NoPNR: Keine Massenüberwachung am Himmel
Wir gehen gegen die anlasslose Massenüberwachung von Fluggästen vor: Nach einem belgischen Vorabentscheidungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof haben wir zwei Klagen vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden gewonnen.
Fluglinien sind laut der europäischen PNR-Richtlinie dazu verpflichtet, Daten über in- und ausländische Passagiere internationaler Flüge an nationale Polizeibehörden weiterzuleiten. Dort werden sie zentral gespeichert, von Algorithmen gefiltert und können von zahlreichen Behörden angefordert werden. Das bedeutet die Massenüberwachung des internationalen Flugverkehrs.
Fluggastdaten, oder PNR für Passenger Name Records, sind Datensätze mit ca. 20 Datenkategorien wie Namen, Geburtsdatum, Angaben zu Begleitpersonen und Zahlungsinformationen. Für jede*n Passagier*in wird pro Flug ein Datensatz angelegt. In Zusammenspiel mit Informationen zum Flug ergibt sich ein detailliertes Bild der Reise sowie der reisenden Person. Die Vorratsspeicherung von Fluggastdaten wurde in der EU mit der Richtlinie 2016/681 (PNR-Richtlinie) eingeführt, die die Mitglieder bis Mai 2018 in nationales Recht umsetzen mussten.
In Deutschland werden die Fluggastdaten seitdem an das Bundeskriminalamt (BKA) weitergeleitet und dort mit Datenbanken z.B. zu gesuchten Personen abgeglichen. Das BKA darf außerdem „Muster“ auf die Datensätze anwenden, mit denen verdächtige Personen ermittelt werden sollen, gegen die bislang kein Verdacht vorliegt. Auch andere Polizeibehörden, Geheimdienste und Verfassungsschutz können auf die Fluggastdaten zugreifen, außerdem können sie mit EU-Ländern und sogar mit Drittstaaten ausgetauscht werden.
Potenziell diskriminierende Massenüberwachung
Diese Vorratsspeicherung von Fluggastdaten ist eine weitere Form anlassloser Massenüberwachung. So werden laut Bundesverwaltungsamt allein in Deutschland jährlich circa 170 Millionen Fluggäste erwartet. Die zur Profilbildung („Muster“) genutzten automatisierten Entscheidungssysteme sind intransparent und potenziell diskriminierend – nämlich dann, wenn vermeintlich „neutrale“ Anknüpfungspunkte dazu führen, dass Personen aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder anderer Merkmale als verdächtig eingestuft werden.
Außerdem ist nicht sicher, dass derartige Massenüberwachung überhaupt funktioniert. Es besteht die begründete Sorge, dass bei der Suche nach vermeintlichen künftigen Terrorist*innen Menschen massenhaft falsch verdächtigt werden. Ein EU-Mitgliedstaat etwa hält es bereits für verdächtig, wenn jemand mit zu wenig Gepäck eine lange Reise antritt.
Erfolgreiche Klagen vor den Verwaltungsgerichten
Die GFF hat mit ihren Kläger*innen zwei Wege zum EuGH eingeschlagen: Zum einen sind wir verwaltungsrechtlich gegen das Bundeskriminalamt vorgegangen und verlangten die Nichtverarbeitung und Löschung der Fluggastdaten.Daneben haben wir mit weiteren Kläger*innen auf zivilrechtlicher Ebene geklagt.
Auf verwaltungsrechtlichem Weg haben wir zusammen mit Emilio de Capitani (ehemaliger Beamter des EU-Parlaments) und Malte Spitz (Generalsekretär GFF) Klage erhoben.
Auf unsere Klagen hin hat das Amtsgericht Köln am 20. Januar 2020 dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vorgelegt, ob die PNR-Richtlinie die Grundrechte der Grundrechtecharta der Europäischen Union verletzt. Nach Aufforderung des Gerichts haben wir dem EuGH in einer Stellungnahme zu diesem Vorlageverfahren dargelegt, warum die Richtlinie aus unserer Sicht grundrechtswidrig ist.
