Menschenwürdiges Existenzminimum in Geflüchteten-Unterkünften
Mit unserer Mustervorlage haben wir die verfassungswidrigen Sozialleistungen im Asylbewerberleistungsgesetz vor das Bundesverfassungsgericht gebracht. Mit Beschluss vom 19. Oktober 2022 hat das Bundesverfassungsgericht die gekürzten Sozialleistungen in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt.
Die GFF hat verschiedene ausführliche Vorlage zur Verfügung gestellt, die Richter*innen und Anwält*innen nutzen können, um die verfassungswidrigen Regelsätze im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zügig dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Als erstes Gericht nutze das Sozialgericht Düsseldorf unsere Vorlage und legte im April 2021 die Frage vor, ob die gekürzten Sozialleistungen in Geflüchteten-Unterkünften mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Alleinstehende, die in Sammelunterkünften leben, erhalten seit September 2019 den Regelbedarfssatz 2 und damit zehn Prozent weniger Sozialleistungen als andere Leistungsberechtigte. Der Gesetzgeber begründet dies damit, dass von den Bewohner*innen einer Sammelunterkunft erwartet werden könne, dass sie „aus einem Topf“ wirtschaften und damit die gleichen Einspareffekte erzielen wie Eheleute.
Der Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Düsseldorf
Das Sozialgericht Düsseldorf hat am 13. April 2021 auf Grundlage unserer Mustervorlage dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt, ob § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums und dem Gleichbehandlungsgebot vereinbar ist. § 2 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG ist auf Leistungsberechtigte in Sammelunterkünften anwendbar, die schon länger als 18 Monate in Deutschland leben. Auch sie erhalten die gekürzten Sozialleistungen. In dem Verfahren, das nun dem Bundesverfassungsgericht vorliegt, klagte Kamalraj G., ein Geflüchteter aus Sri Lanka, gegen die niedrigen Sozialleistungen. Er lebt seit 2014 in einer Unterkunft in der Nähe von Düsseldorf. Dort teilt er sich sein Schlafzimmer mit einem Bewohner und Küche und Bad mit sieben weiteren Bewohnern. Ein gemeinsames Wirtschaften aus einem Topf findet dort aufgrund unterschiedlicher Sprachen, Kulturen und Essgewohnheiten nicht statt.
Kein gemeinsames Wirtschaften in Sammelunterkünften
Alleinstehende, die in Sammelunterkünften leben, erhalten zehn Prozent weniger Sozialleistungen. Die Bewohner*innen einer Sammelunterkunft bilden nach Ansicht des Gesetzgebers „eine Schicksalsgemeinschaft“. Sie sollen daher wie Eheleute „aus einem Topf“ wirtschaften und damit Einspareffekte erzielen.
Diese gesetzgeberischen Vorstellungen haben mit der Realität in Geflüchtetenunterkünften wenig zu tun. Die Bewohner*innen einer Sammelunterkunft haben sich nicht freiwillig dazu entschieden, mit anderen Personen zusammenzuleben, sondern sind dazu gesetzlich verpflichtet. Die Fluktuation in den Einrichtungen ist riesig, hinzu kommen Sprachbarrieren und unterschiedliche kulturelle und religiöse Hintergründe. Es ist unter diesen Umständen überaus unwahrscheinlich, dass ein für gemeinsames Wirtschaften erforderliches Näheverhältnis entsteht.
Und selbst wenn sie wollten, könnten Bewohner*innen in Sammelunterkünften nicht die gleichen Einspareffekte erzielen wie Eheleute. Das größte Einsparpotenzial liegt in größeren gemeinsamen Anschaffungen wie Inneneinrichtung und Hausrat, die im Regelbedarf für Geflüchtete nicht enthalten sind.
Kein abweichender Bedarf in den ersten 18 Monaten
In den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts sind die Sozialleistungen für Schutzsuchende noch niedriger und liegen deutlich unter der Sozialhilfe bzw. dem Hartz-IV-Satz nach Sozialgesetzbuch II und XII. Der Gesetzgeber begründet dies damit, dass Schutzsuchende in den ersten 18 Monaten ihres Aufenthalts weniger Geld brauchen. Der Gesetzgeber streicht Schutzsuchenden daher in dieser Zeit bestimmte Ausgaben, zum Beispiel für Computer, Fernseher, Lernprogramme, Sprachkurse und Hobbykurse. Dies steht nicht nur im Widerspruch zu dem gesellschaftlichen Wunsch einer zügigen Integration von Geflüchteten. Es verletzt auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an ein einheitliches soziokulturelles Existenzminimum, das neben Nahrung, Kleidung und Unterkunft auch Bildung umfasst – und für alle Menschen gleich ist. Diese Kürzung können Richter*innen und Anwält*innen mit der Mustervariante 1 vor das Bundesverfassungsgericht bringen.
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
Das Grundgesetz gewährt allen Menschen das Recht auf ein menschenwürdiges Leben – unabhängig von ihrem Einkommen, ihrer Herkunft und ihrem Aufenthaltsstatus. Aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz, also der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip, hat das Bundesverfassungsgericht 2010 das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums abgeleitet.
Die Höhe der Leistungen muss der Gesetzgeber nachvollziehbar und sachlich differenziert begründen. Politisch begründete Leistungskürzungen, beispielsweise um Schutzsuchende abzuschrecken, sind nicht zulässig. Diesen Anforderungen genügen die Leistungen im Asylbewerberleistungsgesetz nicht. Der Gesetzgeber hat nicht nachvollziehbar begründet, warum Asylsuchende in Sammelunterkünften einen niedrigeren Bedarf haben als andere Leistungsempfänger*innen.
Das Instrument der Richtervorlage
Viele Sozialgerichte haben im Eilverfahren bereits Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gekürzten Leistungen in Sammelunterkünften geäußert. Die GFF gibt Sozialrichter*innen und Anwält*innen mit ihrem Muster für eine Richtervorlage nun ausführliche Argumente an die Hand, um die Regelungen im Hauptsacheverfahren zügig dem Bundesverfassungsgericht vorzulegen. Wir freuen uns, dass die erste Richterin unsere Vorlage bereits aufgegriffen und die Leistungskürzungen in § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 AsylbLG vor das Bundesverfassungsgericht gebracht hat. Wir hoffen, dass weitere Richter*innen diesem Beispiel folgen und nun auch § 3a Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 Buchstabe b, Abs. 2 Nr. 1, Nr. 2 Buchstabe b AsylbLG dem Bundesverfassungsgericht vorlegen.
Das Instrument der Mustervorlage ist bereits in anderem Kontext erprobt. Die Richtervorlage des Sozialgerichts Gotha, die im November 2019 zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Hartz-IV-Sanktionen führte, beruhte auf einem Muster der Bürgerinitiative Grundeinkommen. Das Bundesverfassungsgericht wies in dieser Entscheidung explizit darauf hin, dass es kein Problem sei, dass sich „das Gericht offensichtlich an einem öffentlich verfügbaren Muster orientierte […], da die Vorlage zeigt, dass sich das Gericht eventuell andernorts formulierte Argumente jedenfalls zu eigen gemacht hat“ (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16 –, Rn. 112, juris).
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