Die App soll insbesondere dazu dienen, den „Lockdown“ abzumildern, der unsere Grundrechte aktuell stark einschränkt. Sollten Menschen ihre Grundrechte aber nur ausüben können, wenn sie die App nutzen, besteht keine Freiwilligkeit mehr, die ihren Namen verdient. Das wäre zum Beispiel der Fall, wenn Arbeitgeber*innen die Nutzung der Contact-Tracing-App durch ihre Beschäftigten kontrollieren oder wenn der Zugang zu Dienstleistungen und Orten – Flughäfen, Restaurants, Pflegeheime – davon abhängig gemacht wird, dass Personen „freiwillig“ ihre App-Inhalte offenbaren, z.B. „zehn Tage kein Kontakt zu positiv getesteten Personen“. Wenn die Bundesregierung also beim Einsatz der App weiter auf Freiwilligkeit setzen will, was die grundrechtsfreundlichere Position wäre, so gilt es sicherzustellen, dass der Einsatz der App in der Lebensrealität auch wirklich freiwillig ist. So könnte es etwa explizit verboten oder an hohe Voraussetzungen geknüpft werden, dass der Zugang zu zentralen Infrastrukturen vom Einsatz der App abhängig gemacht wird, sei es seitens staatlicher oder privater Akteur*innen.

3. Tracing-Apps und Zivilgesellschaft: besondere Risiken und die starke Rolle der Zivilgesellschaft im Diskurs

C.3 Tracing-Apps und Zivilgesellschaft: besondere Risiken und die starke Rolle der Zivilgesellschaft im Diskurs

Die dargestellten Probleme betreffen jede*n einzelne*n Nutzer*in, zivilgesellschaftliche Arbeit ist jedoch im besonderen Maße von einigen Risiken betroffen. Einige zivilgesellschaftliche Organisation können ihre Arbeit nur dann ausführen, wenn sie sichergehen können, dass sie und die Menschen, mit denen sie Kontakt haben, nicht von möglicher (staatlicher) Nachverfolgung, betroffen sind. Beispielsweise besteht bei Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere und jenen, die sich im laufenden Asylverfahren befinden, ein besonderes Interesse an staatlicher Verfolgung und Überwachung.

Ein praktisches Problem ist dabei auch, dass viele einige Organisationen, die unter prekären Bedingungen arbeiten, oft nicht über ausreichende Kapazitäten verfügen, um die Einhaltung ihrer Datenschutz-Rechte zu überprüfen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich wie wichtig es ist, dass Anwendungen von Beginn an datenschutzrechtliche Anforderungen erfüllen und über datenschutzfreundliche Voreinstellungen verfügen (sog. privacy by design). Beim Angebot von Datenspende-Apps muss vorgesorgt werden, dass gerade vulnerable Gruppen adäquat und verständlich über datenschutzrechtliche Risiken aufgeklärt werden, sodass deren Unkenntnis nicht zu missbraucht werden kann.

Auch bezüglich der Freiwilligkeit bedarf es hier besonderer Schutzmaßnahmen. Insbesondere Geflüchtete sind rechtsförmigen und faktischen Zugangsbeschränkungen zu öffentlichen Ressourcen oft schutzlos ausgeliefert. Es muss sichergestellt sein, dass sich ihr Verhalten zu allen denkbaren „Corona-Apps“ niemals negativ auf ihre Grundversorgung oder ihr Asylverfahren auswirken kann.

Positiv hervorzuheben ist die bisherige Rolle der Zivilgesellschaft im Diskurs um den Einsatz von Technologien in der Corona-Krise. Zivilgesellschaftliche Akteur*innen sind an der Diskussion zu den Corona-Apps aktiv beteiligt und nehmen starken Einfluss auf die Debatte zur konkreten Ausgestaltung der App. In einem Fall hat der Kurswechsel der Bundesregierung gezeigt, dass auch der Protest aus der Zivilgesellschaft gehört wird und Folgen hat. So wurde ein vom Gesundheitsministerium erarbeiteter Gesetzesentwurf, der den Gesundheitsbehörden ermöglichen sollte, “zum Zwecke der Nachverfolgung von Kontaktpersonen … technische Mittel” einzusetzen und von den Anbietern von Telekommunikationsdiensten Verkehrs- und Standortdaten heraus zu verlangen, zurückgezogen, nachdem diverse zivilgesellschaftliche Akteur*innen zu Recht kritisierten, dass die Abfrage von Funkzellendaten ungeeignet und die Abfrage von GPS-Daten unangemessen wäre. Auch die Entwicklung verschiedener, auf der BLE-Technologie basierender Projekte, insbesondere der Verlauf des PEPP-PT-Projekts wurde stets intensiv und kritisch begleitet.

4. Anforderungen und rechtliche Grenzen für den Einsatz von Tracing-Apps

C.4 Anforderungen und rechtliche Grenzen für den Einsatz von Tracing-Apps

Das Datenschutzrecht ist Schutzschild der Menschen und damit auch der Zivilgesellschaft gegen Nachverfolgung und Überwachung. Deshalb ist es wichtig, dass vor dem flächendeckenden Einsatz einer Contact-Tracing-App ihr Quellcode offengelegt wird. Nur so kann vor Beginn des Einsatzes sichergestellt werden, dass die App die datenschutzrechtlichen Vorgaben erfüllt und keine verborgenen Gefahren enthält. Im Anschluss muss der Einsatz der App laufend am Maßstab der Grundrechte überprüft werden. Dabei sind grundsätzlich die einige Punkte zu beachten.

4.1. Datenschutz ist Grundrechtsschutz

Datenschutz ist Grundrechtsschutz

Das Grundrecht auf Datenschutz in der EU-Grundrechtecharta (Artikel 8 GRCh) und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung des Grundgesetzes (Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 GG) stellen die verfassungsrechtliche Grenze für den Einsatz von Contact-Tracing-Apps dar. Die daraus abgeleiteten Schutzstandards für Betroffene können daher nicht einfach abgesenkt werden.

Vor diesem Hintergrund sind entsprechende Forderungen wie in der Leopoldina-Stellungnahme kritisch zu bewerten. Diese forderte, dass „angesichts der Erfahrung der derzeitigen Pandemie […] auf europäischer Ebene die Datenschutzregelungen für Ausnahmesituationen überprüft und ggfs. mittelfristig angepasst werden [sollten]. Dabei sollte die Nutzung von freiwillig bereit gestellten personalisierten Daten, wie beispielsweise Bewegungsprofile (GPS-Daten) in Kombination mit Contact-Tracing in der gegenwärtigen Krisensituation ermöglicht werden.“ Hierbei ist zu beachten, dass Abweichungen von datenschutzrechtlichen Grundsätzen nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH restriktiv auszulegen sind. Wenn Mitgliedstaaten von den Möglichkeiten für Abweichungen von den Betroffenenrechten Gebrauch machen (vgl. Art. 23 DSGVO oder Art. 15 ePrivacy-Richtlinie), müssen sie sicherstellen, dass die entsprechenden Gesetze den Wesensgehalt der Grundrechte achten und verhältnismäßig sind.

Eine Änderung der datenschutzrechtlichen Grundlagen ist zum Einsatz von Contact-Tracing-Apps aber auch gar nicht nötig: Das Datenschutzrecht steht dem Einsatz von Contact-Tracing-Apps nicht grundsätzlich entgegen. Vielmehr formuliert es Anforderungen an deren Ausgestaltung, die bezwecken, dass die Grundrechte der Menschen – und damit auch die Zivilgesellschaft – auch in Krisenzeiten nicht unverhältnismäßig eingeschränkt werden.

Dass datenschutzrechtliche Anforderungen in der Gestaltung von Contact-Tracing-Apps zu berücksichtigen sind, ist daher kein Bug, sondern ein Feature. Datenschutz und Contact-Tracing können miteinander vereinbart werden. Im Datenschutzrecht konkretisieren sich wichtige verfassungsrechtliche Grundsätze. Darunter fallen etwa die Grundsätze der Rechtmäßigkeit (jede Datenverarbeitung muss durch eine Rechtsgrundlage gerechtfertigt sein), der Zweckbindung (die Datenverarbeitung darf nur für vorher und abschließend festgelegte Zwecke erfolgen) und der Datenminimierung (es dürfen nicht mehr Daten verarbeitet werden, als zur Erreichung des Zwecks erforderlich). Diese Anforderungen gelten für sämtliches staatliche Handeln.