Nach unseren Klagen legte im Mai 2020 auch das Verwaltungsgericht Wiesbaden zwei unserer Verfahren dem EuGH vor. Im Juni antwortet der EuGH jedoch auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Belgien und stärkte die Grundrechte. Auf diese wegweisende Entscheidung konnten wir uns schließlich vor dem Verwaltungsgericht Wiesbaden berufen und bekamen Recht: Das VG Wiesbaden gab unseren Klagen statt und bekräftigt damit EU-Recht. Die Bundesregierung legte in beiden Verfahren Berufung ein.
Nach EuGH-Urteil: BKA hat Überwachung erheblich reduziert
Das Berufungsverfahren im Fall von Emilio de Capitani wurde mittlerweile für erledigt erklärt, da das BKA die Anforderungen des EuGH-Urteils umgesetzt hat: Die Fluggastdatenverarbeitung für die große Mehrheit der bislang erfassten EU-Flüge wurde zum 14. Februar 2023 deaktiviert. Grund ist, dass nach einer ersten Gefährdungsbeurteilung die Anforderungen der EuGH-Rechtsprechung nicht erfüllt sind. Zudem hat das BKA in Folge des EuGH-Urteils weitere Anpassungen vorgenommen. Bei der individuellen Überprüfung von Treffern wird nun sichergestellt, dass zumindest ein mittelbarer objektiver Zusammenhang mit dem Flugverkehr besteht. Nach einer Massenlöschung von Fluggastdatensätzen im Januar 2023 werden künftig Fluggastdaten automatisiert nach Ablauf der vom EuGH formulierten zulässigen Speicherdauer gelöscht. Zudem entscheidet künftig das AG Wiesbaden im Rahmen einer gerichtlichen Vorabkontrolle über Anfragen zur retrograden Recherche.
Zivilrechtliche Klagen abgewiesen
Auf zivilrechtlichem Weg haben wir mehrere Kläger*innen unterstützt, die sich gegen die Übermittlung ihrer Daten durch die Fluglinien an das BKA gewehrt haben. Einige von ihnen üben Berufe aus, die ein besonderes Maß an Vertraulichkeit erfordern. So klagten mit uns unter anderem die Journalistin und Aktivistin Kübra Gümüşay, die Rechtsanwältin Franziska Nedelmann und der Datenschutzaktivist Alexander Sander. Unsere zivilrechtlichen Klagen wurden abgewiesen: Nach Ansicht des Amtsgerichts Köln dürfen Fluggesellschaften davon ausgehen, dass mit den übermittelten Daten einwandfrei umgegangen werde.
Fluggastdatenspeicherung verstößt gegen EU-Recht
Die Fluggastdatenspeicherung verletzt nach Auffassung der GFF unter anderem das in der Charta der Grundrechte der EU garantierte Recht auf Privat- und Familienleben (Art. 7) und das Recht auf den Schutz persönlicher Daten (Art. 8).
Bereits im Juli 2017 befand der Europäische Gerichtshof in einem Gutachten eine ähnliche Form der Fluggastdatenspeicherung, wie sie in einem Abkommen der EU mit Kanada vorgesehen war, für grundrechtswidrig. Nun hat nach dem Vorabentscheidungsersuchen aus Belgien erneut Grundrechte aus der europäischen Grundrechte-Charta gestärkt.
Die Vertretung vor Gericht hat der Rechtsanwalt Prof. Dr. Remo Klinger übernommen. Zwischenzeitlich wurden unsere Verfahren vor dem EuGH für erledigt erklärt, weil der EuGH über ein früher vorgelegtes und eine weiterreichende Regelung aus Belgien betreffendes Vorabentscheidungsersuchen entschied.
Wir danken dem Digital Freedom Fund für die Förderung dieses Projekts.