Aufnahmeprogramm Afghanistan: Deutschland muss Schutzzusage einhalten
Die Bundesregierung muss Wort halten und Afghan*innen mit Aufnahmezusage vor der Abschiebung in die Lebensgefahr schützen. Wir sind mit Betroffenen vor das Bundesverfassungsgericht gezogen. Mit einer Familie beantragen wir einstweiligen Rechtsschutz beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Die Familien warten seit Jahren darauf, dass sie aus Pakistan nach Deutschland einreisen können. Die Zeit drängt, denn die pakistanische Regierung hat bereits angekündigt, die Betroffenen ab Januar 2026 nach Afghanistan abzuschieben, wo vielen von ihnen Folter und Tod drohen.
Zuletzt hat das Bundesverfassungsgericht in einem Eilbeschluss am 4. Dezember 2025 die Bundesregierung dazu aufgefordert, zügig über die Visumsanträge einer der betroffenen Familien zu entscheiden. Dieser Aufforderung ist die Bundesregierung nachgekommen. Sie hat die Aufnahmezusage aufgehoben und die Anträge abgelehnt – ohne jede grundrechtliche Prüfung mit Blick auf die Lebensgefahr für die Betroffenen. Dagegen haben wir vor dem Verwaltungsgericht Berlin am 11. Dezember 2025 Eilantrag eingereicht. Um die Abschiebung in die Lebensgefahr zu verhindern, beantragen wir mit der Familie am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einstweiligen Rechtsschutz.
Schutzverpflichtung durch Aufnahmezusage
Die Bundesregierung hat gefährdeten Afghan*innen die Aufnahme zugesagt und sie zur Durchführung des Visumsverfahren in Pakistan untergebracht. Daraus ist eine grundrechtliche Verpflichtung erwachsen, diese Menschen zu schützen. Sie kann sich nicht nach zweieinhalb Jahren ohne sachlichen Grund davon lösen und die Menschen sehenden Auges an die Taliban ausliefern lassen, wo ihnen Folter und Tod drohen.
Der Beschwerdeführer der bereits entschiedenen Verfassungsbeschwerde war bis zur Machtergreifung der Taliban hochrangiger Richter in Afghanistan. Er verurteilte in dieser Funktion eine Vielzahl von Taliban-Mitgliedern. Darunter sind Taliban, die heute hochrangige Positionen innerhalb der politischen und militärischen Strukturen bekleiden. Nach deren Machtübernahme erhielt er Morddrohungen und musste untertauchen. Einer der ehemals Verurteilten entführte und tötete den Vater des Beschwerdeführers. Seitdem lebt die Familie in ständiger Angst und Bedrohung. Ende 2022 teilte die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) dem Beschwerdeführer mit, dass das Bundesinnenministerium für ihn und seine Familie eine Aufnahmeerklärung nach § 22 Satz 2 Aufenthaltsgesetz abgegeben hat.
Die Familie richtete daraufhin in Erwartung der Einreise nach Deutschland ihr ganzes Leben und ihre Lebensperspektive auch für ihre Kinder auf die Durchführung des Visumsverfahrens aus. Sie beantragten entsprechend den Hinweisen in der Aufnahmeerklärung ein pakistanisches Visum. Um die Ausreise nach Pakistan zu finanzieren, verkauften sie ihr Haus und alle übrigen Vermögensgegenstände in Afghanistan. In Islamabad begab sich die Familie in die Obhut der GIZ in einem Gästehaus und lebt dort seither unter widrigen Umständen. Seit Auslaufen ihres Visums im April 2023 und der drohenden Abschiebung – also seit mehr als zweieinhalb Jahren – verließen sie die Unterkunft aus Angst vor einer Abschiebung und auf Geheiß der GIZ überhaupt nicht. Trotz positiver Sicherheitsprüfung und Einreichung aller Unterlagen wurden ihre Visa nicht erteilt. Im Mai 2025 erklärte die Bundesregierung den Stopp sämtlicher Aufnahmeprogramme und suspendierte die Aufnahmeerklärung. Am 8. Dezember hob die Bundesregierung sämtliche Aufnahmeerklärungen nach § 22 Satz 2 AufenthG auf. Das betrifft etwa 640 in GIZ-Unterkünften untergebrachte Afghan*innen in Pakistan, die Mehrzahl davon Frauen und Kinder.
Der Familie und den weiteren Betroffenen droht nun unmittelbar, nach Afghanistan abgeschoben zu werden und in die Hände der Taliban zu fallen. Die pakistanische Regierung hat bereits angekündigt, Anfang Januar alle Schutzsuchenden aus den deutschen Aufnahmeprogrammen abzuschieben.
Eilantrag und Verfassungsbeschwerde: Karlsruhe ermahnt Bundesregierung zur Entscheidung
Im Juni 2025 erhob die Familie in Deutschland Klage und Eilantrag auf Erteilung eines Visums und bekam vor dem Verwaltungsgericht Berlin recht: Aus der Aufnahmeerklärung folge ein Anspruch auf Erteilung eines Visums. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hob den Beschluss im August wieder auf. Die Aufnahmeerklärung sei eine unverbindliche politische Entscheidung, von der sich die Bundesregierung jederzeit und ohne Gründe lösen könne. Wir haben gegen diesen Beschluss beim Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag und eine Verfassungsbeschwerde eingereicht.