4.2. Gesetzesgrundlage und präziser Zweck

Gesetzesgrundlage und präziser Zweck

Jede staatliche Maßnahme gegenüber Einzelnen, die mit einem Eingriff in Grundrechte verbunden ist, muss sich im Rechtsstaat auf eine hinreichend bestimmte gesetzliche Rechtsgrundlage stützen. Die Maßnahme muss zudem einem legitimen Zweck dienen und verhältnismäßig sein. Das bedeutet, sie muss geeignet sein, den angestrebten Zweck zu erfüllen, und von allen gleich geeigneten Mittel dasjenige sein, das am wenigsten intensiv in die Grundrechte der Betroffenen eingreift. Außerdem darf der Eingriff in die Grundrechte nicht außer Verhältnis zum angestrebten Ziel stehen.

Besonders wichtig ist bei einer Contact-Tracing-App, dass die Rechtsgrundlage den Zweck der Verarbeitung präzise festlegt. An diesem Zweck wird die gesamte Datenverarbeitung und ihre Erforderlichkeit gemessen. Je weiter der Zweck definiert ist, desto größer ist der Eingriff in die Grundrechte der betroffenen Personen; es ist daher wichtig, dass der Zweck möglichst eng gefasst wird. Außerdem muss die Speicherdauer für die Daten auf das absolut notwendige Maß begrenzt werden.

Bei der Zweckbindung ist auch wichtig, dass der Zweck der Datenerhebung nicht nachträglich stückweise ausgeweitet werden darf. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf einen Daten-Zugriff durch Ordnungs- und Sicherheitsbehörden. Dies wird von der Zivilgesellschaft mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden und die Akzeptanz der App maßgeblich beeinflussen. Der Staat sollte daher transparente Schutzmaßnahmen ergreifen, die einem solchen missbräuchlichen Umgang mit den Daten, etwa ihre Nutzung für andere Zwecke oder die Repersonalisierung, entgegenwirken.

4.3. Datenschutz-Maßnahmen über die gesamte Lebensdauer der App

Datenschutz-Maßnahmen über die gesamte Lebensdauer der App

Bei der Gestaltung und Implementierung von Contact-Tracing-Apps sind insbesondere zwei Anforderungen zu beachten: Datenschutz by Design bedeutet, Datenschutz von Beginn an in das Entwicklungs-Verfahren zu integrieren. Datenschutz by Default bedeutet, dass für einzelne Nutzer*innen schon bei der ersten Nutzung standardmäßig die datenschutzfreundlichsten Voreinstellungen ausgewählt sind. Dies sind keine „Möglichkeiten“ zur Gestaltung, sondern Normen, die für die Betreiber einer Contact-Tracing-App verpflichtend sind.

Die App-Betreiber müssen zudem gewährleisten, dass die Daten der Nutzer*innen ausreichend abgesichert werden, um etwa Missbrauch oder unberechtigten Zugang zu verhindern. Die bereits angesprochenen Risiken für die Rechte Einzelner erfordern daher geeignete Schutzmaßnahmen.

4.4. Vertrauen erfordert Transparenz

Vertrauen erfordert Transparenz

Eine Kontaktnachverfolgung kann potenziell zu einer umfassenden Dokumentation des Alltags führen. Aufgrund dieses Risikos und der Neuheit der Technologie muss bereits vor der Einführung einer Contact-Tracing-App eine transparente und umfassende Datenschutz-Folgenabschätzung durchgeführt werden.

Bei der Datenschutz-Folgenabschätzung muss die gesamte mit dem Contact-Tracing einhergehende Datenverarbeitung in ihrer konkreten praktischen Umsetzung analysiert werden. Hierbei wird geprüft, ob die datenschutzrechtlichen Vorgaben – zum Beispiel Datenschutz by Design – eingehalten werden. Diese Analyse muss aus der Perspektive der Betroffenen geschehen, um angemessene Maßnahmen zum Schutz ihrer Rechte zu identifizieren. Der Analyse-Bericht sollte veröffentlicht werden, nicht nur im Interesse der Akzeptanz der App; Transparenz trägt auch wesentlich dazu bei, dass die Zivilgesellschaft das staatliche Handeln kontrollieren kann.

Informationsfreiheits- oder Transparenzgesetze auf EU- und Bundes- und Landesebene verlangen, dass staatliche Stellen Informationen grundsätzlich veröffentlichen oder auf Anfrage herausgeben müssen. Über diese Regelungen bestehen weitere Möglichkeiten für zivilgesellschaftliche Gruppen und Organisationen, das Handeln von Regierung und Verwaltung zu kontrollieren. Diese Informationsfreiheit darf nicht pauschal unter Hinweis auf Geheimhaltungsinteressen oder Interessen der Exekutive verkürzt werden.

Es muss auch sichergestellt werden, dass die User ihre Rechte ausüben können. Dazu gehören umfangreiche Informations- und Auskunftsrechte, die dazu dienen, ihnen die Datenverarbeitung transparent und verständlich zu erklären. Die konkreten Verarbeitungsschritte einer Contact-Tracing-App sind dabei nicht für alle Nutzer*innen relevant. Die Information kann deshalb auf verschiedenen Ebenen und in abgestuften Komplexitätsgraden erfolgen. Wichtig ist jedoch, dass jede*r Nutzer*in die Möglichkeit haben muss, die abstrakte Funktionsweise der App nachvollziehen zu können.

4.5. Rechte der Betroffenen durchsetzen

Rechte der Betroffenen durchsetzen

Nutzer*innen sind jedoch nicht nur passive Konsument*innen mit Informationsrechten. Betroffene können sich bei einer Datenschutzaufsichtsbehörde beschweren, wenn sie der Meinung sind, dass eine Datenverarbeitung nicht den gesetzlichen Vorgaben entspricht. Sie können auch gerichtlich gegen die für die Datenverarbeitung verantwortliche Stelle vorgehen. Diese Rechte der Betroffenen können auch zivilgesellschaftliche Gruppen, Organisationen oder Vereine ausüben.

4.6. Effektivität der Contact-Tracing-App laufend überwachen

Effektivität der Contact-Tracing-App muss laufend überwacht werden

Bisher gibt es, jedenfalls in Europa, noch keine praktischen Erfahrungen mit dem Einsatz vergleichbarer Apps auf Basis von BLE. Die Nützlichkeit von Contact-Tracing-Apps wird daher bisher aufgrund von Prognosen eingeschätzt. Deswegen muss ihr tatsächlicher Einsatz laufend empirisch evaluiert werden. Das bedeutet auch, dass die jetzt eingeführten Maßnahmen nach dem Ende der Pandemie, wenn sie also nicht mehr zum Infektionsschutz erforderlich sind, vollständig zurückgefahren werden müssen.

4.7. Entwicklungen auf EU-Ebene und in anderen EU-Mitgliedsstaaten müssen in den Blick nehmen

Die Entwicklungen auf EU-Ebene und in anderen EU-Mitgliedsstaaten müssen in den Blick genommen werden

Längerfristiges Ziel ist eine europaweite Nutzung von Contact-Tracing-Apps. Dies erfordert Verknüpfungen mit Contact-Tracing-Systemen aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Daher müssen auch die Diskussionen auf EU-Ebene und die Entwicklungen in den EU-Mitgliedstaaten in den Blick genommen werden – und es müssen auch diesbezüglich die rechtlichen Grenzen klar sein.

Kritische Aspekte sind hier insbesondere eine mögliche Erweiterung des Zwecks sowie ein fragwürdiger Umgang mit Daten und digitaler Überwachung in anderen EU-Mitgliedstaaten.

So setzt sich die EU-Kommission für eine Verarbeitung von Gesundheitsdaten ein, die über das Contact-Tracing hinaus geht; ähnlich wie bei der Datenspende-App des RKI sollen Gesundheitsdaten zur epidemiologischen Forschung eingesetzt werden. Die EU-Kommission sieht eine EU-weite App auch als Chance, eine schon länger geplante EU-weite digitale Infrastruktur für die Speicherung und Verarbeitung von Gesundheitsdaten zu ermöglichen.

