Hauptverfahren gegen FragDenStaat-Chefredakteur Arne Semsrott eröffnet: Landgericht Berlin lässt Anklage wegen Berichterstattung über Gerichtsverfahren auf Grundlage von verfassungswidriger Strafnorm zu
Berlin, 10. April 2024 – Das Landgericht Berlin I hat die Anklage gegen Arne Semsrott, Chefredakteur von FragDenStaat, wegen der verbotenen Mitteilung über Gerichtsverhandlungen zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet und die mündliche Verhandlung für Herbst angesetzt. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und Strafverteidiger Lukas Theune unterstützen den Journalisten und FragDenStaat im Strafverfahren.
Semsrott hatte im August über die Ermittlungsmaßnahmen gegen die Letzte Generation berichtet. Im Zuge dessen hatte er mehrere relevante Gerichtsentscheidungen veröffentlicht und bewusst Strafanzeigen riskiert. Die Staatsanwaltschaft Berlin erhob daraufhin Anklage gegen ihn, wegen der besonderen Bedeutung des Falls sogar zum Landgericht. Kernpunkt der Verteidigung ist, dass die einschlägige Strafnorm (§ 353d Nr. 3 StGB) verfassungswidrig ist und die Pressefreiheit unzulässig einschränkt. Sie stellt ohne Ausnahme jede Veröffentlichung des Wortlauts von Dokumenten eines laufenden Strafverfahrens vor der mündlichen Verhandlung unter Strafe. Die GFF und Rechtsanwalt Theune hatten daher eine Vorlage der Strafnorm zum Bundesverfassungsgericht beantragt, die das Landgericht jedoch ablehnte.
„Das Landgericht hat die Chance verpasst, die Vereinbarkeit der Strafnorm mit der Pressefreiheit direkt vom Bundesverfassungsgericht überprüfen zu lassen“, kritisiert Benjamin Lück, Jurist und Verfahrenskoordinator bei der GFF. „Nun gehen wir den Weg durch die Instanzen. Es ist nicht mit der Pressefreiheit vereinbar, dass ausnahmslos jedes Wortlaut-Zitat aus einem Gerichtsbeschluss vor Abschluss des Verfahrens unter Strafe steht.“
Semsrott hatte die Artikel am 22. August 2023 auf der Rechercheplattform FragDenStaat veröffentlicht und sich dabei vertieft mit den Argumenten des anordnenden Gerichts auseinandergesetzt. Dafür stellte er insgesamt drei der Beschlüsse aus den breit diskutierten Strafverfahren im Wortlaut zur Verfügung. Andere Medien sahen davon ab, die Beschlüsse zu veröffentlichen. Zum Teil wiesen sie dabei ausdrücklich auf das Verbot hin.
„Ich habe über ein Strafverfahren berichtet und komme dafür jetzt vor Gericht – das zeigt, wie dringend diese Strafnorm reformiert werden muss“, sagt der Angeklagte Arne Semsrott. „In laufenden Strafverfahren von öffentlichem Interesse wie zur Letzten Generation sind gerade die Formulierungen des Münchner Gerichts aufschlussreich: Sie zeigen, welche Schwerpunkte die Richter*innen bei der Strafverfolgung setzen und ob Grundrechte berücksichtigt wurden.“
Die Frage, inwieweit an den Beschlüssen von Gerichten ein öffentliches Interesse besteht, fällt in den Kernbereich journalistischer Arbeit. Die notwendige Abwägung wird an dieser Stelle durch das ausnahmslose strafbewehrte Veröffentlichungsverbot komplett verhindert. Sowohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) als auch zuletzt der Bundesgerichtshof (BGH) betonen, dass eine Abwägung mit der Pressefreiheit stets erforderlich sei und die Strafbarkeit kein Automatismus sein dürfe. Der BGH zog sogar die Verfassungsmäßigkeit der Norm konkret in Zweifel. Das Landgericht Berlin I hält die Norm dagegen auch unter Berücksichtigung der EGMR-Rechtsprechung für vereinbar mit der Pressefreiheit.
Weitere Informationen zum Strafverfahren gegen Arne Semsrott und die Unterstützung durch die GFF finden Sie hier:
https://freiheitsrechte.org/themen/demokratie/strafnorm_353d_pressefreiheit
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