Wir argumentierten, dass die Aufnahmeerklärung die Bundesregierung bindet und stützen uns auf den grundrechtlich verankerten Vertrauensschutz und die staatliche Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit.
Die Bundesrepublik Deutschland hat gegenüber den Beschwerdeführenden schriftlich die Aufnahme erklärt, sie zur Ausreise nach Pakistan und zum Betreiben des Visumsverfahrens angeleitet und sie seit fast drei Jahren in einer Unterkunft der GIZ untergebracht. Im Vertrauen auf die Zusage hat die Familie ihr Haus und sämtliches Vermögen verkauft, um die Ausreise und das Visumsverfahren zu finanzieren und sich aus der Deckung ihres Verstecks in Afghanistan begeben. Es gab für die Familie keinerlei Anhaltspunkte, dass eine Einreise trotz der Aufnahmezusage – vorbehaltlich einer erfolgreichen Sicherheitsprüfung – nicht möglich sein würde.
Das Bundesverfassungsgericht sah die Verfassungsbeschwerde als teilweise begründet an: Es sah in der unterbliebenen Entscheidung der Visa-Anträge eine Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz. Die Richter*innen forderten die Bundesregierung auf, zeitnah über die Visumsanträge zu entscheiden.
Am 10. Dezember 2025, dem Tag der Menschenrechte, erhielt die Familie ihren ablehnenden Visumsbescheid. Dagegen hat die Familie mit Unterstützung der GFF erneut Klage und Eilantrag beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht.
Parallel hat die GFF mit der Familie am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine einstweilige Anordnung beantragt. Art. 2 und 3 EMRK schützen davor, in ein Land abgeschoben zu werden, in dem Folter und Lebensgefahr drohen. Die Abschiebung selbst erfolgt zwar durch Pakistan. Deutschland setzt sie jedoch sehenden Auges in Gang, indem es seine Aufnahmezusage zurücknimmt und der Familie den über drei Jahre aufrechterhaltenen Schutz entzieht.
Zweite Verfassungsbeschwerde abgelehnt
Das Bundesverfassungsgericht lehnte die Verfassungsbeschwerde eines weiteren ehemaligen afghanischen Richters und seiner Familie am 16. Dezember ab. Das Gericht verweist darauf, dass die Familie nach der inzwischen erfolgten Ablehnung ihrer Visumsanträge Rechtsschutz vor den Verwaltungsgerichten suchen kann. Wir haben noch am 16. Dezember Eilantrag beim Verwaltungsgericht Berlin eingereicht. Gleichzeitig hält sie den Weg über die Verwaltungsgerichte für aussichtslos und den Verweis auf diesen Rechtsweg für zynisch: Die eindeutige Rechtsprechung des OVG Berlin steht einem erfolgreichen Eilantrag entgegen und der Rechtsschutz käme überdies angesichts der unmittelbaren Lebensgefahr zu spät. Daher planen wir noch diese Woche eine Beschwerde vor dem Menschenrechtsausschuss der Vereinten Nationen. Der Ausschuss, der die Einhaltung des UN-Zivilpakts überwacht, soll Deutschland anweisen, seine Aufnahmezusage einzuhalten die Familie vor der Abschiebung nach Afghanistan zu schützen.
Bei den Beschwerdeführenden handelt es sich ebenfalls um einen ehemaligen afghanischen Richter, seine Ehefrau und Kinder. Der Richter war Vorsitzender einer Kammer für Sicherheitsdelikte und verurteilte in dieser Funktion eine Vielzahl von Taliban-Mitgliedern, die nach dem Sturz der Islamischen Republik in Afghanistan heute hochrangige und wichtige Positionen innerhalb der politischen und militärischen Strukturen der Taliban bekleiden. Bereits zum Zeitpunkt ihrer Verurteilungen haben zahlreiche dieser Personen für den Fall ihrer Entlassung mit Gewalt gegen den Richter und seine Familie gedroht. Nach der Machtergreifung versteckte er sich, als sein Haus durchsucht wurde, flohen er und seine Familie zunächst in den Iran und nach Erhalt der Aufnahmezusage der Bundesregierung nach Pakistan.
Grundrechtliche Schutzpflicht der Bundesregierung
Die Bundesrepublik Deutschland hat durch die Aufnahmeerklärung und die Inobhutnahme in Pakistan für den Schutz und das Wohlergehen beider betroffenen Familien in einem solchen Maße Verantwortung übernommen, dass daraus im konkreten Fall eine grundrechtliche Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG erwächst. Das gilt umso mehr, weil den Familien durch die Auslieferung von Pakistan an die Taliban nun eine noch schwerwiegendere Gefahrensituation als vor ihrer Ausreise droht.
Die Aussetzung der Aufnahmeprogramme betrifft nicht nur diese Familien: Rund 1.900 Afghan*innen mit Aufnahmezusage warten derzeit in Pakistan unter prekären Bedingungen.
Der Rechtsanwalt Julius Becker und Rechtsanwalt Farhad Bahlol vertreten die Familien jeweils vor Gericht.
Die Arbeit an diesem Projekt wird durch die Stiftung Mercator gefördert.