Kostenfreie Petitionen auf dem Prüfstand: demokratische Teilhabe in Gefahr
Der Petitionsplattform innn.it wurde die Gemeinnützigkeit entzogen. Nach der Wiederanerkennung vor dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg legte das Finanzamt Revision ein. Gemeinsam mit Campact und als Teil der Allianz „Rechtssicherheit für politische Willensbildung“ haben wir innn.it unterstützt.
Demokratische Teilhabe in Gefahr
Im Februar 2021 erkannte das Berliner Finanzamt innn.it (ehemals change.org) die Gemeinnützigkeit ab. Laut Behörde dürfte sich die Online-Plattform mit Petitionen nur an staatliche Akteur*innen richten, um dem gemeinnützigen Zweck „allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens“ aus der Abgabenordnung zu dienen. Diese Auslegung geht auf eine länderübergreifende Einigung der Finanzverwaltung zurück, die nach unserer Auffassung weder durch das Gemeinnützigkeitsrecht noch das Grundgesetz gestützt werden kann. Petitionen an nicht staatliche Akteur*innen wie Großkonzerne von Nestlé oder VW seien damit nur gegen Gebühren erlaubt oder müssten gelöscht werden. Durch die Aufspaltung in staatliche und nicht staatliche Akteur*innen wird ein gefährliches Demokratieverständnis gefördert, dass gemeinnützige Petitionsplattformen in ihren Grundfesten angreift. Ihre Aufgabe ist es die demokratische Wahrnehmungsfähigkeit und die politische Wirksamkeit der Bürger*innen zu stärken. Das ist mit dieser restriktiven Vorgehensweise des Finanzamts nicht möglich. Als Teil der Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung gehen wir mit innn.it dagegen vor, um die Gemeinnützigkeit der Petitionsplattformen zu schützen.
Im März 2021 haben wir bereits in einer umfangreichen Stellungnahme dargelegt, warum die Aberkennung der Gemeinnützigkeit von politisch agierenden Akteur*innen der Zivilgesellschaft eine große Gefahr für die Demokratie darstellt.
Revision vor dem Bundesfinanzhof
Im Dezember 2023 legte das Finanzamt Revision gegen die Entscheidung des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg ein. Das Gericht hatte im November 2023 innn.it Recht gegeben: Es braucht ein weites Verständnis der Norm, das auch Kritik an Konzernen umfasst. Der Entscheidung zufolge seien Vereine als gemeinnützig anzuerkennen, wenn sie die Ausübung von Grundrechten und die allgemeine demokratische Teilhabe fördern. In der Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung sind wir mit innn.it, vertreten durch die Kanzlei Schomerus, in der Revisionsverhandlung vor dem Bundesfinanzhof (BFH) für die Anerkennung der Gemeinnützigkeit eingetreten.
Einengung des Zwecks durch Bundesfinanzhof
Mit Urteil vom 12. Dezember 2024 (Az. V R 28/23) hat der BFH das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg aufgehoben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen. In seiner Entscheidung hat der BFH den gemeinnützigen Zweck der „allgemeinen Förderung des demokratischen Staatswesens“ deutlich enger gefasst als die Vorinstanz und schränkt damit zivilgesellschaftliches Engagement weiter ein.
Dem Gericht zufolge seien Petitionen an nichtstaatliche Akteure zwar nicht per se unzulässig. Eine Online-Plattform darf aber nur solche Petitionen fördern, die einen Bezug zur Ausübung staatlicher Gewalt haben - es muss also um Themen gehen, die im Parlament behandelt werden können. Die bloße Förderung der Ausübung von Grundrechten wie der Meinungsfreiheit sei nicht vom Zweck erfasst. Deshalb fielen Petitionen heraus, die ausschließlich private Streitigkeiten betreffen, etwa die Kündigung eines Mietvertrags zwischen Privatpersonen oder einen Boykottaufruf gegen ein Unternehmen. Schließlich müssten alle Anliegen parteipolitisch neutral und ohne inhaltliche Wertung unterstützt werden.
Verzicht auf Gemeinnützigkeit
In Folge dieser Entscheidung hat innn.it am 18. Juni 2025 beschlossen, das Rechtsverfahren nicht mehr weiterzuführen und auf die Gemeinnützigkeit zu verzichten. Sie sehen ihre Tätigkeit durch die Rechtsprechung des BFH zu stark eingeschränkt und verzichten daher bewusst auf die steuerlichen Vorteile, um mehr Spielraum für ihr demokratisches Engagement zu haben.
Attac-Urteil sorgt für Unsicherheit im Gemeinnützigkeitsrecht
Der Bundesfinanzhof (BFH) sprach bereits 2019 der globalisierungskritischen Organisation Attac die Gemeinnützigkeit ab. Der BFH hat dies damit gründet, dass Attac sich zu allgemeinpolitisch betätigen und damit politische Zwecke verfolgen würde, die nicht vom Gemeinnützigkeitsrecht gedeckt seien. Damit hat das Gericht insbesondere die politischen Handlungsmöglichkeiten von Vereinen stark eingeengt, die politische Bildung betreiben. Mit der Anforderung, dass politische Bildungsarbeit „geistig offen“ sein muss, gibt der BFH den Finanzämtern einen sehr unbestimmten Maßstab an die Hand. Das wiederum führt zu teilweise sehr restriktiven Auslegungen, wie unser Verfahren mit dem Demokratischen Zentrum Ludwigsburg (DemoZ) zeigt. Die Entscheidung des BFH hat die Unsicherheiten in der Zivilgesellschaft verstärkt, in welchem Ausmaß Vereine sich politisch betätigen dürfen, ohne ihre Gemeinnützigkeit zu verlieren.
Für eine handlungsfähige Zivilgesellschaft
Unsere Unterstützung im Fall innn.it reiht sich in die Arbeit zur Stärkung der Handlungsspielräume von gemeinnützigen Vereinen ein. Wir bedauern die einschränkende Entscheidung des Bundesfinanzhofs und ihre Folgen für zivilgesellschaftliches Engagement. Unser Einsatz für eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts, das dem zivilgesellschaftlichen Engagement für Demokratie ausreichend Rechnung trägt, geht weiter. Bereits im August 2021 haben wir einen Gesetzentwurf für ein Demokratiestärkungsgesetz vorgelegt, damit die Bundesregierung das veraltete Gemeinnützigkeitsrecht modernisiert. Während eine Reform auf sich warten lässt, stehen wir mit einem umfassenden Informationsangebot aus „How to Zivilgesellschaft“ politisch engagierten Vereinen zur Seite, um ihre Gemeinnützigkeit zu schützen.
