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Kein Big Brother an der Uni: Thüringer Oberlandesgericht lehnt biometrische Überwachung bei Online-Prüfungen ab

Berlin/Jena, 18. November 2025. Das Thüringer Oberlandesgericht entschied gestern auf eine Klage der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF), einer Studierenden der Universität Erfurt und des „freien zusammenschlusses von student*innenschaften“ (fzs) hin: Die Videoüberwachung von Studierenden bei Online-Prüfungen ist rechtswidrig, wenn dabei biometrische Daten verarbeitet werden – etwa zur Gesichtserkennung. Ein solches Vorgehen verstößt gegen die Datenschutz-Grundverordnung.

Das zeigt: Die Online-Prüfungspraxis vieler Universitäten während der Corona-Pandemie griff unzulässig tief in die Grundrechte Studierender ein – in das Recht auf Privatsphäre und das Recht, über die eigenen Daten zu bestimmen. Das Gericht hat klargestellt, dass biometrische Daten nur in Ausnahmefällen verarbeitet werden dürfen. Damit hat das Urteil auch Signalwirkung für andere Bereiche, etwa die Überwachung am Arbeitsplatz.

Während der Hochphase der Pandemie nutzten viele Hochschulen die Möglichkeit, Prüfungen online ablegen zu lassen. Um Betrugsversuche zu erkennen, setzten sie dabei teilweise auf das sogenannte Proctoring: spezielle Software, die die Studierenden digital beaufsichtigt. Diese müssen dafür die Kamera ihres Laptops aktivieren. Die Software schneidet die Aufnahmen mit und wertet sie automatisiert aus.

„Big Brother hat keinen Lehrauftrag. Hochschulen sollten ihre Studierenden bei Prüfungen beaufsichtigen, nicht ausspionieren“, kommentiert GFF-Jurist David Werdermann.

Im gestern entschiedenen Fall nutzte die Universität Erfurt die Anwendung Wiseflow, die die Studierenden unter anderem mittels Gesichtserkennung überwacht. Damit wollte die Universität sicherstellen, dass stets die gleiche Person vor dem Monitor sitzt. Wiseflow verarbeitete somit sensible biometrische Daten und leitete sie darüber hinaus an den Dienstleister Amazon Web Services weiter. Diese problematische Praxis hat das Gericht für rechtswidrig erklärt und der Klägerin einen Schadensersatz zugesprochen.

Kommt Proctoring zum Einsatz, besteht zudem ein großes Risiko, dass die genutzten Softwares Studierende diskriminieren. Studien zeigen etwa, dass Gesichtserkennung bei Schwarzen Menschen oder People of Color nicht funktioniert bzw. höhere Fehlerquoten aufweist. Ein von der GFF in Auftrag gegebenes Gutachten kommt außerdem zu dem Ergebnis, dass Proctoring-Software auch die Privatsphäre und IT-Sicherheit Studierender beeinträchtigen kann: Denn um Online-Prüfungen ablegen zu können, sind sie gezwungen, Anwendungen zu installieren, deren Funktionsumfang von Polizei und Geheimdiensten genutzter Spyware ähnelt.

„Die Software hat damals starke Ängste in mir ausgelöst. Ich wusste nicht, wie sie funktioniert und was mit meinen Daten passiert. Aber ich hatte keine andere Wahl, weil ich mit meinem Studium vorankommen wollte“, erklärt Klägerin Jennifer Kretzschmar. „Ich bin froh, dass das Gericht jetzt festgestellt hat, dass die Überwachung rechtswidrig war. Hoffentlich achtet die Universität die Grundrechte der Studierenden bei Prüfungen künftig.“

Jennifer Kretzschmar hatte gemeinsam mit GFF und fzs im Oktober 2022 vor dem Landgericht Erfurt gegen die Proctoring-Praxis der Universität Erfurt geklagt. Nachdem das Landgericht die Klage im November 2024 abgewiesen hatte, weil der Klägerin kein Schaden entstanden sei, ging sie vor dem Thüringer Oberlandesgericht in Berufung. Vertreten wurde sie von den Rechtsanwält*innen Elisabeth Niekrenz, Tilman Herbrich und Christian Däuble der Kanzlei Spirit Legal.

Weitere Informationen zum Verfahren finden Sie hier:
https://freiheitsrechte.org/themen/freiheit-im-digitalen/proctoring

Bei Rückfragen wenden Sie sich an:
Dr. Maria Scharlau, presse@freiheitsrechte.org
Tel. 030/549 08 10 55

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