Hier wird es wichtig, sicherzustellen, dass die Contact-Tracing-App nicht zum Einfallstor für datenschutzrechtlich problematische Pläne mit weitreichenden Folgen für die Zukunft wird. Insbesondere die Zivilgesellschaft wird diese Entwicklungen intensiv beobachten und kritisch begleiten.

Besondere Schutzmechanismen und Exit-Strategien sind erforderlich, wenn eine Verknüpfung mit Staaten angestrebt wird, in denen die Kompetenzen zur Kontaktnachverfolgung nicht auf die Gesundheitsbehörden begrenzt ist und in denen die datenschutzrechtliche Aufsicht nicht gewährleistet ist. Fraglich ist auch der Umgang mit EU-Staaten, in denen bereits die Ausgangsbeschränkungen mit Drohnen überwacht werden, wie z.B. in Belgien, oder in denen die Einhaltung von Quarantäne-Anordnungen bereits digital überwacht wird, wie beispielsweise in Polen.

Klar ist, dass Datenschutz-Grundrechte nicht an der Grenze Halt machen – auch in der Zusammenarbeit mit anderen Staaten müssen die Grundrechte gewahrt werden.

4.8. Zwischenfazit

C.8 Zwischenfazit und Ausblick: Datenschutz, Infektionsschutz und die Verantwortung der Zivilgesellschaft

Datenschutz und Infektionsschutz sinnvoll miteinander zu vereinen, ist eine große gesellschaftliche Aufgabe. Der dezentrale Ansatz, den die Bundesregierung gewählt hat, könnte grundsätzlich dazu geeignet sein, dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Bis der Quellcode einer nutzbaren App veröffentlicht wird, verbleiben jedoch noch viele offene Fragen: Wie werden Nutzer*innen vor Angriffen auf ihre privaten Daten geschützt? Wie wird mit dem erhöhten Risiko an Falschmeldungen umgegangen? Was passiert mit Infektionsmeldungen? Welche Schutzmaßnahmen werden hierfür getroffen, und wie transparent wird die Technik sein? Und wie wird sichergestellt, dass der Schutz der Anonymität, der für viele zivilgesellschaftliche Akteure zentral ist, nicht durch das Contact-Tracing aufgehoben wird?

Eines steht jedoch fest: Bei der Bewältigung all dieser Herausforderungen wird die kritische Zivilgesellschaft eine zentrale Rolle spielen. Sie muss Antworten auf die offenen Fragen einfordern und Entwicklung und Einsatz der App kritisch begleiten. Sie muss sich aber auch aktiv in die Mitgestaltung und Bewältigung dieser Epidemie einbringen. Die zivilgesellschaftliche Verantwortung endet auch nicht mit der Corona-Epidemie: Es gilt zu verhindern, dass die drastischen Maßnahmen nach der Krise zur Normalität werden. Daher ist es besonders wichtig, dass das Contact-Tracing nicht zum Einfallstor für eine umfassende Gesundheitsüberwachung wird. Der Staat ist deswegen bereits jetzt in die Pflicht zu nehmen, eine überzeugende Strategie für den Exit aus dem digitalen Contact-Tracing zu präsentieren.

D. Versammlungsfreiheit, Demonstration und Protest in Zeiten von Corona

D.1 Update “Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona” (VÖ: 20. Mai 2020)

Mit den Corona-Virus-bedingten Ausgangsbeschränkungen (20./22. März 2020) wurde auch die Versammlungsfreiheit in allen Bundesländern eingeschränkt. Es gab explizite Totalverbote von Versammlungen ohne die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung (z.B. in Bayern und Thüringen), sowie implizite Totalverbot (so z.B. in Brandenburg oder Baden-Württemberg). Die meisten anderen Länder erließen Verbote mit Erlaubnisvorbehalt, wonach Versammlungen grundsätzlich verboten und nur in Ausnahmen erlaubt waren. Dass die pauschalen Beschränkungen der Versammlungsfreiheit nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar sind, haben wir bereits in unserer Kurzstudie vom 16. April 2020 ausgeführt.

Seitdem hat sich einiges getan. Neben einigen öffentlichen Demonstrationen, bei denen die Beteiligten die geltenden Regeln zum Infektionsschutz nicht einhielten, gibt es auch viele positive Beispiele: Die Zivilgesellschaft reagierte mit neuen und kreativen Protestformen, die Demonstrationen unter Einhaltung der Regeln zum Infektionsschutz ermöglichen. Auf rechtlicher Ebene war eine Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), die am selben Tag wie unsere Kurzstudie veröffentlicht wurde, ein teilweiser Sieg für die Versammlungsfreiheit. Bis dahin hatten einige Gerichte behördliche Versammlungsverbote sehr zurückhaltend geprüft. Inzwischen haben auch die Bundesländer ihre Corona-Maßnahmen nachjustiert.

In diesem Aktualisierungsbeitrag gehen wir auf die neuen Entwicklungen im Bereich der Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona ein und beurteilen sie rechtlich.

Das Update als PDF (Download-Link zu Greenpeace.de)

1. Warum kann die Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona nicht einfach beschränkt werden und warum ist Demonstrieren gerade jetzt so wichtig?

D.1.1 Warum kann die Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona nicht einfach beschränkt werden und warum ist Demonstrieren gerade jetzt so wichtig?

Versammlungsfreiheit gilt auch während der Corona-Krise

Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundpfeiler unserer Demokratie. Das hat das BVerfG schon in seiner Brokdorf-Entscheidung von 1985 klargestellt, bei der es um die Anti-AKW-Bewegung ging. Das ist bis heute die Leitentscheidung: Die Versammlungsfreiheit in Artikel 8 des Grundgesetzes (GG) zählt zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens (vgl. BVerfG 69, 315 – Brokdorf). In der Versammlungsfreiheit manifestiert sich unsere Grundentscheidung für einen demokratischen Staat. Für die Beschränkung der Versammlungsfreiheit gelten daher scharfe Regeln. Eine Versammlung darf nur als letztes Mittel verboten oder aufgelöst werden, wenn alle milderen Mittel ausgeschöpft sind; mildere Mittel sind zum Beispiel Auflagen für die Durchführung der Versammlung.

Gerade jetzt ist eine kritische und aktive Zivilgesellschaft wichtig

Auch bei Demonstrationen müssen die geltenden Regeln für den Infektionsschutz eingehalten werden. Wichtig ist aber, dass Protest nicht generell verschwindet.

Die Politik ist auf die Stimmen der Zivilgesellschaft angewiesen. Der Dialog zwischen Zivilgesellschaft und Politik ist in Deutschland grundsätzlich wenig institutionalisiert. Die Corona-Pandemie erfordert schnelle politische Entscheidungen und bringt verkürzte Gesetzgebungsverfahren mit sich, wodurch sich zivilgesellschaftliche Organisationen nur beschränkt einbringen können. Dadurch erhöht sich die Gefahr, dass einige Interessen nicht ausreichend berücksichtigt werden. Auch in den Expert*innen-Gremien, die Empfehlungen an die Politik geben, sind einige Personengruppen unterrepräsentiert (siehe z.B. Studie der Leopoldina). Friedlicher offener Protest auf der Straße ist also ein wichtiges Mittel, gesellschaftspolitische Anliegen sichtbar zu machen und in den politischen Diskurs einzubringen.

2. Die aktuellen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

D.1.2 Die aktuellen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts

Keine pauschalen Versammlungsverbote

Bis zum Beschluss des BVerfG am 15. April 2020 (1 BvR 828/20) bestätigten Verwaltungsgerichte überwiegend Versammlungsverbote, auch Totalverbote. Dabei räumten sie dem Gesundheitsschutz, teilweise ohne Abwägung, Vorrang gegenüber der Versammlungsfreiheit ein und gestanden der Exekutive einen weitreichenden Beurteilungsspielraum zu.

Dem hat das BVerfG Einhalt geboten. Das Gericht hat – den Schlussfolgerungen unserer Kurzstudie entsprechend – klargestellt, dass Versammlungsbehörden im Einzelfall Abwägungsentscheidungen treffen müssen. Dabei müssen sie die besondere Bedeutung von Artikel 8 GG berücksichtigen.

