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Überwachung Polizei
Überwachung von MichaelGaida, lizensiert unter Pixabay License
Freiheit im digitalen Zeitalter
Art. 1, 2, 10, 13

Polizeigesetz und Verfassungs­schutzgesetz Hessen

Die Novelle des Hessischen Polizeigesetzes und Verfassungsschutzgesetzes verletzt Grundrechte aller Bürger*innen. Wir haben dagegen Verfassungsbeschwerde erhoben. Mit Erfolg: Im Februar 2023 erklärte das Bundesverfassungsgericht die hessische Befugnis zur automatisierten Datenauswertung für verfassungswidrig.

Die GFF hat gemeinsam mit der Humanistischen Union, den Datenschützern Rhein Main und dem Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung eine Verfassungsbeschwerde gegen das Hessische Polizeigesetz und Verfassungsschutzgesetz eingelegt. Die Beschwerde richtet sich gegen eine Gesetzesnovelle, welche die Überwachungsbefugnisse von Polizei und Verfassungsschutz massiv ausweitet. In Hessen dürfen die Behörden nun sogenannte Staatstrojaner einsetzen. Mit der Software Hessendata werden personenbezogene Daten zentral und automatisiert ausgewertet. Diese automatisierte Datenauswertung war im Dezember 2022 Gegenstand einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht. Im Februar 2023 gab das Bundesverfassungsgericht unserer Beschwerde in weiten Teilen statt und erklärte die Befugnis zur automatisierten Datenauswertung für verfassungswidrig.

Sarah Lincoln

Juristin und Verfahrenskoordinatorin

"Mit dem Hessentrojaner und der Big-Data-Analysesoftware Hessendata liegt Hessen beim Angriff auf die Freiheitsrechte im Ländervergleich weit vorne."

Hessen folgte 2018 der bundesweiten Entwicklung hin zu schärferen und oft grundrechtswidrigen Polizeigesetzen. Die Gesetzesnovelle vom 4. Juli 2018 gibt der Polizei teils erweiterte, teils neue Möglichkeiten zur Überwachung informationstechnischer Systeme. So wurde die im Hessischen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (HSOG) enthaltene Rechtsgrundlage für die Überwachung laufender Kommunikation (Quellen-TKÜ) erweitert sowie Rechtsgrundlagen für Online-Durchsuchungen und die Nutzung einer Big-Data-Analysesoftware geschaffen.

Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht: Gläserner Mensch durch Analysesoftware Hessendata

Im Fokus der mündlichen Verhandlung am Bundesverfassungsgericht im Dezember 2022 stand die automatisierte Datenanalyse mit Hilfe der Analysesoftware Hessendata der US-Firma Palantir. In die Datenanalyse fließen große Mengen personenbezogener Daten ein: Aus Polizeidatenbanken, aus der Telefonüberwachung, ausgelesene Handydaten aber auch externe Daten, beispielsweise aus den sozialen Medien oder von anderen Behörden angefragte Daten.

Mit der komplexen Datenanalyse will die Polizei Netzwerke und Strukturen durchleuchten, um künftige Straftaten zu verhindern. Wer in den Fokus einer Datenanalyse gerät, wird schnell zum gläsernen Menschen. Von der Analyse als "Beifang" mitbetroffen sind zudem zahlreiche weitere Personen: Die gleiche Adresse oder der gleiche Fußballverein können schon ausreichen, damit die Software Verbindungslinien zieht.

Richter*innen fragten kritisch nach

Die Rechtsgrundlage für den Einsatz der Software ist extrem vage und lässt viele Fragen offen - das wurde auch in der Verhandlung deutlich, in der sowohl das Hamburgische als auch das Hessische Gesetz verhandelt wurden: Ist - wie nach Ansicht der jeweiligen Regierungsvertreter - die Automatisierte Datenauswertung nur die Fortsetzung klassischer Polizeiarbeit mit „mehr Power“? Oder begründet die Möglichkeit, riesige Datenpoole zusammenzuziehen, Verbindungen und Muster zu generieren eine ganz neue Eingriffsqualität, die auch entsprechend strenge Grenzen braucht? Die Hessischen Innenbehörden wurden nicht müde zu beteuern, dass keinerlei künstliche Intelligenz im Einsatz sei. Gegenstand des Verfahrens waren aber ja die Regelungen und die sind - wie heute immer wieder formuliert wurde - „technik-offen“. Was noch nicht ist, kann also - nach Gesetzeslage - jederzeit noch werden.

Die vielen detaillierten Nachfragen des Gerichts zeigten, dass die Richterinnen und Richter die vagen Normen zur Automatisierten Datenauswertung ebenfalls kritisch sehen. Insbesondere stand an vielen Stellen die Frage im Raum, ob die Einhaltung der rechtlichen Grenzen überhaupt technisch umsetzbar ist. So bohrte das Gericht z.B. beim Stichwort „Zweckbindung“ nach: Einmal erhobene Daten dürfen nicht ohne weiteres für einen anderen Zweck weiterverwendet werden. Derzeit wird die Herkunft der Daten aber gar nicht gekennzeichnet – wie soll dann bei ihrer Weiterverarbeitung die Einhaltung der Zweckbindung funktionieren?

