
Asylsuchende leben in Deutschland häufig unter menschenunwürdigen Bedingungen: Sie müssen in Sammelunterkünften in Mehrbettzimmern leben, dürfen nicht arbeiten und erhalten deutlich weniger Sozialleistungen als Hartz-IV-Empfänger*innen. Der Gesetzgeber hat diese Differenz nicht plausibel begründet und verletzt damit die verfassungsrechtlichen Anforderungen an das menschenwürdige Existenzminimum.
Diese Rechtsverletzung wollen wir vor das Bundesverfassungsgericht bringen – mit der Hilfe von Richter*innen und Anwält*innen, die in ihrer täglichen Arbeit mit den verfassungswidrigen Regelungen konfrontiert sind. Wir haben ein Muster für eine Richtervorlage erstellt, das Richter*innen und Anwält*innen nutzen können, um die verfassungswidrigen Regelsätze im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zügig vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen.
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Kein gemeinsames Wirtschaften in Sammelunterkünften
Alleinstehende, die in Sammelunterkünften leben, erhalten seit September 2019 den Regelbedarfssatz 2 und damit zehn Prozent weniger Sozialleistungen als andere Leistungsberechtigte. Der Gesetzgeber begründet dies damit, dass von den Bewohner*innen einer Sammelunterkunft erwartet werden könne, dass sie „aus einem Topf“ wirtschaften und damit die gleichen Einspareffekte erzielen wie Eheleute. Die Betroffenen würden „der Sache nach eine Schicksalsgemeinschaft“ bilden.
Diese gesetzgeberischen Vorstellungen haben mit der Realität in Geflüchtetenunterkünften wenig zu tun. Die Bewohner*innen einer Sammelunterkunft haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, mit anderen Personen zusammenzuleben, sondern sind dazu gesetzlich verpflichtet. Die Fluktuation in den Einrichtungen ist riesig, hinzu kommen Sprachbarrieren und unterschiedliche kulturelle und religiöse Hintergründe. Es ist unter diesen Umständen überaus unwahrscheinlich, dass ein für gemeinsames Wirtschaften erforderliches Näheverhältnis entsteht.
Und selbst wenn sie wollten, könnten Bewohner*innen in Sammelunterkünften nicht die gleichen Einspareffekte erzielen wie Eheleute. Das größte Einsparpotenzial liegt in größeren gemeinsamen Anschaffungen wie Inneneinrichtung und Hausrat, die im Regelbedarf für Geflüchtete nicht enthalten sind.
Kein abweichender Bedarf in den ersten 18 Monaten
Die Grundleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz sind ohnehin schon deutlich niedriger als die Sozialhilfe bzw. der Hartz-IV-Satz nach Sozialgesetzbuch II und XII. Der Gesetzgeber begründet dies damit, dass Schutzsuchende in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts weniger Geld brauchen. Der Gesetzgeber streicht Schutzsuchenden daher in den ersten 18 Monaten bestimmte Ausgaben, zum Beispiel für Computer, Fernseher, Lernprogramme, Sprachkurse und Hobbykurse. Dies steht nicht nur im Widerspruch zu dem gesellschaftlichen Wunsch einer zügigen Integration von Geflüchteten. Es verletzt auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein einheitliches soziokulturelles Existenzminimum, das neben Nahrung, Kleidung und Unterkunft auch Bildung umfasst – und für alle Menschen gleich ist.
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Das Grundgesetz gewährt allen Menschen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben – unabhängig von ihrem Einkommen, ihrer Herkunft und ihrem Aufenthaltsstatus. Aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz, also der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, hat das Bundesverfassungsgericht 2010 das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet.
Die Höhe der Leistungen muss der Gesetzgeber nachvollziehbar und sachlich differenziert begründen. Politisch begründete Leistungskürzungen, beispielsweise um Schutzsuchende abzuschrecken, sind nicht zulässig. Diesen Anforderungen genügen die Leistungen im Asylbewerberleistungsgesetz nicht. Der Gesetzgeber hat nicht nachvollziehbar begründet, warum Asylsuchende in Sammelunterkünften einen niedrigeren Bedarf haben als andere Leistungsempfänger*innen.
Das Instrument der Richtervorlage
Viele Sozialgerichte haben im Eilverfahren bereits Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gekürzten Leistungen in Sammelunterkünften geäußert. Die GFF gibt Sozialrichter*innen und Anwält*innen mit ihrem Muster für eine Richtervorlage nun ausführliche Argumente an die Hand, um die Regelungen im Hauptsacheverfahren zügig dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen.
Das Instrument der Mustervorlage ist bereits in anderem Kontext erprobt. Die Richtervorlage des Sozialgerichts Gotha, die im November 2019 zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen führte, beruhte auf einem Muster der Bürgerinitiative Grundeinkommen. Das Bundesverfassungsgericht wies in dieser Entscheidung explizit darauf hin, dass es kein Problem sei, dass sich „das Gericht offensichtlich an einem öffentlich verfügbaren Muster orientierte […], da die Vorlage zeigt, dass sich das Gericht eventuell andernorts formulierte Argumente jedenfalls zu eigen gemacht hat“ (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, Rn. 112, juris).
Wir danken David Werdermann für die Unterstützung bei der Erstellung unserer Mustervorlage.
Richtervorlage
Pressemitteilungen
- 30. September 2020 – Deutschland verwehrt Asylsuchenden Existenzminimum
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