Kooperationspflicht der Versammlungsbehörde

In einer zweiten Entscheidung vom 17. April 2020 (1 BvQ 37/20) bestätigte es diesen Grundsatz. Das BVerfG erläuterte, dass sich die Behörden bei der Abwägung im Einzelfall auch nicht auf pauschale Erwägungen stützen können, die jeder Versammlung entgegen gehalten werden können (Rn. 23). Mit dem bloßen Hinweis auf einen stets möglichen vermehrten Zustrom von Menschen und ein dadurch entstehendes erhöhtes Infektionsrisiko dürfen Behörden eine Versammlung nicht verbieten. Stattdessen müssen sie die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigen.

Zudem stärkte das BVerfG auch das Kooperationsgebot. Wie wir in der ersten Kurzstudie darstellten, kann die Verantwortung für den Infektionsschutz nicht alleine auf die Versammlungsleitung abgewälzt werden. Auch die Versammlungsbehörde und die Polizei sind in der Pflicht, dafür zu sorgen, dass das Grundrecht gefahrlos wahrgenommen werden kann. Im Einzelnen stellte das BVerfG klar, dass sich die zuständige Behörde um eine kooperative, einvernehmliche Lösung mit dem oder der Versammlungs-Veranstalter*in bemühen muss, bevor sie Beschränkungen erlässt.

Nicht ausdrücklich beantwortet hat das BVerfG bisher, ob „es überhaupt von Art. 8 GG gedeckt ist, die Ausübung der Versammlungsfreiheit durch Rechtsverordnung einem grundsätzlichen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu unterwerfen und die Erteilung einer solchen Erlaubnis in das Ermessen der Verwaltung zu stellen“ (Rn. 23).

Ähnliche Vorgaben für die Religionsfreiheit

Weitere Orientierung bietet eine Entscheidung des BVerfG zu den aktuellen Beschränkungen der Religionsfreiheit. Mit Beschluss vom 29. April 2020 (1 BvQ 44/20) stellte das Gericht fest, dass mit Blick auf die durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG geschützte Religionsfreiheit „ein generelles Verbot ohne die Möglichkeit, im Einzelfall und gegebenenfalls in Abstimmung mit dem Gesundheitsamt Ausnahmen unter situationsgerechten Auflagen und Beschränkungen zulassen zu können, voraussichtlich nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sei“ (Rn 9, 16). Das OVG Berlin-Brandenburg griff diesen Grundsatz auf und stellte in seiner Entscheidung vom 30. April 2020 zum mygruni-Autokorso am 1. Mai fest, dass für das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit insoweit nichts anderes gelten dürfe.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit aus Artikel 8 GG kein pauschales Verbot von Versammlungen zulässt – auch nicht im Namen des Gesundheitsschutzes. Es bedarf immer einer Abwägung im Einzelfall, die eine konkrete Auseinandersetzung mit den Umständen der Versammlung und dem konkreten Infektionsrisikos erfordert. Erst dann kann ein Verbot als mildestes Mittel zulässig sein.

3. Die Reaktionen der Gerichte auf die Entscheidungen des BVerfG

D.1.3 Die Reaktionen der Gerichte auf die Entscheidungen des BVerfG

Gerichte werden kritischer

Seit den Entscheidungen des BVerfG ist die Rechtsprechung insgesamt versammlungsfreundlicher geworden. Die Gerichte kritisierten hinsichtlich des behördlichen Vorgehens insbesondere Folgendes:

Die Inkonsistenz der Schutzkonzepte

Die Schutzkonzepte, die einer Versammlung auferlegt werden, müssen im Einklang zu den generell geltenden Infektionsschutzregeln stehen (siehe VG Hamburg vom 16. April 2020).

Die Behörde kann also z.B. nicht verlangen, dass während einer Demonstration ein Mindestabstand von 5 Metern eingehalten werden soll, während im ÖPNV nur 1,5 m Abstand eingehalten werden müssen, und auch nur soweit möglich.

Pauschale Erwägungen, die auf jede Versammlung zutreffen könnten, ohne Auseinandersetzung mit dem Einzelfall

Insbesondere der pauschale Verweis darauf, dass die Gefahr eines großen Zustroms von Menschen bestehe, ist für ein Verbot nicht ausreichend. So sprach sich beispielsweise das VG Trier am 30. April 2020 gegen das Verbot einer Demonstration aus, die unter dem Motto “Heraus zum 1. Mai – internationaler Kampftag der Arbeiter*innenklasse” stattfinden sollte. Die Versammlungsbehörde hatte die Demonstration mit fünf Teilnehmer*innen trotz Einhaltung von Auflagen zum Infektionsschutz verbieten wollen, weil es zu vermehrtem Personenverkehr kommen könne.

Statt pauschaler Erwägungen muss sich die Versammlungsbehörde in jedem Einzelfall mit den konkreten Umständen auseinandersetzen. Zum Beispiel muss sie prüfen, ob zum Mitmachen aufgefordert oder explizit davon abgeraten wird, ob öffentliche Ankündigung stattfinden oder darauf verzichtet wird.

Fehlende Kooperationsbereitschaft der Versammlungsbehörde

Auch die Versammlungsbehörde muss Strategien erarbeiten und vorschlagen, mit denen der Infektionsschutz gewahrt werden kann. Eine bloße Prüfung der Vorschläge der Versammlungsleitung reicht nicht aus (so VG Aachen am 29. April 2020).

3.1. Unverhältnismäßige Beschränkungen der Versammlungsfreiheit gibt es weiterhin

Unverhältnismäßige Beschränkungen der Versammlungsfreiheit gibt es weiterhin

Neben versammlungsfreundlichen Entscheidungen wird die Versammlungsfreiheit allerdings in anderen Fällen weiterhin unverhältnismäßig stark beschränkt.

So entschied das VG Düsseldorf am 30. April 2020, dass ein Verbot eines für den 2. Mai geplanten Autokorsos rechtmäßig sei, der unter dem Motto: „Wahrung der Grundrechte und für freie Impfentscheidung” stattfinden sollte und 100–200 Fahrzeuge auf einer Strecke von 20 Kilometern vorsah. Dabei berief sich das Gericht darauf, dass wahrscheinlich Personenansammlungen entstehen würden, insbesondere an Ampeln. Konzepte, wie solche Ansammlungen vermieden werden könnten, forderte es nicht ein.

Das VG Gelsenkirchen bestätigte am 29. April 2020 das Verbot einer 1. Mai-Demonstration in Essen, da am gewählten Veranstaltungsort an einer zentralen Stelle der Essener Innenstadt die Gefahr von Menschenansammlungen bestehe. Das Konzept zur Einhaltung des Mindestabstands und das Tragen von Mund-Nasenschutz-Masken reiche nicht aus, um dies zu verhindern. Da es sich um eine „DGB-Ersatz-Kundgebung“ handele, sei mit einem „enormen Zulauf“ zu rechnen. Das Gericht missachtete demnach, dass das Verbot einer Versammlung als Ultima Ratio in jedem Fall voraussetzt, dass das mildere Mittel der Erteilung von Auflagen ausgeschöpft ist.

Für Aufsehen sorgte zusätzlich die Aussage von NRW-Innenminister Herbert Reul in einer Sitzung des Innenausschusses am 23. April 2020, er wolle die Rechtsprechung des BVerfG zu Art. 8 GG gerne grundsätzlich auf den Prüfstand stellen.

Die meisten Gerichte halten §§ 28, 31 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) als Rechtgrundlage der Beschränkungen für ausreichend, obwohl auch dies von rechtswissenschaftlichen Kommentator*innen vielfach kritisiert wurde (siehe u.a. hier). Des Weiteren bewerteten die meisten Gerichte die Genehmigungspflicht, also das Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, als rechtmäßig (so z.B. OVG Sachsen am 30. April 2020 – 3 B 148/20, Rn. 34). Mit dem in Artikel 8 GG garantierten „Recht, sich ohne Anmeldung und Erlaubnis … zu versammeln“, ist dies nicht vereinbar. Allerdings betonten die Gerichte, dass die Ermessensausübung der Behörden deutlich strenger kontrolliert werden müsse. Teilweise nahmen sie an, dass das Ermessen der Behörde auf Null reduziert ist, so dass sie Versammlungen erlauben muss.

