
Ohne Angst zum Arzt
Mit einem seit 30 Jahren in Deutschland lebenden Kosovaren klagen wir auf das Recht auf Gesundheitsversorgung – es muss für ihn möglich sein, seine Herzkrankheit behandeln zu lassen, ohne deswegen abgeschoben zu werden.
Die Verwaltungsgerichte haben die Eilanträge abgelehnt. Unsere Beschwerde zum Bundesverfassungsgericht wurde nicht zur Entscheidung angenommen – ohne Begründung. Das Verfahren in der Hauptsache ist noch am Verwaltungsgericht Frankfurt anhängig.
In Deutschland leben hunderttausende Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus. Sie gehen zur Arbeit, schicken ihre Kinder zur Schule – und haben keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung. Der Grund liegt in § 87 Aufenthaltsgesetz: Staatliche Stellen müssen Menschen ohne Papiere umgehend an die Ausländerbehörde melden, wenn sie mit ihnen in Kontakt kommen. Die Ausländerbehörde leitet dann die Abschiebung in die Wege. Unsere Studie “Ohne Angst zum Arzt” und unser laufendes Klageverfahren zeigen: Die Meldepflicht führt dazu, dass lebensbedrohliche Erkrankungen unbehandelt bleiben. So auch bei unserem herzkranken Kläger aus dem Kosovo:
"Ich lebe und arbeite seit dreißig Jahren in Deutschland und bin schwer herzkrank. Ich möchte ohne Angst vor Abschiebung einen Behandlungsschein beim Sozialamt beantragen – damit ich zum Kardiologen oder ins Krankenhaus gehen kann. Dafür gehe ich vor Gericht“
Mit einem Eilantrag wollten wir kurzfristig erreichen, dass das Verwaltungsgericht der Sozialbehörde untersagt, die Daten des Klägers an die Ausländerbehörde zu übermitteln., sodass der Kläger zeitnah medizinisch versorgt werden kann. Um zu verhindern, dass die Klage selbst dazu führt, dass seine daten an die Ausländerbehörde übermittelt werden, hat der Kläger unter Pseudonym und ohne Angabe seiner Wohnadresse geklagt. Denn auch Gerichte unterliegen der angegriffenen Übermittlungspflicht und sind damit verpflichtet, die Daten des Klägers an die Ausländerbehörde weitergeben.
Durch Verwendung des Aktenzeichens der Clearingstelle Frankfurt, die im Gesundheitsamt Frankfurt angesiedelt ist und den Kläger in der humanitären Sprechstunde berät, ist jedoch eine eindeutige Identifizierbarkeit sichergestellt. Das Gericht kann sich dort die Identität bestätigen lassen, darf diese Daten aber nicht weiterleiten, weil sie der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen.
Die hessischen Verwaltungsgerichte haben den Eilantrag des Klägers dennoch als unzulässig zurückgewiesen. Die Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse im Eilverfahren hat das Bundesverfassungsgericht nicht zur Entscheidung angenommen – ohne Begründung. Das gescheiterte Eilverfahren zeigt: Menschen ohne Aufenthaltstitel wird nicht nur das Recht auf Gesundheit verwehrt, sondern auch der Zugang zu effektivem Rechtsschutz.
Die Klage in der Hauptsache ist noch am Verwaltungsgericht Frankfurt anhängig. Zudem prüfen wir die Möglichkeit einer Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Die Meldepflicht ist verfassungswidrig
Die Meldepflicht verletzt das Grundrecht auf ein gesundheitliches Existenzminimum, weil sie Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus faktisch von der Gesundheitsversorgung ausschließt. Der Staat muss sicherstellen, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung auch in der Praxis funktioniert.
Der Gesetzgeber muss existenzsichernde Leistungen so ausgestalten, dass die Betroffenen sie auch annehmen können. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gilt bedingungslos und darf nicht aus migrationspolitischen Zielen relativiert werden. Die Beschränkung des Zugangs zur Gesundheitsversorgung durch § 87 Aufenthaltsgesetz lässt sich daher nicht damit rechtfertigen, dass der Gesetzgeber die Ausreisepflicht durchsetzen möchte.
Die Weitergabe der persönlichen Daten erkrankter Menschen verstößt zudem gegen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die Datenübermittlung an die Ausländerbehörde ist ein besonders schwerer Eingriff in dieses Recht, weil sie gravierende Folgen für die Betroffenen hat. Dieser Eingriff ist unverhältnismäßig, denn er verfehlt seinen Zweck. Anstatt irreguläre Aufenthalte aufzudecken, hält die Übermittlungspflicht Menschen davon ab, sich gesundheitlich versorgen zu lassen. Damit macht die Meldepflicht es der Sozialbehörde unmöglich, ihre Aufgabe zu erfüllen und die verfassungsrechtlich gebotene soziale Mindestversorgung zu gewährleisten.

