FÜR EIN SELBSTBESTIMMTES LIEBESLEBEN NACH KARLSRUHE
Gemeinsam mit Anastasia Biefang sind wir für das Recht auf ein selbstbestimmtes Liebesleben Staatsbediensteter vor das Bundesverfassungsgericht gezogen.
Dürfen Staatsbedienstete – auch in hochrangigen Führungspositionen – Dating-Plattformen nutzen und offen nach Sex suchen? An dieser Frage entzündet sich der Fall von Anastasia Biefang. Die hochrangige Bundeswehroffizierin lebt mit ihrer Ehefrau in einer offenen Beziehung. Auf der Suche nach Sexualpartner*innen nutzte Biefang die Dating-App Tinder. 2019 wurde ein rechtswidrig erstellter Screenshot ihres Tinder-Profils ihrem Vorgesetzten zugespielt.
Daraufhin wurden Ermittlungen gegen sie angestrengt und ihr Vorgesetzter wollte Biefang – damals Bataillionskommandeurin – sogar von ihrem Posten ablösen. Denn der Vorwurf stand im Raum, dass ihr Tinder-Profil das Ansehen der Bundeswehr beschädigen und ihre eigene Autorität als Führungsperson untergrabe. Ihr Arbeitgeber erteilte ihr schließlich einen disziplinarischen Verweis. Dagegen wehrt sich Biefang – zunächst vor dem Truppendienstgericht und schließlich auch gerichtlich bis zum Bundesverwaltungsgericht.
Privatleben auch für Staatsbedienstete grundrechtlich geschützt
Der 2. Wehrdienstsenat des Bundesverwaltungsgerichts hatte die Rüge der Bundeswehr im Mai bestätigt und im September begründet: Biefang dürfe Dating-Plattformen zwar verwenden, so das Gericht. Dabei müsse sie aber „missverständliche Überspitzungen“ und den Eindruck „sexueller Disziplinlosigkeit“ vermeiden. Insbesondere der Hinweis „all genders welcome“, also dass Anastasia Biefang sich zu Menschen aller Geschlechter hingezogen fühle, könne hingegen den Anschein „sexueller Wahllosigkeit“ und „sexueller Disziplinlosigkeit“ erwecken. So könne ein unbedarfter Dritter beim ersten, flüchtigen Lesen glauben, dass sie ihren Sexualtrieb ungehemmt ausleben wolle.
Dieser Vorwurf schränkt die Offizierin klar in der Ausübung ihres Grundrechts auf sexuelle Selbstbestimmung ein. Solche Grundrechtseingriffe in diesen wesentlichen Teil des Privatlebens sind nur dann verfassungskonform, wenn es ausreichend tragfähige Rechtfertigungsgründe gibt – wenn z.B. jemand zu Schaden kommen könnte. Dieser Umstand ist jedoch weder erkennbar noch vorgebracht. Die GFF bewertet den Verweis der Bundeswehr und die Entscheidung des BVerwG als klar verfassungswidrig. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gilt auch für Staatsbedienstete. Das Diskriminierungsverbot verbietet es zudem, ihre sexuelle Orientierung als „sexuelle Wahllosigkeit“ auszulegen und ihr dahingehendes Stillschweigen aufzuerlegen. Die Meinungsfreiheit schützt zudem auch Profiltexte auf Tinder und verbietet es staatlichen Stellen, Äußerungen zu verzerren oder in nachteiliger Weise zu interpretieren. Sie dürfen Beamt*innen keine Vorschriften dazu machen, mit welchen Worten sie in ihrem Privatleben sexuelle Orientierung und Beziehungsform leben und ihre Haltung hierzu ausdrücken. Auch dürfen bestimmte Beziehungsformen wie die offene Beziehung nicht benachteiligt und abgewertet werden.
Die Freiheit darf nicht von einem imaginären Dritten abhängen
Nachdem das Bundesverwaltungsgericht der Offizierin zunächst in ihrer eigenen Pressemitteilung vom Mai aufgrund ihres Dating-Profils „fehlende charakterliche Integrität“ nachgesagt hatte, verlagert es die Vorwürfe in seinen Entscheidungsgründen nun auf imaginäre Dritte. So könnten ihre Untergebene wegen ihres Dating- Profils die notwendige Achtung und das notwendige Vertrauen in sie als Vorgesetzte verlieren. Insbesondere könnten sie vermuten, dass Biefang wegen ihres eigenen Sexuallebens Vorwürfen von sexueller Belästigung innerhalb der Bundeswehr nicht ausreichend nachgeht.
Dass das Dating-Profil einen Imageschaden für die Bundeswehr nach sich ziehen könnte, lehnt selbst das Bundesverwaltungsgericht ab.
Die Figur des imaginären Dritten sieht die GFF besonders kritisch. Es darf nicht sein, dass Grundrechte prophylaktisch eingeschränkt werden, um unbedarfte Dritte zu schützen. „Die Richter*innen befürchten, dass unbeteiligte, gedankenlose Dritte ein hemmungsloses Sexualleben bei Frau Biefang vermuten könnten. Ihre Freiheit von den Mutmaßungen imaginärer Dritter abhängig zu machen, verkehrt den Schutz von Grundrechten ins Gegenteil“, sagt Verfahrenskoordinatorin Lea Beckmann. Im Übrigen ist die Unterstellung, dass Biefangs einvernehmliches und legales Sexualleben sie davon abhalte, Vorwürfe von sexueller Belästigung aufzuklären, unhaltbar. Zwischen beiden Sachverhalten besteht keinerlei Zusammenhang. Um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu stärken und damit die Figur des schutzwürdigen Dritten als Freiheitsmaßstab keine Schule macht, ziehen wir gemeinsam mit Anastasia Biefang vor das Bundesverfassungsgericht um ein Grundsatzurteil zu erstreiten.
Zeit für ein Urteil aus
Karlsruhe
Denn die Folgen der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts sind gravierend für viele Menschen: sie erlaubt nicht nur einem (in diesem Fall staatlichen) Arbeitgeber, das private Ausleben der gewählten Beziehungsmodelle und der eigenen Sexualität einzuschränken und mit der beruflichen Autorität in Zusammenhang zu stellen. Die im Mai veröffentlichte Pressemitteilung sowie die Entscheidungsgründe vom 14. September lesen sich wie ein gesellschaftspolitischer Schritt zurück in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts: Die gerichtliche Argumentation ist getragen von einer Sexualmoral, die ganz besonders Frauen und queere Menschen beschränkt.
Das Verfahren läuft unter dem Aktenzeichen: 2 BvR 110/23