4. Die aktuelle Rechtslage in Zeiten der Lockerungen

D.1.4 Die aktuelle Rechtslage in Zeiten der Lockerungen

Die aktuelle Rechtslage in den Bundesländern zeigt inzwischen eine deutliche Abkehr von der Verbotspraxis. Alle expliziten und impliziten Totalverbote von Versammlungen wie in Bayern und Thüringen wurden aufgehoben. In Thüringen sind nun sogar Versammlungen bis zu 50 Teilnehmer*innen und unter bestimmten Auflagen grundsätzlich zulässig.

In einigen Bundesländern gibt es auch weiterhin Verbote von Versammlungen mit Erlaubnisvorbehalt (so z.B. in Sachsen-Anhalt gemäß § 1 Absatz 1 der SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung in Sachsen-Anhalt, die vom 4.–27. Mai in Kraft ist, oder in Bayern gemäß § 5 der Vierten Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, die ab 5. Mai bis zum 17. Mai 2020 gilt).

Die übrigen Bundesländer sind zur Logik des Artikel 8 GG zurückgekehrt: Versammlungen brauchen keine Erlaubnis, die Behörden haben aber im Einzelfall die Möglichkeit, sie zu verbieten. Das bedeutet, dass die Versammlungsbehörden unter bestimmten Voraussetzungen ein Verbot aussprechen dürfen, aber eben nur, wenn dies im Einzelfall geprüft wurde. Entscheidende Kriterien für die Überprüfung von Versammlungskonzepten sind:

  1. Begrenzte Teilnehmer*innenzahl (meist zunächst auf 50 begrenzt)
  2. Der gewöhnliche Mindestabstand von 1,5 m muss eingehalten werden
  3. Teilnehmer*innen mit Krankheits-Symptomen sind auszuschließen
  4. Zum Teil wird die Dauer der Versammlung begrenzt (so z.B. in Bayern auf 60 Minuten, § 5 der Vierten Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung)
  5. Zum Teil wird gefordert, dass die Versammlungsleitung eine Teilnehmer*innenliste erstellt und an die Gesundheitsbehörde weiterleitet
5. Kritik und Forderungen

D.1.5 Kritik und Forderungen

Es ist notwendig, auch bei Versammlungen zu gewährleisten, dass Infektionsschutzregeln eingehalten werden; dies ist im Grundsatz auch nach Artikel 8 GG zulässig. Auflagen sind daher ein sinnvolles Mittel, um einen Kompromiss zu ermöglichen: Wenn der Infektionsschutz gewahrt ist, kann weiter demonstriert werden.

Fraglich ist allerdings, ob es mit der Forderung des BVerfG nach Einzelfallprüfungen vereinbar ist, wenn Auflagen bereits fester Bestandteil der allgemein geltenden Rechtsverordnungen sind. Außerdem müssen die Auflagen selbst mit Artikel 8 GG vereinbar sein.

Teilnehmer*innenlisten können von der Grundrechtsausübung abhalten

Rechtliche Zweifel bestehen insbesondere hinsichtlich der Erstellung bzw. Weitergabe von Teilnehmer*innenlisten.

Das VG Gelsenkirchen stellte am 30. April 2020 fest, dass die anlasslose Weitergabe einer Teilnehmer*innen-Liste, also ohne dass eine tatsächliche Infektion bekannt wird, verfassungswidrig sei. Die Maßnahme ist insbesondere nicht angemessen, weil die Feststellung der Personalien gerade „im sensiblen Bereich der kritischen Auseinandersetzung mit dem öffentlichen Geschehen“ abschreckend auf potenzielle Teilnehmer*innen wirken könnte. Dadurch bestünde die Gefahr, dass diese davon absehen, ihr Grundrecht aus Artikel 8 GG in Anspruch zu nehmen. Außerdem finde eine derartige Feststellung der Personalien in keinem anderen Lebensbereich statt, weder im ÖPNV noch in Geschäften. Eine Weitergabe der Liste bei einem konkreten Infektionsfall bezeichnete das VG Gelsenkirchen als noch verhältnismäßig.

Das VG Köln sah dies anders und entschied am 7. Mai 2020 in Bezug auf eine Versammlung anlässlich des Kriegsendes, dass bereits die Führung einer Namensliste mit Artikel 8 GG nicht zu vereinbaren ist – auch wenn diese zunächst nur beim Veranstalter hinterlegt ist. Die Versammlungsfreiheit schütze gerade auch die anonyme Teilnahme an einer Versammlung.

Keine Doppelstandards

Die Behörden und der Verordnungsgeber müssen also auch bei den Lockerungen darauf achten, keine Doppelstandards zu etablieren. Der Infektionsschutz darf gerade im grundrechtlich besonders geschützten Bereich der Versammlungsfreiheit nicht mit härteren Regeln verfolgt werden als bei anderen erlaubten Tätigkeit wie dem Einkaufen.

Veranstalter*innen tragen nicht die alleinige Verantwortung

Die Verantwortung für die Einhaltung der Infektionsschutzregeln darf weiterhin nicht allein auf die Veranstalter*innen einer Versammlung abgewälzt werden. Dies widerspricht dem Mitte April erneut vom Bundesverfassungsgericht gestärkten Kooperationsgebot und der Gewährleistungskomponente von Artikel 8 GG. Der Staat trägt eine wichtige Mitverantwortung dafür, dass Versammlungen sicher ablaufen können.

Blick in die Zukunft

Die Entwicklungen der letzten Wochen sind insgesamt positiv. Die Gerichte setzen sich zunehmend mit den Einzelheiten der geplanten Versammlung und den Verbotsbegründungen der Versammlungsbehörden auseinander. Auch für kommende Entscheidungen muss gelten: Keine Verbote aufgrund pauschaler Argumente hinsichtlich erhöhter Infektionsgefahren, keine anlasslose Weitergabe einer Teilnehmer*innenliste an die Gesundheitsbehörde und keine Doppelstandards bezüglich der Hygieneanforderungen an Versammlungen im Vergleich zu anderen erlaubten Tätigkeiten.

D.2. Kurzstudie “Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona” (VÖ: 9. April 2020)

D.2 Kurzstudie “Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona” (VÖ: 9. April 2020)

In diesem Jahr wird es keine Ostermärsche auf offener Straße geben – ein Alarmsignal für unsere Demokratie. Die Ostermärsche, bei denen alljährlich in zahlreichen Städten tausende Menschen für weltweiten Frieden und Abrüstung demonstrieren, finden seit den 1950ern statt. Sie sind das Ereignis, bei denen eine breite Friedensbewegung deutschlandweit sichtbar wird. Weil Versammlungen aktuell verboten sind, können Friedensaktivist*innen und engagierte Bürger*innen ihren Forderungen nicht Ausdruck verleihen – und somit auch keinen politischen Handlungsdruck erzeugen. Auch kreative Aktionen der Seebrücke-Bewegung, die sich für die Evakuierung von Kriegsflüchtlingen und anderen Geflüchteten aus griechischen Lagern einsetzt, wurden verboten.

Für die Demokratie in Deutschland ist die Versammlungsfreiheit besonders wichtig. Der Dialog zwischen Politik und Zivilgesellschaft ist fragil und – anders als in vielen Staaten und auf Ebene der Europäischen Union – kaum institutionalisiert. Neben der Einmischung in Gesetzgebungsverfahren sind die Proteste auf der Straße das wesentliche Mittel für die Zivilgesellschaft, sich Gehör zu verschaffen und sich für die Durchsetzung der eigenen Anliegen einzusetzen. Die protestierende Zivilgesellschaft trägt maßgeblich dazu bei, dass Regierungshandeln und Gesetze kritisch beleuchtet und nachjustiert werden. Sie macht auch marginalisierte Positionen öffentlich sichtbar. Das Gemeinschafts-Erlebnis auf der Straße ist zudem wichtig für die Formierung und Stärkung politischer Bewegungen. Als zentrales demokratisches Element ist der politische Diskurs auf der Straße daher verfassungsrechtlich durch Artikel 8 des Grundgesetzes besonders geschützt. Gerade angesichts der aktuell gravierenden Grundrechtsbeschränkungen braucht die Demokratie den friedlichen Protest. Genau diese zivilgesellschaftlichen Interventionen geraten im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus momentan unter die Räder.