Fehlende Gesundheitsversorgung für Menschen ohne Papiere verletzt EU-Recht
In einer förmlichen Beschwerde an die Europäische Kommission rügt die GFF die Pflicht zur Datenweitergabe an die Ausländerbehörde in § 87 Aufenthaltsgesetz. Die Übermittlungspflicht verletzt das europäische Datenschutzrecht. Eine Zweckentfremdung von Daten erlaubt die Datenschutzgrundverordnung nur in Ausnahmefällen, insbesondere muss die zweckändernde Datenweitergabe notwendig und verhältnismäßig sein. Das ist hier nicht der Fall, denn aufgrund ihres abschreckenden Effekts ist die Übermittlungspflicht schon nicht geeignet, irreguläre Aufenthalte aufzudecken. Gleichzeitig verletzt der faktische Ausschluss von der Gesundheitsversorgung das in Art. 35 EU-Grundrechtecharta garantiertes Recht auf eine ärztliche Versorgung. Die Beschwerde wird von 36 Organisationen unterstützt.
Mit Schreiben vom 12. Dezember teilte die Kommission mit, dass sie anlässlich der Beschwerde mit der Bundesregierung zu diesem Thema im Austausch war. Diese habe versichert, dass die Ankündigung aus dem Koalitionsvertrag nun rasch umgesetzt werde und ein Gesetzesentwurf erarbeitet werde, damit kranke Menschen künftig nicht mehr davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen.

Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht
Die Meldepflicht ist nicht nur verfassungs- und europarechtswidrig, sondern verletzt auch internationale Menschenrechtspflichten. Die Bundesregierung ist verpflichtet, allen Menschen in Deutschland Zugang zu einer angemessenen Gesundheitsversorgung zu gewährleisten – unabhängig von Einkommen, Herkunft und Aufenthaltsstatus. Das Menschenrecht auf einen diskriminierungsfreien Zugang zu Gesundheitsversorgung hat Deutschland u.a. mit Unterzeichnung des Internationalen Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte anerkannt.
Sowohl der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als auch der UN-Sozialausschuss sehen in der aufenthaltsrechtlichen Meldepflicht eine Verletzung des Rechts auf Gesundheit und empfehlen dringend eine Reform.

Das Kampagnenbündnis GleichBehandeln
Aus Angst davor, ihre gesamte Existenz zu verlieren, gehen hunderttausende Menschen nicht zu Ärzt*innen – Menschen, die sich mit Covid-19 infiziert haben, chronisch Kranke, die dringend Medikamente bräuchten, Kinder oder Schwangere, die Vorsorgeuntersuchungen und medizinische Versorgung brauchen. Deshalb setzten wir uns schon im Vorfeld der Klage gemeinsam mit Ärzte der Welt und über 80 weiteren zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Kampagne GleichBeHandeln dafür ein, dass alle Menschen in Deutschland medizinisch versorgt werden und fordern, dass der Gesundheitsbereich von der Meldepflicht ausgenommen wird.
„Regelmäßig kommen Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus in unsere Behandlungs- und Beratungsstellen, weil sie keinen Zugang zur regulären Gesundheitsversorgung haben. Die Meldepflicht im Gesundheitswesen ist unmenschlich und gehört dringend abgeschafft. Dafür setzen wir uns im Kampagnenbündnis GleichBeHandeln gemeinsam mit über 80 weiteren Organisationen ein“
Einen ersten großen Erfolg hat die Kampagne bereits erzielt. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, dass die Meldepflichten von Menschen ohne Papiere überarbeitet werden sollen, damit "Kranke nicht davon abgehalten werden, sich behandeln zu lassen“ (SPD/Grüne/FDP 2021: 139).

