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GFF bringt gekürzte Sozialleistungen in Geflüchteten-Unterkünften vor Bundesverfassungsgericht

Normenkontrollantrag des Sozialgerichts Düsseldorf

Düsseldorf, 19. April 2021 – Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat das Sozialgericht Düsseldorf auf Grundlage einer von der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) veröffentlichten Vorlage dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob die gekürzten Sozialleistungen in Geflüchteten-Unterkünften mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Seit 2019 erhalten Alleinstehende in Sammelunterkünften um 10 Prozent gekürzte Sozialleistungen. „Die Regierung verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums – und das bei Menschen, die ohnehin schon in einer sehr verletzlichen Situation sind“, sagt Sarah Lincoln, Juristin bei der GFF. „Wir freuen uns, dass nun die erste Richterin unsere Vorlage aufgegriffen und die Leistungskürzungen vor das Bundesverfassungsgericht gebracht hat.“

Alleinstehende Asylsuchende in Sammelunterkünften erhielten auch vor der Leistungskürzung im September 2019 Sozialleistungen unter dem Hartz IV-Regelsatz. Die weiteren Kürzungen stützt der Gesetzgeber auf die Vorstellung, dass die Betroffenen wie Eheleute leben. Sie sollen Ausgaben sparen, indem sie gemeinsam einkaufen, kochen und Haushaltsgegenstände teilen. „Das Bild des ‚Ehepaares‘, das aus einem Topf wirtschaftet, geht völlig an der Realität in den Unterkünften vorbei“, sagt Lincoln. „Die Bewohner*innen sind sich in der Regel fremd – wegen erheblicher Sprachbarrieren und der hohen Fluktuation in den Einrichtungen.“ Asylsuchende leben zudem nicht freiwillig in Sammeleinrichtungen mit anderen Personen zusammen, sondern sind dazu gesetzlich verpflichtet. Das Einzige, was die Bewohner*innen verbindet, ist die Tatsache, dass sie in Deutschland Zuflucht suchen. Einspareffekte durch gemeinsames Wirtschaften sind unter diesen Umständen überaus unwahrscheinlich.

In dem Verfahren, das nun dem Bundesverfassungsgericht vorliegt, klagte Kamalraj G., ein Geflüchteter aus Sri Lanka, gegen die niedrigen Sozialleistungen. Er lebt seit 2014 in einer Unterkunft in der Nähe von Düsseldorf. Dort teilt er sich sein Schlafzimmer mit einem Bewohner und Küche und Bad mit sieben weiteren Bewohnern. „Ich bin stolz, dass meine Klage nun zum Verfassungsgericht geht. Damit kann ich vielen Geflüchteten helfen, denen es so geht wie mir. Von den 330 Euro, die ich monatlich vom Sozialamt bekomme, muss ich alles bezahlen: Essen, Kleidung, Fahrkarten, den Anwalt im Asylverfahren. Das reicht einfach nicht“, sagt Kamalraj G. „Mit meinen Mitbewohnern kann ich nicht gemeinsam kochen. Wir haben ganz andere Essgewohnheiten. Aber selbst wenn, würde ich dadurch nichts sparen. Wenn ich für vier Menschen Reis koche, brauche ich auch viermal so viel Reis“.

Die gekürzten Grundleistungen in Geflüchteten-Unterkünften werden den Anforderungen nicht gerecht, die das Bundesverfassungsgericht an Sozialleistungen stellt. Das Grundgesetz gewährt allen Menschen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben – unabhängig von ihrem Einkommen, ihrer Herkunft und ihrem Aufenthaltsstatus. Aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip hat das Bundesverfassungsgericht 2010 das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet. Das Gericht hat mehrfach betont, dass der Gesetzgeber die Höhe von Sozialleistungen nachvollziehbar und sachlich differenziert begründen muss. „Es ist nicht plausibel, dass Asylsuchende in Sammelunterkünften einen niedrigeren Bedarf haben sollen als andere Leistungsempfänger*innen“, sagt Lincoln. „Der Gesetzgeber darf keine Gruppe als Menschen zweiter Klasse behandeln.“

Die GFF hatte im September 2020 Mustervorlagen zur Verfassungswidrigkeit der Grundleistungen in Sammelunterkünften veröffentlicht. Die 17. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf hat nun eine dieser Vorlage aufgegriffen und dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Die Entwicklung der Vorlage angeregt hat das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen von November 2019, das auf eine Mustervorlage der Bürgerinitiative Grundeinkommen zurückging.

Weitere Informationen zur Verfassungswidrigkeit der Grundleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz finden Sie hier.

Weitere O-Töne des Klägers Kamalraj G. finden Sie hier.

Das Muster für eine Richtervorlage sowie Begleitdokumente finden Sie hier.

Für Rückfragen wenden Sie sich an:
Sarah Lincoln, Juristin & Verfahrenskoordinatorin, sarah.lincoln@freiheitsrechte.org, PGP Key ID EEE13AE6, Tel. 0176/488 784 11
Daniela Turß, Pressereferentin, presse@freiheitsrechte.org, PGP Key ID DDE339D8, Tel. 030/549 08 10 55 oder 0175/610 2896

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