Die Kurzstudie als PDF (Download-Link zu Greenpeace.de)

1. Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona

D.2.1 Versammlungsfreiheit in Zeiten von Corona

Mit Blick auf größere Demonstrationen wie die Ostermärsche wären sich nach bisheriger Praxis wohl alle einig: Ein Verbot ist wegen des zu großen Infektionsrisikos verhältnismäßig. Doch bei kleineren Aktionen, bei denen die Teilnehmenden großen Abstand wahren, Masken tragen oder sogar nur Schuhe abstellen, reagieren Behörden und Gerichte unterschiedlich.

Behörden und Gerichte verstehen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen der Bundesländer überwiegend als generelles Versammlungsverbot – auch, wenn bei einer Versammlung die ansonsten geltenden Kontaktbeschränkungen eingehalten werden. So hält es zum Beispiel das Verwaltungsgericht Neustadt für rechtmäßig, eine Demonstration von zwei Personen zu untersagen, die Schutzmasken tragen und das Abstandsgebot einhalten. Auch andere Gerichte hielten Versammlungsverbote für rechtmäßig, ganz ohne oder mit sehr verkürzter Abwägung der entgegenstehenden Interessen. Am Sonntag, den 5. April 2020, löste die Polizei an mehreren Orten Demonstrationen des Bündnisses #LeaveNoOneBehind auf, die in Form von „individuellen Spaziergängen“ durchgeführt werden sollten.

Anderenorts erlaubten Behörden Versammlungen hingegen unter Auflagen. In Münster hat die zuständige Behörde nach Einreichung eines Eilantrages bei Gericht eine Mahnwache gegen einen unmittelbar bevorstehenden Uranmülltransport von Gronau nach Russland unter Auflagen letztlich zugelassen. Auch wenn sich aktuell viele einig sind, dass Versammlungsverbote wegen der Infektionsrisiken gerechtfertigt sind: Aus der Verfassung ergeben sich sehr strenge Regeln für Versammlungsverbote, die aktuell teilweise missachtet werden.

2. Welche Bedeutung hat die Versammlungsfreiheit im Verfassungsrecht?

D.2.2 Welche Bedeutung hat die Versammlungsfreiheit im Verfassungsrecht?

Die Leitentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Versammlungsfreiheit wurde von der Anti-AKW-Bewegung erstritten. In seiner Brokdorf-Entscheidung von 1985 hat das Gericht die überragende Bedeutung der Versammlungsfreiheit in Artikel 8 des Grundgesetzes (GG) klargestellt: Das Recht aller Bürger*innen, sich frei zu versammeln und aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilzunehmen, zählt zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens (vgl. BVerfG 69, 315 – Brokdorf). In der Versammlungsfreiheit manifestiert sich unsere Grundentscheidung für einen demokratischen Staat.

Demokratie findet nämlich nicht nur im Bundestag statt, sondern auch auf der Straße. Nach Artikel 21 GG wirken die politischen Parteien bei der Willensbildung des Volkes mit – aber sie wirken eben nur mit. Einen wesentlichen Beitrag zur öffentlichen Willensbildung leistet auch die Zivilgesellschaft. Wie Jürgen Habermas feststellt: Jede wahrhaft und demokratisch verfasste Meinungs- und Willensbildung in Verbänden, Parteien und Parlamenten ist auf „die Zufuhr von informellen öffentlichen Meinungen angewiesen, wie sie sich nur außerhalb der Strukturen einer nicht-vermachteten politischen Öffentlichkeit bilden“. Die Zivilgesellschaft ist also zentral für den demokratischen Rechtsstaat.

Versammlungen bieten die Möglichkeit, eine Meinung durch physische Präsenz kund zu tun, wortwörtlich Stellung zu beziehen – ungehindert von etablierten Machtstrukturen und ohne Zwischenschaltung anderer Medien. Die protestierende Zivilgesellschaft ist unser „politisches Frühwarnsystem[], das Störpotentiale anzeig[t], Integrationsdefizite sichtbar und damit auch Kurskorrekturen der offiziellen Politik möglich mach[t]“ (Brokdorf-Beschluss, Rn. 67). Insbesondere für diejenigen Teile der Zivilgesellschaft, die gesellschaftlich unterrepräsentiert sind, kaum institutionell eingebettet sind und keine wirtschaftlichen Druckmittel zur Hand haben, ist der Protest auf der Straße neben der Abgabe eines Stimmzettels der einzige Weg zur politischen Einflussnahme.

Daher gelten scharfe Regeln für Beschränkungen der Versammlungsfreiheit. Versammlungen unter freiem Himmel können auf Grundlage eines Gesetzes eingeschränkt werden, wenn dadurch gleich gewichtige andere Rechtsgüter geschützt werden sollen. Dieses Gesetz muss die wesentlichen Entscheidungen selbst treffen – denn dies ist die Aufgabe des Parlaments und nicht der Behörden (Wesentlichkeits-Grundsatz bzw. Parlaments-Vorbehalt). Außerdem muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit strikt gewahrt werden (Brokdorf-Beschluss, Rn. 70): Jede Beschränkung der Versammlungsfreiheit muss auch wirklich geeignet sein, den legitimen Zweck zu erreichen; sie muss erforderlich sein, d.h. es gibt keine milderen, weniger einschneidenden Mittel; und sie muss angemessen sein, darf also nicht völlig außer Verhältnis zum Zweck stehen. Dabei muss stets die elementare Funktion, die die Versammlungsfreiheit für unsere Demokratie innehat, beachtet werden. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts war bisher deutlich: Ein Versammlung darf nur als letztes Mittel verboten oder aufgelöst werden, wenn alle milderen Mittel, auch die Festlegung von Auflagen, ausgeschöpft sind.

3. Wie stark schränken die Corona-Eindämmungsmaßnahmen die Versammlungsfreiheit ein?

D.2.3 Wie stark schränken die Corona-Eindämmungsmaßnahmen die Versammlungsfreiheit ein?

Entsprechend den gemeinsamen Leitlinien von Bund und Ländern vom 22. März 2020 haben die Länder weitreichende Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen erlassen oder erweitert. Gesetzliche Grundlage sind die Paragrafen 28 und 32 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). Die Corona-Eindämmungsmaßnahmen sind jedoch in den einzelnen Ländern unterschiedlich streng ausgestaltet – und oft schießen sie über die Grenzen der Leitlinien hinaus. Dies wird besonders mit Blick auf die Beschränkungen der Versammlungsfreiheit deutlich.

Explizite Verbote von Versammlungen ohne jegliche Ausnahmen sind selten. Die Bestimmungen in Thüringen und Bayern kommen einem solchen Verbot allerdings letztlich gleich. § 3 Absatz 1 der Thüringer Rechtsverordnung verbietet ausdrücklich Demonstrationen und Versammlungen. Die vorgesehenen Ausnahmen (z.B. zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder der Daseinsfür- und -vorsorge) dürften für zivilgesellschaftliche Demonstrationen, beispielsweise die Ostermärsche aber auch kleinere Aktionen, kaum greifen. § 1 Absatz 5 Buchstabe 6 der Bayerischen Rechtsverordnung sieht als Ausnahme des dauerhaften Aufenthalts in der eigenen Wohnung nur „Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung“ vor.

In den meisten anderen Bundesländern gilt: Außerhäusliche Zusammenkünfte sind auf zwei Personen beschränkt, es sei denn die Beteiligten leben im gemeinsamen Haushalt. Dies wird teilweise als implizites Totalverbot oder faktisches Versammlungsverbot (so das Verwaltungsgericht Hannover) eingestuft. Es lässt sich aber auch argumentieren, dass Behörden hier ihren Ermessenspielraum nutzen und Versammlungen ermöglichen können und sollten – dazu im nächsten Abschnitt.