Ausgiebig beschäftigten sich die Richterinnen und Richter auch mit der Formulierung im Hessischen Gesetz, wonach die Automatisierte Datenauswertung nur in „begründeten Einzelfällen“ zulässig ist. Sie fragten genau nach, wie die Einhaltung kontrolliert wird und machten deutlich, dass sie im Gesetz zu wenige Anhaltspunkte dafür sehen, welche eingrenzenden Kriterien hier herangezogen werden sollen.

Die Schwere des Grundrechtseingriffs erfordert eine konkrete Gefahr. Hessendata darf jedoch bereits im Vorfeld einer konkreten Gefahr zur vorbeugenden Straftatenverhütung eingesetzt werden. Mit unserer Verfassungsbeschwerde wollen wir dieser Praxis einer rechtsstaatlichen Kontrolle unterwerfen.

Hessentrojaner eingeführt

Diese Änderungen gefährden die IT-Sicherheit aller Bürger*innen. Denn Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchungen erfordern das Aufspielen staatlicher Spähsoftware auf ein Gerät. Dafür werden IT-Sicherheitslücken ausgenutzt. Dies setzt falsche Anreize bei der Polizei: statt Sicherheitslücken den Herstellern zu melden, kann die Polizei diese geheim halten und für Überwachungsmaßnahmen ausnutzen. Dieselben Sicherheitslücken können dann aber auch Cyberkriminelle und ausländische Geheimdienste für Cyberangriffe nutzen. Der sogenannte Hessentrojaner verletzt somit das Grundrecht aller Bürger*innen auf die Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, kurz IT-Grundrecht.

Bundesverfassungsgericht weist automatisierte Datenauswertung in die Schranken

Im Februar 2023 machten die Karlsruher Richter*innen in einem Grundsatzurteil deutlich: Die Polizei darf zwar grundsätzlich mithilfe einer Software auf Knopfdruck Informationen und Querverbindungen zu Personen herstellen, um Straftaten vorzubeugen (Data Mining). Dann muss das Gesetz aber klare Vorgaben dazu machen, unter welchen Bedingungen dies zulässig ist. Sonst verstoßen die Regelungen gegen das Recht über die eigenen Daten zu bestimmen. Wir hatten unter anderem angegriffen, dass die Rechtsgrundlage in Hessen völlig unklar lässt, aus welchen Quellen, mit welcher Datenmenge und zu welchem Zweck die Polizei die Befugnis zum Data Mining nutzen darf. Unsere Verfassungsbeschwerde hat das Risiko deutlich reduziert, dass unbescholtene Bürger*innen in das Visier der Polizei geraten. Das Urteil entfaltet bundesweit Ausstrahlungswirkung: Viele andere Bundesländer und der Bund arbeiten darauf hin, vergleichbare technische Möglichkeiten einsetzen zu können – oder tun es sogar bereits, wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen.


"Als Journalist wie auch in meinem Ehrenamt in der Humanistischen Union bin ich auf vertrauliche Kontakte angewiesen. Wenn keiner abschätzen kann, was die Polizei alles weiß und womöglich durch Datenverknüpfung erfährt, dann trauen sich manche Menschen nicht mehr, mit mir zu sprechen.
Franz Josef Hanke, HU-Regionalvorsitzender und Beschwerdeführer

Neue Befugnisse für den Hessischen Verfassungsschutz

Mit der Novelle wurde das auch Hessische Verfassungsschutzgesetz (HSVG) umfassend überarbeitet. Die Voraussetzungen für die Überwachungsmaßnahmen sind viel zu niedrig: Der Verfassungsschutz kann beispielsweise verdeckte Ermittler und V-Leute einsetzen sowie Auskunftsersuche an Verkehrsunternehmen stellen, wenn dies zur Aufgabenerfüllung erforderlich ist und ohne, dass eine tatsächliche Gefahrenlage vorliegen muss. Einmal erhobene Daten kann der Verfassungsschutz nahezu voraussetzungslos an andere öffentliche Stellen und an ausländische Regierungen weiterleiten. Betroffene selbst haben nur sehr eingeschränkte Auskunftsrechte darüber, welche Daten über sie erhoben wurden.

Staatlicher Eingriff in Freiheitsrechte

Auch in Hessen geht die Ausdehnung von Polizei- und Verfassungsschutzbefugnissen mit gravierenden Eingriffen in die Freiheitsrechte einher. Für einen ungewissen Gewinn an Sicherheit nimmt die Landesregierung schwerwiegende Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht und eine massive Gefährdung von IT-Systemen weltweit in Kauf.

Die Verfassungsbeschwerde wurde von sieben Beschwerdeführer*innen vorgebracht. Darunter waren neben dem HU-Regionalvorsitzenden Franz Josef Hanke auch die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, Klaus Landefeld als Vorstandsmitglied des Verbands der Internetwirtschaft eco und DE-CIX Aufsichtsrat sowie Silvia Gingold, Lehrerin in Ruhestand und Tochter des jüdischen Widerstandskämpfers Peter Gingold, die aufgrund ihres antifaschistischen Engagements seit ihrer Jugend unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht.

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