Des Weiteren ermöglichen einige Bundesländer ausdrücklich die Erlaubnis von Versammlungen (sog. Erlaubnisvorbehalte), die von der Versammlungsbehörde einzuholen ist, teilweise unter Beteiligung der Gesundheitsbehörde. So ist zum Beispiel in § 1 Absatz 7 der Berliner Verordnung geregelt, dass Versammlungen von bis zu 20 Teilnehmenden von der Versammlungsbehörde genehmigt werden können – in besonders gelagerten Einzelfällen und wenn aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar. Andere Bundesländer setzen keine Höchstzahl an Teilnehmenden fest, sondern ermöglichen der Versammlungsbehörde unter Beteiligung der Gesundheitsbehörde eine individuelle Verhältnismäßigkeitsprüfung (so § 1 Absatz 5 der SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung in Sachsen-Anhalt). Teils werden auch mögliche Versammlungs-Auflagen aufgelistet, zum Beispiel die Einhaltung des Mindestabstandes und eine Teilnehmenden-Liste mitsamt Angaben zu Auslandsaufenthalten (§ 1 Absatz 5 i.V.m § 1 Absatz 4 Nr. 1, 2 und 4 der Verordnung). Bremen hat sich für eine umgekehrte Herangehensweise entschieden: Hier sind durch Artikel 8 GG geschützte Versammlungen von allen Verboten zur Corona-Eindämmung ausgenommen. Der Behörde ist es jedoch ausdrücklich erlaubt, die Infektionsgefahr bei der Prüfung der Anmeldung der Demonstration zu berücksichtigen und ggf. auch ein Verbot auszusprechen.

4. Welche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen gegen Beschränkungen der Versammlungsfreiheit?

D.2.4 Welche verfassungsrechtliche Bedenken bestehen gegen Beschränkungen der Versammlungsfreiheit?

Diese Regelungen sind in vielerlei Hinsicht verfassungsrechtlich bedenklich. Zunächst wurde vielfach kritisiert, dass die Regelungen im IfSG keine ausreichende Rechtsgrundlage für solch einschneidende Maßnahmen bieten – auch nicht nach den zu diesem Zwecke eingeführten Gesetzesänderungen vom 27. März 2020.

Das IfSG erlaubt zwar grundsätzlich Einschränkungen der Versammlungsfreiheit (§§ 28 Absatz 1 Satz 3, 32 IfSG). Ob das IfSG aber ausreichend klar regelt, was die wesentlichen Voraussetzungen für einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit sind, ist fraglich; wird den Behörden hier zu viel Spielraum gelassen, ist der Parlaments-Vorbehalt verletzt. Bedenklich sind auch die vielfachen und unübersichtlichen Verweise auf strafrechtliche Sanktionen im IfSG bis hin zu Gefängnisstrafen, denn Strafen müssen für die Bürger*innen klar vorhersehbar sein.

Darüber hinaus ist fraglich, ob die Beschränkungen verhältnismäßig sind. Dieses Erfordernis gilt für die Allgemeinverfügungen und die Rechtsverordnungen der Länder selbst, sowie für jede einzelne durch Behörden getroffene Maßnahme, soweit ihnen ein Ermessensspielraum eingeräumt ist. Jede Beschränkung der Versammlungsfreiheit muss einen zulässigen Zweck verfolgen, sie muss geeignet und erforderlich sein, um diesen Zweck zu erreichen, und sie darf nicht im Verhältnis zu diesem Zweck unangemessen sein.

Die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus dienen dazu, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen sowie die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu sichern; indirekt dienen sie damit auch dem Lebensschutz von Erkrankten, die auf eine Intensivbehandlung angewiesen sind. Auch wenn dies sehr wichtige Rechtsgüter sind, müssen sie sorgsam mit unserer Versammlungsfreiheit abgewogen werden. Das heißt, bevor Versammlungen als letztes Mittel verboten werden dürfen, muss geprüft werden, ob sie unter Auflagen oder Beschränkungen durchgeführt werden können. Mildere Mittel haben Vorrang. Auch in der aktuellen Situation sind zahlreiche Maßnahmen denkbar, die Infektionen mit dem Corona-Virus bei einer Versammlung drastisch minimieren können und damit gegen ein komplettes Verbot sprechen. Abstandhalten, Gesichtsmasken sowie die Begrenzung von Teilnehmer*innenzahlen gelten auch in den sonstigen Lebensbereichen als wirksame Mittel, um eine Infektion zu verhindern. Warum sollte sich dies nicht auf die Versammlungsfreiheit übertragen lassen?

5. Rechtsprechung und Entscheidungen: Wie gehen Gerichte und Behörden in

D.2.5 Rechtsprechung und Entscheidungen: Wie gehen Gerichte und Behörden in Zeiten von Corona mit Demonstrationen um?

Behörden und Gerichte gehen unterschiedlich mit den geltenden Bestimmungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie um, wenn es um Demonstrationen geht. Zum Teil wird und wurde – wenn auch stark eingeschränkt – noch wie geplant demonstriert. Zum Teil wurden Demonstrationen, für die umfassende Schutzvorkehrungen seitens der Veranstalter*innen zugesichert wurden (z.B. die Einhaltung eines Abstandes von 5–10 Metern zwischen den Teilnehmenden, Mundschutz, kein öffentlicher Aufruf) oder die sogar nur auf zwei Teilnehmer*innen begrenzt waren, gerichtlich verboten.

Beispielsweise fand eine Mahnwache von Atomkraftgegnern in Münster statt, weil sich Stadt und Organisator*innen auf einen Kompromiss einigten: Mundschutz, höchstens 15 Teilnehmer*innen und 1,5 m Abstand zwischen ihnen.

Das Verwaltungsgericht (VG) Hannover hielt am 27. März 2020 im Eilverfahren am Verbot einer Versammlung fest, die sich gegen das Versammlungsverbot aufgrund der Kontaktbeschränkungen richtete. Die Anmeldung sah 10–15 Teilnehmende vor, die einen Mindestabstand von zwei bis drei Metern einhalten würden. In seiner Begründung verwies das Gericht auf die Effektivität des Gefahrenabwehrrechts, einen weiten Ermessenspielraum der Behörden bei erheblichen Gefahren für Leib und Leben und die Notwendigkeit einer schnellen Unterbrechung der Infektionsketten. In der Folgenabwägung stellt das Gericht den Schutz von Leib und Leben klar über die Versammlungsfreiheit, ohne zu versuchen, diese zwei hochrangigen Verfassungsgüter in einen schonenden Ausgleich zu bringen (vgl. Martini/Plöse). Dabei fordert das Bundesverfassungsgericht gerade im Eilrechtsschutz gegen Versammlungsverbote eine besonders intensive Prüfung, da Verbote der schärfste Eingriff in die Versammlungsfreiheit sind (Brokdorf-Beschluss, Rn 96).

Auch das VG Dresden hielt in seiner Entscheidung vom 30. März 2020 eine Allgemeinverfügung, die die Versammlungsfreiheit einschränkt, für rechtmäßig. Das Konzept für die Demonstration „Gesundheit und Grundrechte für alle“ hatte vorgesehen, dass die Demonstrierenden Mundschutz tragen und den erforderlichen Abstand halten. Zwar kennt das Gericht an, dass es „gerade in Zeiten der Krise für die demokratische Gesellschaft unabdingbar sei, dem Einzelnen Möglichkeiten zur Teilhabe am politischen Diskurs zu eröffnen“. Es verweist jedoch auf „andere Möglichkeiten […], in den politischen Diskurs zu treten“, ohne dafür konkrete Beispiele zu nennen. Sollten damit digitale Protestformen gemeint sein, wirft dies ernste Fragen auf.

Das VG Neustadt verbot sogar eine Versammlung von zwei Personen, da sich hierdurch Menschenansammlungen bilden könnten. Das VG Berlin untersagte eine Kunstaktion mit dem Titel „Wir hinterlassen Spuren – #LeaveNoOneBehind“, bei der einzelne Personen vor dem Brandenburger Tor Schuhe abstellten, um auf die Situation der Geflüchteten in den griechischen Camps aufmerksam zu machen.

5.1. Argument 1: Digitaler Protest als Alternative

Argument 1: Digitaler Protest als Alternative

Bei allen Chancen, die die Digitalisierung für kreativen und innovativen Protest bietet: Aus verfassungsrechtlicher Sicht kann eine Verlagerung des zivilgesellschaftlichen Protests in den digitalen Raum ein Verbot physischer Protestformen nicht rechtfertigen.

Zunächst ist zweifelhaft, ob digitale Protestformen unter die im Grundgesetz geschützte Versammlungsfreiheit fallen. Auf eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion DIE LINKE von 2012 im Zusammenhang mit Hausdurchsuchungen bei Jugendlichen, die virtuell gegen die GEMA protestierten, vertrat die Bundesregierung den Standpunkt, dass virtuelle Demonstrationen nicht von Artikel 8 des Grundgesetzes geschützt sind.

Außerdem, und das ist hier entscheidend, betont das Bundesverfassungsgericht stets, dass gerade die Möglichkeit, im öffentlichem Raum Aufmerksamkeit zu erzielen, ein wichtiger Teil der kollektiven Meinungsbildung ist und damit ebenfalls ein konstituierendes Element der demokratischen Staatsordnung (vgl. BVerfGE 128, 226 – Fraport, Rn 70).

5.2. Argument 2: Keine Kontrolle über Menschenansammlungen

Argument 2: Keine Kontrolle über Menschenansammlungen

Das VG Dresden argumentierte darüber hinaus, dass die Einhaltung der vorgesehenen Schutzmaßnahmen außerhalb des Einflussbereichs des Versammlungsleiters stände. In diese Richtung argumentiert auch das VG Neustadt, das eine Zwei-Personen-Demo untersagte: Es gebe keine ausreichende Gewähr dafür, dass es durch Gegendemonstrationen nicht doch zu Menschenansammlungen käme.

Dieses Argument überzeugt nicht. Versammlungsleiter*innen können auch sonst die Einhaltung von Auflagen nicht mit Zwang durchsetzen. Vor allem aber wird hier der Schutzauftrag des Staates verkannt, der sich aus der Versammlungsfreiheit ergibt. Dieser Schutzauftrag umfasst das Recht auf staatliche Unterstützung bei der Durchführung von Versammlungen, und zwar so, dass der Versammlungsfreiheit zur größtmöglichen Wirkung verholfen wird.

Daher ist es grundsätzlich Aufgabe des Staates, gegen Dritte oder einzelne Versammlungsteilnehmer*innen vorzugehen, wenn diese die Durchführung der Versammlung gefährden – und nicht die Versammlung zu verbieten oder aufzulösen. So dürfen Nazi-Aufmärsche nur im Extremfall wegen der zu erwartenden Proteste und Gegendemonstrationen verboten werden. Aufgabe des Staates ist es auch, ein Sicherheitskonzept ggf. in Kooperation mit den Versammlungsleiter*innen zu erstellen, wenn beispielsweise Ausschreitungen zu erwarten sind (vgl. Brokdorf-Beschluss, Rn. 94; BVerfG-Beschluss zum Sternmarsch auf Heiligendamm, Rn. 35). Diese Grundsätze gelten ebenso für Gefahren durch ein Virus.

Dies übersieht auch das VG Berlin, das keine Ausnahme vom Berliner Versammlungsverbot für die Aktion „LeaveNoOneBehind“ vor dem Brandenburger Tor ermöglichte (Entscheidung noch nicht öffentlich, Bericht hier). Die Polizei ging daher auch gegen Personen vor, die im Vorbeigehen ein Paar Schuhe abstellten.

Die Berliner Entscheidung ist bemerkenswert, weil in Berlin für Versammlungen von bis zu 20 Teilnehmer*innen Ausnahmen vom Kontaktverbot gewährt werden können. Bei der besagten Demonstration sollten nur 14 Personen permanent am Versammlungsort anwesend sein, was acht Personen überwachen sollten. Trotzdem argumentierte das VG Berlin, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass die Höchstgrenze eingehalten werde. Zudem seien auch die Personen, die darauf warten, an der zu der Versammlung gehörenden Kunstaktion teilzunehmen, bereits als Teilnehmer*innen der Versammlung zu sehen.

Wenn die Einhaltung von Höchstgrenzen aber auch bei Anwesenheit von dafür zuständigen Ordner*innen als nicht ausreichend gewährleistet angesehen wird, ist fraglich, wann diese Ausnahmeregelung je zur Anwendung kommen soll.

5.3. Argument 3: Mangelnde Außenwirkung

Argument 3: Mangelnde Außenwirkung

Das VG Dresden sowie das VG Berlin bemerken zudem, dass die jeweiligen Demonstrationen aufgrund der Schutzvorkehrungen ohnehin Außenwirkung einbüßen würden oder in ihrem Wesen verändert wären.

Ob die Demonstration in ihrer gewählten Form die gewünschten Zwecke erreicht, muss jedoch den Demonstrierenden überlassen werden (vgl. Brokdorf-Beschluss, Rn. 62, 85). In den letzten Wochen sind viele neue Protestideen entstanden. Es ist nicht Aufgabe des Staates, diese Ideen bezogen auf ihre Durchschlagskraft zu bewerten.

5.4. Argument 4: Nur kurze Beschränkungen

Argument 4: Nur kurze Beschränkungen

Für die Rechtmäßigkeit von Versammlungsverboten sprach für die Gerichte bisher weiterhin die kurzen Zeitspanne, während der die Beschränkungen gelten würden. Hier sollte allerdings nicht vergessen werden, dass gerade jetzt – also in Zeiten massiver Grundrechtsbeschränkungen – der Zivilgesellschaft ihr Recht auf Protest nicht genommen werden darf. Der Verweis auf eine leidglich temporäre Aussetzung der Versammlungsfreiheit übersieht, dass jeder Fall eines Verbotes eine bestimmte Versammlung zu einer bestimmten Zeit abzuhalten die Versammlungsfreiheit für die Grundrechtsräger*innen vollständig entwertet – insbesondere dann, wenn es auf den Zeitpunkt entscheidend ankommt (vgl. Brokdorf-Beschluss; BVerfG-Beschluss zum G20-Protestcamp, Rn. 29). Besonders deutlich wird das bei Versammlungen, die sich gegen die aktuellen Pandemieschutz-Maßnahmen richten.

6. Fazit: Demokratie braucht Versammlungsfreiheit – generelle Demonstrationsverbote sind verfassungswidrig

D.2.6 Fazit: Demokratie braucht Versammlungsfreiheit – generelle Demonstrationsverbote sind verfassungswidrig

Die Versammlungsfreiheit ist ein konstituierendes Element für den demokratischen Staat und die Grundlage dafür, dass sich die Zivilgesellschaft an der politischen Meinungs- und Willensbildung beteiligen kann. Gerade in Zeiten massiver Grundrechtsbeschränkungen mit unabsehbaren Folgen darf der Zivilgesellschaft das Recht auf Meinungskundgabe und Protest nicht einfach durch generelle Demonstrationsverbote genommen werden.

Bei Demonstrationen darf die Einhaltung der Kontaktbeschränkungen nicht allein auf Versammlungsleiter*innen abgewälzt werden. Hier trifft den Staat eine Gewährleistungspflicht. Er muss dafür Sorge tragen, dass eine Versammlung nach Möglichkeit ungestört ablaufen kann. Ebenso ist ein Verweis auf einen späteren Zeitpunkt oder auf den digitalen Raum kritisch zu sehen: Das droht die Versammlungsfreiheit, insbesondere das in ihr enthaltene Recht auf Selbstbestimmung, auszuhöhlen. Ein Verweis auf „Alternativen“ kommt also letztlich einem Verbot gleich.

Hingegen steht es dem Staat nicht zu, über die Wirksamkeit einer geplanten Versammlung zu urteilen. Spätestens seit Greta Thunberg die Fridays for Future-Demonstrationen initiierte, muss klar sein, dass auch eine Ein-Personen-Demonstration weltweite Veränderungen anstoßen kann.

Die Bundesländer, deren Corona-Maßnahmen kaum Raum für die Verwirklichung der Versammlungsfreiheit lassen, sind daher aufgefordert, Möglichkeiten für Ausnahmen zu schaffen. Solche Ausnahmeregelungen sind dann im Lichte der wesentlichen Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Demokratie und den Rechtsstaat auszulegen. Es muss also in jedem Einzelfall eine Verhältnisprüfung durchgeführt werden und die Versammlung erlaubt werden, wenn das Infektionsrisiko durch Schutzmaßnahmen minimiert werden kann. Letzteres wäre wohl insbesondere der Fall, wenn sich die Versammlung im Rahmen der allgemeinen Kontaktbeschränkungen hält oder darüber hinaus geht – etwa durch Mundschutz-Tragen, weiten Mindestabstand oder Verzicht auf Flugblätterverteilung und öffentlichen Aufruf.

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